Sie sind Filmlehrer – was ist das genau?
Ich darf mich - wie etwa dreihundert andere Kolleginnen und Kollegen aller Schularten - Filmlehrer nennen, weil ich vor genau zehn Jahren die Ausbildung zum Filmlehrer abgeschlossen habe. Das waren drei wunderbare mehrwöchige Workshops, in denen wir von echten Profis aus dem Bereich Drehbuch, Regie und Schnitt das Handwerkszeug des Filmemachens vermittelt bekamen. Dafür haben wir alle gerne einen Teil unserer Ferien geopfert. Es war eine echte Bereicherung, noch einmal so etwas wie ein Intensivstudium zu absolvieren und dabei über den schulischen Tellerrand hinaus zu schauen. Deshalb bin ich nun in gewisser Weise Experte in Sachen Film und versuche meine Expertise in Schulprojekte einzubringen.
Ich spreche übrigens sofort von einem „wir“, wenn ich an diese tolle Zeit denke, weil wir schnell zu einer Art „Filmlehrenden-Familie“ zusammengewachsen sind. Inzwischen sind wir ein sehr umtriebiges und lebendiges Netzwerk, das für viele Fortbildungen und Filmveranstaltungen an bayerischen Schulen verantwortlich ist.
Wie schaffen Sie das, Film und Unterricht zu verknüpfen?
Ich habe eigentlich immer schon versucht, Filmpraxis in den Unterricht zu integrieren, in dem Sinne, dass ich Schüler*innen ermöglichen wollte, ihre eigenen Filme zu machen. Ich halte nichts von Filmprojekten, in denen die Lehrenden den Ton angeben. Die Herausforderung war immer, genügend große Zeitfenster zu finden, in denen die zeitintensive Filmarbeit sich entfalten konnte. Das ging beispielswiese noch sehr gut im Leistungskurs Kunst des alten G9 unter dem Etikett „Videokunst“ oder im Rahmen der Facharbeit Kunst. Im G8 konnte das nur noch in stark begrenztem Rahmen in P- und W-Seminaren geleistet werden. So konnte ich immerhin noch einige Filmprojekte begleiten, die über mehrere Monate gehen. Ich wünsche mir sehr, dass das neue G9 hier wieder mehr Freiraum bietet.
Ein Quantensprung waren die neuen technischen Möglichkeiten durch die iPads, die ich seit etwa drei Jahren (abzgl. einem Jahr Distanzunterricht) auch in anderen Jahrgangsstufen einsetzen kann. Seitdem können auch im zweistündigen Unterricht Animationsfilme und Kurzfilm-Formate umgesetzt werden. Damit ist für mich die Filmpraxis zu einem festen Bestandteil des Regelunterrichts geworden.
Sie kennen den Jugendfilmwettbewerb von DOK.education / DOK.fest München. Wie haben Sie die Preisverleihung erlebt, bei der auch eine ihrer Schüler*innen gewonnen hat?
Meine Schülerin Melissa Kocak hat in ihrem Film „3004 KM“ die alljährliche Reise ihrer Familie zu ihrem Heimatdorf in der Türkei dokumentiert – nur mit ihrem iPhone. Dabei hat sie in türkischer Sprache mit deutschen Untertiteln die Frage ihrer Identität zwischen den Kulturen reflektiert und uns an ihrem Lebensgefühl dazu teilhaben lassen – in lockeren dokumentarischen Bildskizzen und mit mitreißender Musik.
Der Film entfaltete seine volle Wirkung erst auf der großen Projektionsleinwand der Filmhochschule bei der Preisverleihung vom DOK.fest München 2019 und wurde durch die Anwesenheit der Familie von Melissa auch vom Publikum intensiver wahrgenommen, als wenn man ihn im Klassenzimmer sieht. Der Preis vom BLLV war dann eine Anerkennung, die Melissa so als Schülerin noch nie erlebt hatte. Sie war zwar immer eine fantastische Zeichnerin und Einserschülerin im Fach Kunst, aber zu einem solchen Film brauchte es ja viel mehr: Neben dem handwerklichen Geschick war es die Leichtigkeit der Bilder und die Tiefe ihres Kommentartextes, die bestachen. Ihre Familie war unendlich stolz auf sie. Ich habe mich lange mit ihren Eltern unterhalten, für die der Preis auch eine Wahrnehmung ihrer Situation, dem Leben mit zwei Kulturen, bedeutete.
Bei der Erstellung eines Dokumentarfilms beschäftigen sich Schüler*innen mit Themen und mit ihrer Haltung dazu. Warum würden Sie dieses Genre empfehlen?
Um einen Dokumentarfilm zu schaffen, müssen junge Menschen erst einmal lernen, die Sehgewohnheiten aus bekannten Formaten wie TV-Dokumentationen und Reportagen zu überwinden. Dokumentarfilm erzählt subjektiver und hat künstlerische Elemente. Wenn sie dann ihr Thema haben, müssen sie erst einmal einen eigenen Standpunkt definieren. Das ist eine große Hürde und setzt gleichermaßen voraus, dass sie Dokumentarfilm als Ausdrucksmittel entdecken und dass es sich dabei um eine „Kunst der offenen Form“ handelt: Besser kluge Fragen zu stellen, als vorschnelle Antworten zu geben.
