Dr. Friedrich Reuß (1889 bis 1935)
Herkunft
Friedrich Reuß kam 1889 als einziges, uneheliches Kind von Frida Reuß und Dr. phil. Johann Georg Rost auf die Welt. Seine Mutter war Büglerin und stammte aus Randersacker bei Würzburg, sein Vater war ein hochangesehener Universitätsprofessor aus Würzburg. Beide Eltern waren katholisch.
Kindheit und Jugend
Friedrich Reuß' Mutter verstarb früh. Der Vater gründete eine eigene Familie und hielt keinen Kontakt zu seinem Sohn, bezahlte aber seine Ausbildung. Deshalb wohnte Reuß schon bald im Internat. "Er ist illegitim, sein Vater kümmert sich um seine Erziehung nur ganz äußerlich, indem er für die Kosten aufkommt und hat ihn zum Beispiel auch während der Herbstferien nie zu sich nach Hause kommen lassen." (Der Direktor des Gymnasiums in Burghausen über das Vater-Sohn-Verhältnis, Gymnasium Kempten, Schülerakte Friedrich Reuß.) Seine Schulzeit verbrachte Reuß ab 1902 am Humanistischen Gymnasium Burghausen im Landkreis Altötting. Durch seine angeschlagene Gesundheit – er litt unter Nervosität, Schlafstörungen und Herzproblemen – fiel es ihm schwer, in der Schule Anschluss zu finden. Daraufhin wechselte er mit 19 Jahren an das Humanistische Gymnasium Kempten und absolvierte dort ein erfolgreiches Abitur.
Ausbildung und Familie
Nach seinem Abitur kehrte Reuß wieder nach Würzburg zurück, um sich an der Julius-Maximilians-Universität für den Studiengang Neue Philologien einzutragen. Er war in Bezug auf Sprachen sehr begabt und interessiert. Nach einem Semester in Würzburg zog er nach München um und studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität weiter. 1912 absolvierte er sein Erstes Staatsexamen. Anschließend studierte er in Edinburgh. Nachdem der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, wurde er von 1914 bis 1918 als Soldat eingesetzt. Nach seinem Militärdienst beendete er sein Studium in München und legte 1919 sein Zweites Staatsexamen ab. Während seines Studiums und seines Militärdienstes lernte er 1913 vermutlich in Paris seine spätere Ehefrau Chaja Anja Günsburg kennen. Sie kam aus Smolensk in Russland und war Jüdin. Sie studierte Allgemeinmedizin. Mit 23 Jahren heiratete Friedrich Reuß Chaja Anja Günsburg in Südfrankreich. Sieben Jahre später wurde in München ihr einziges Kind, Tochter Margarete Lieselotte, geboren.
Berufsleben
Nachdem Reuß fast ein halbes Jahr auf eine Festanstellung gewartet hatte, wurde er im September 1920 in Bamberg am Neuen Gymnasium (heutiges Franz-Ludwig-Gymnasium) als Studienassessor eingestellt. Deshalb zog er einen Monat später nach Bamberg. Nach acht Wochen kamen seine Frau und seine Tochter nach. Die Familie lebte seitdem am Hindenburgplatz 12 (heutiger Marienplatz 12). Nach zweieinhalb Jahren als Studienassessor bekam Friedrich eine Stelle an der früheren Oberrealschule Bamberg (heutiges Clavius-Gymnasium) als Studienrat.
Philosophischer Zirkel
Reuß war politisch nie aktiv. Von Anfang an hatte er jedoch großes Interesse an Russland und der politischen Bewegung des Kommunismus. Die Herkunft seiner Frau verstärkte dieses Interesse. Ab 1923 veranstaltete Reuß regelmäßige Treffen mit Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen in seiner Wohnung, um sich über die aktuellen politischen Geschehnisse auszutauschen oder über verschiedene Meinungen zu diskutieren. Doch bald schon sollten ihm die Treffen und seine angeblichen „kommunistischen Aktivitäten“ zum Verhängnis werden.
Verfolgung
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde die Politische Polizei Bamberg schnell auf Reuß aufmerksam und begann, ihn auszuspionieren. Aus ihrer Sicht sprach vieles dafür, dass Reuß überzeugter Kommunist sei: Seine Frau stammte aus Russland, war Jüdin und hatte regen Kontakt mit Parteimitgliedern der KPD. Reuß hatte die Veranstaltung "Freunde der Sowjetunion" besucht und dort angeblich gesagt: "Ich fühle mich nicht als Deutscher". Bald kam es zu Vorwürfen und den ersten Zeugenbefragungen der Politischen Polizei. Sie befragte Freunde, Schüler und Kollegen von Reuß. Nach den Anschuldigungen schrieb Reuß einen Brief an die Politische Polizei Bamberg, in dem er versuchte, sich zu rechtfertigen und seine angeblichen kommunistischen Aktivitäten bestritt. Zu der Aussage "Ich fühle mich nicht als Deutscher", die er angeblich bei der Veranstaltung "Freunde der Sowjetunion" gemacht haben sollte, schrieb er, dass er das niemals so gesagt habe. Die dort anwesenden Gäste hätten eine andere Äußerung von ihm falsch aufgefasst und falsch verbreitet.
