Alles eine Frage der Zeit...
Statement zum Kampagnenstart von Simone Fleischmann, Präsidentin des BLLV
... denn bei dieser Kampagne geht es um nicht weniger als die Frage, wie wir den Kindern und Jugendlichen von heute - also unserer Gesellschaft von morgen - die Zeit geben können die sie so dringend benötigen. Und überall, wo ich hinkomme und Gespräche mit den Menschen führe, die an Schule und Bildung beteiligt sind, wird eines deutlich: es hängt so viel an der Zeit die wir haben. Die Kinder brauchen Zeit für ihre Bedürfnisse und wir Lehrerinnen und Lehrer brauchen Zeit, um diesen Bedürfnissen gerecht werden zu können.
Das Augsburger Manifest (2015) - Grundlage der Kampagne
Der BLLV hat das bereits vor langer Zeit erkannt. Bereits im Mai 2015 wurde auf der LDV das Augsburger Manifest "Zeit für Bildung" verabschiedet. Ausgangspunkt dieses Manifestes war, dass wir damals wie heute erleben, wie Menschen mit Hast und Hektik durch den beruflichen Alltag gehen. Sie sollen immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit erledigen. Geschwindigkeit, Effizienz und schneller Erfolg sind leider zu wichtigen Werten in unserer Gesellschaft aufgestiegen. Der Umgang mit Zeit ist dabei zu einem gesamtgesellschaftlichen Problem geworden, dem sich nicht nur das Individuum, sondern vor allem auch die Politik, die Unternehmensführungen und die gesellschaftlichen Institutionen stellen müssen.
Und das beschreibt ganz gut auch das Dilemma der modernen Schule: Die Schule ist heute die einzige Institution, die alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrem sozialen Status, ihrer Religion und ihrem familiären Hintergrund, besuchen. Schule soll gleiche Bildungschancen für alle sichern und dabei jedes Kind im Sinne der Bayerischen Verfassung individuell fördern.
Die Vielfalt der Kinder und Jugendlichen, die Bandbreite ihrer Begabungen, ihrer mitgebrachten Fähigkeiten und der in ihrem privaten Umfeld vorhandenen Unterstützungssysteme ist enorm.
Auf der anderen Seite werden die Erwartungen an Schule immer größer: Schule soll vielfältige zusätzliche Kompetenzen vermitteln, weiterhin das notwendige Wissen unterrichten und Sozialverhalten schulen.
Vielfalt braucht individuelle Förderung
Man kann das auch so ausdrücken: Die Vielfalt der Kinder und Jugendlichen, die Bandbreite ihrer Begabungen, ihrer mitgebrachten Fähigkeiten und der in ihrem privaten Umfeld vorhandenen Unterstützungssysteme ist enorm. Von den im Stich gelassenen Kindern verwahrloster Eltern bis zu den von Helikoptereltern überbeschützten verwöhnten Prinzessinnen und Prinzen, vom frühen "Überflieger" bis zum "Spätzünder": ja all diese Kinder kennen wir! Gerade in der Schule stoßen diese verschiedenen Lebenswelten aufeinander. Dort ist die Heterogenität der Kinder und Jugendlichen groß - und damit auch der Bedarf an Unterstützung und Förderung jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen.
Auch die Erwartungen und Anforderungen an die Schule sind sehr breit gefächert. Auf der einen Seite stehen die sog. bildungsnahen Eltern: Sie erwarten eine optimale individuelle Förderung ihrer Kinder. Sie unterstützen ihre Kinder mit Nachhilfeunterricht, intensiver Betreuung und einem durchgeplanten Freizeitangebot. Auf der anderen Seite stehen Eltern, die sich überfordert fühlen, die in ihrer Erziehungs- und Bildungsverantwortung ganz offensichtlich versagen und die Verantwortung an die Schule abgeben wollen. Und es gibt die sozial schwachen Familien, die ihren Kindern keine oder nur wenig Unterstützung ermöglichen können. Auch im „reichen“ Bayern gibt es eine große Zahl Kinder, deren Alltag von Armut und Verwahrlosung geprägt ist.
Und da gibt es die großen Erwartungen der Wirtschaft, der Gesellschaft und der Politik: Die Schule soll vielfältige zusätzliche Kompetenzen vermitteln, weiterhin das notwendige Wissen unterrichten und die sozialen Regeln des Miteinanders anbahnen. Sie soll die Kinder und Jugendlichen in einer sich radikal verändernden Gesellschaft so qualifizieren, dass sie lebenslang lernen können. Sie soll körperlich und geistig behinderte, verhaltensgestörte und lernschwache Kinder in die Regelschulen integrieren, ohne dass dies Auswirkungen auf die anderen Schülerinnen und Schüler hat. Sie soll die sozialen Kompetenzen und die Kommunikationsfähigkeit stärken. Sie soll die Wertegrundlagen unserer offenen Gesellschaft vermitteln und ihnen zu Respekt verhelfen. Immer, wenn unsere Gesellschaft an ihre Grenzen stößt und Defizite ausgemacht hat, ist Bildung und Schule gefragt.
Lehrerinnen und Lehrer brauchen Unterstützung
Für die Lehrerinnen und Lehrer stellt sich eine sehr schwierige Aufgabe: Wie können wir den verschiedensten Bedürfnissen der Kinder, Jugendlichen, der Eltern, der Wirtschaft, der Politik, der Medien überhaupt noch gerecht werden? Lehrerinnen und Lehrer sind wohl die einzige Berufsgruppe, die unmittelbar mit der Vielfalt der sehr unterschiedlichen Lebenswelten in unserer Gesellschaft intensiv und nachhaltig konfrontiert ist. Sie müssen damit täglich umgehen und zwar zum Wohl aller Kinder. Sie können sich nicht aus der Verantwortung schleichen. Und sie brauchen hierbei Unterstützung.
Denn eines fehlt uns immer: die Zeit. Zeit für die einzelnen Kinder, deren vielfältige Bedürfnisse, Lebenssituationen, Anliegen, Stärken, Sorgen, Interessen, Ängste und Ideen. Zeit für tiefgreifende Bildungs- und Beziehungsprozesse. (...)
Wir brauchen Zeit für nachhaltige Bildungsprozesse, denn in einer hektischen und beschleunigten Schule können wir der Vielfalt nicht Rechnung tragen. Wir brauchen Zeit für Ganztagsschule, Inklusion, die Betreuung von Flüchtlingskindern, neue Lern- und Leistungsbegriffe und Lernentwicklungsgespräche.
Wir brauchen Zeit für pädagogische Werte. Werte, wie: Ganzheitlichkeit, Chancengleichheit, Gleiche Startchancen für alle Kinder, Integration und Gemeinschaft, Bildungsgerechtigkeit statt Burnout, Bildungsqualität anstatt Turboschule und Ranking. Der BLLV macht sich stark, damit wir diese Werte in Schule leben können und Kinder und Lehrer nicht untergehen. Denn eines ist klar: Die Zukunft unserer vielfältigen Gesellschaft hängt davon ab, wie wir die Potentiale und Talente der jungen Menschen fördern. Aus diesem Grund hat der BLLV das Thema „Zeit für Bildung“ nicht mit dem Augsburger Manifest abgeschlossen.