Dokumentarfilm ist dadurch sehr lohnend, weil er die Schüler*innen selbst in die Verantwortung nimmt und ihnen gleichzeitig viel Freiraum lässt. Das AnimaDoc-Genre ist da ein Beispiel: Was mache ich, wenn ich gar keine dokumentarischen Filmbilder habe? Dann werden sie eben selbst generiert durch Animation oder Erzählkommentar. Das ist kreativ und unfassbar authentisch, wie bei dem Film „DIE KLEINEN DINGE“ von Louisa von Schnurbein, Preisträgerin bei den Filmtagen Bayerischer Schulen 2021.
Wieviel Zeit und Hilfe muss man in so ein Projekt reingeben? Was machen die Schüler*innen alleine?
Die maximale Zeit für so ein W-Seminar-Dokumentarfilmprojekt ist etwa ein Jahr. In dieser Zeit bekommen die Schüler*innen zunächst theoretischen Input und machen ihre ersten Gehversuche. Je nach Reife der Idee wird dann sofort losgelegt. Ich gebe inhaltliche und technische Hilfen nur, wenn sie auch angefragt werden. Die Themen sowie die Umsetzung entscheiden die Schüler*innen autonom anhand der Möglichkeiten, die wir zusammen erarbeitet haben. Die Filme entstehen meist nach eingehender Recherche entweder kontinuierlich über mehrere Monate oder oft auch auf den letzten Drücker. Die Preisträgerin Louisa hat bis zur letzten Sekunde an ihrem Projekt gezweifelt, es aber dann eine Woche vor Abgabe einfach durchgezogen mit unfassbar hohem Einsatz. Danach wirkte sie fast erwachsen. Der Druck bestand schließlich für alle Schüler*innen darin, dass dieser Film nicht mehr und nicht weniger als die Zulassungsvoraussetzung zum Abitur bedeutete.
Nun gibt es viele Lehrkräfte, die sagen, sie kommen mit ihrem Stoff kaum durch, dann auch noch Filme machen... Warum sollte das eine Schule dennoch erwägen?
In meinen Augen geht das nur, wenn das Projekt selbst zum Stoff wird. Viele Fächer könnten hier andocken, in denen die filmische Visualisierung Sinn macht. Aber die augenblickliche Krise des Schulfilms besteht tatsächlich in der großen Überlastung aller Lehrer*innen in Folge der Pandemie und des Lehrkräftemangels. Filmarbeit verlangt viel Geduld und Hingabe, das sind teure Güter in einem Schulalltag, der durch Mängelverwaltung geprägt ist.
Übrigens ist gerade der Schulfilm ein Paradebeispiel für die gelungene Digitalisierung des Schulalltags auf inhaltlicher und nicht nur auf verwaltungstechnischer Ebene: Hier können die vielen neuen Endgeräte an den Schulen endlich kreativ und sinnvoll eingesetzt werden. Es wäre wünschenswert, wenn genauso viele Mittel in die Ausbildung von Lehrer*innen in puncto Medienbildung und Filmpraxis investiert würden: Vielleicht würde das den Beruf wieder attraktiver machen und mehr Lehramtsanwärter*innen auf den Plan bringen.
Sie organisieren auch die Junior-Assistenz-Film Ausbildung für Schüler*innen. Wer finanziert und organisiert das?
Diese Ausbildung ist eine tolle Zusatzqualifikation für filmbegeisterte Schüler*innen aller Schularten ab dem Alter von 15 Jahren. Die angehenden Juniorassistent*innen lernen alle Grundlagen darüber, wie Film im Team funktioniert und dürfen daraufhin selbständig Filmgruppen an Schulen anleiten. Selbstverständlich ist das Abschlusszertifikat auch eine gute Visitenkarte für alle Ausbildungsrichtungen im Medienbereich nach der Schule. Einen Großteil der Ausbildungskosten, das sind vor allem die Kosten für die Referent*innen, trägt das bayerische Kultusministerium. Einen kleineren Teil wie Anfahrt, Unterkunfts- und Verpflegungskosten für etwa neun Workshop-Tage, tragen die Teilnehmenden selbst. Organisator ist der Verein „Drehort Schule“, der diese Ausbildung mit den Vorgaben des Kultusministeriums abgleicht.
Was wird damit gefördert? Was lernen die Teilnehmenden da genau?
Das Ziel ist die individuelle Förderung von Jugendlichen, die bereits Erfahrung mit eigenen Filmprojekten gemacht haben, und deren überregionale Vernetzung. Neben den einzelnen Gewerken wie Regie, Kamera, Ton und Schnitt, die in praktischen Übungen vertieft werden, wird vor allem die Teamfähigkeit, konkret das Verständnis professioneller Kommunikationsformen in Kreativteams, gefördert. Am Ende hat jede*r Teilnehmende einen kurzen Animationsfilm, einen Dokumentarfilm, ein kurzes Drehbuch und eine Spielfilmsequenz in ihrem*seinem Portfolio.
Herzlichen Dank für das Interview. Wir hoffen auf weitere Einreichungen beim Jugendfilmwettbewerb auch aus Ihrer Schule.
<< Die Fragen stellte Maya Reichert, Leiterin des Bildungsprogramms DOK.education beim Internationalen Dokumentarfilmfestival München e.V.