Schutzhaft
Reuß wurde kurz nach dem Reichstagsbrand in Berlin im Februar 1933 verhaftet. Dort beschuldigten die Nationalsozialisten die Kommunisten, dieses Verbrechen begangen zu haben. Zur gleichen Zeit warf man auch den Bamberger Kommunisten vor, die Sprengung des Bamberger Doms geplant zu haben. Unter anderem stand Reuß unter Verdacht, bei diesem angeblichen Vorhaben beteiligt gewesen zu sein. Die Nationalsozialisten veranlassten eine Hausdurchsuchung. Die Geheime Staatspolizei befragte die Haushälterin, eine enge Freundin der Familie, nach Auffälligkeiten. Die Haushälterin versuchte, die Gestapo in die Irre zu führen und sagte, dass sie seit einiger Zeit die Truhe, in der all ihre Töpfe zum Kochen aufbewahrt wurden, nicht mehr öffnen dürfe. Die Gestapo durchsuchte die Truhe daraufhin vorsichtig nach Sprengstoff oder anderen Auffälligkeiten, fand aber nichts. Trotzdem wurde Reuß am 10. März 1933 in Schutzhaft genommen.
Befreiung aus der Schutzhaft
Sein Vorgesetzter Max Weyrauther, seine Kollegen und Schüler taten alles, um Reuß aus der Schutzhaft zu befreien. Dies zeigte Wirkung, und Reuß wurde nach elf Tagen entlassen. Seine Schüler versammelten sich alle an diesem Tag, dem 21. März 1933, vor dem Gefängnis und trugen ihren Lehrer auf Händen nach Hause. Doch auch nach der Entlassung aus der Schutzhaft stand Reuß weiterhin im Visier der Politischen Polizei Bamberg. Er wurde am 1. September 1933 aufgrund des Paragrafen 4 des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" aus dem Staatsdienst entlassen. Paragraf 4 besagte: "Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden."
Flucht und Tod
Am 11. September 1933 ließ Reuß sich einen Reisepass ausstellen. Kurz nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst hatte er bereits die Flucht mit seiner ganzen Familie nach Moskau geplant. Am 13. Oktober 1933 zogen Friedrich, Anja und Lieselotte Reuß nach Berlin-Pankow in die Esplanade 1, von da aus ging es nach Moskau. Hier arbeitete Reuß als Professor einer Militärakademie. Am 15. Dezember 1935, nur zwei Jahre nach seiner Flucht, starb Friedrich Reuß in Moskau. Die Todesursache ist unbekannt.
Wie ging es weiter?
Nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion wurden Anja und Lieselotte aus Moskau ausgewiesen und nach Karaganda gebracht. Am 7. Februar 1947 starb Anja Reuß. Ihre Tochter Lieselotte heiratete Ben-Zion Rosenfeld. Noch vor Anjas Tod hatte sie 1945 ihr erstes Kind Marianne bekommen. Zwei weitere Kinder folgten. Weil sie Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt verkauft hatten, wurden die Eltern in Straflager gebracht, die Kinder waren zeitweise im Kinderheim. 1958 gelang es Lieselotte, zusammen mit ihrer Familie über Polen und Westberlin nach München zu fliehen.
Quellen
Archive
- BayHStA MK34256, Personalakte Dr. Friedrich Reuß
- StABa, K3/1967 354 Regierung von Oberfranken, Kammer des Innern
- StadtA Ba, C 9, 58a, Familienkarte "Dr. phil. Friedrich Reuß"
- StadtA Ba, C 9, 58c, Meldeakte "Lieselotte Reuß"
- StadtA Mü, Meldeakte "Lieselotte Reuß"
- StadtA Mü, Meldeakte "Friedrich Reuß"
- StadtA Wü, Meldekarte "Frida Julia Reuß"
- StadtA Wü, Meldekarte "Friedrich Reuß"
Fotos
Privatbesitz Familie Rosenfeld
Sonstige Quellen
- Gunter Demnig im Hamburger Abendblatt: Stolpersteine: Pinneberg pflastert seine Erinnerungen, 1. Dezember 2009.
- Interview mit Henrich Rosenfeld und Anja Zimmermann, am 12. Oktober 2013.
- Carl-von-Linde Gymnasium Kempten, Schülerakte "Friedrich Reuß".
Die Verfasserin Christina Ther
Mein Name ist Christina Ther, ich bin heute 19 Jahre alt und habe im Jahr 2014 mein Abitur am Eichendorff-Gymnasium in Bamberg abgeschlossen. In den Jahren 2012 - 2014 besuchte ich als Schülerin des Eichendorff-Gymnasiums Bamberg das W-Seminar "Menschen aus Bamberg und Umgebung als Opfer der Nationalsozialisten", das Frau Franze leitete. Dieses Seminar stand in enger Zusammenarbeit mit dem Erinnerungsprojekt des BLLV. Die wissenschaftliche Arbeit des W-Seminares bestand daraus, sich gezielt mit den bayerischen Lehrern auseinanderzusetzen, die aufgrund ihres Glaubens, ihrer Herkunft oder ihres politischen Denkens durch die Nationalsozialisten im 3. Reich verfolgt wurden. So entstand die Biografie des Dr. Friedrich Reuß. Meine Recherchezeit war sehr durchwachsen. Die ersten Informationen, die ich aus der Vorrecherche über Dr. Friedrich (genannt Fritz) Reuß erhielt, waren seine Geburts- und Sterbedaten, seine Konfession, sein Beruf, sein eventueller Familienstand und weitere kleine Anhaltspunkte, wie z.B., dass seine Frau aus Moskau stammte, er Angehöriger der Freimaurerloge war usw. Basierend darauf begann nun meine zweijährige Recherche über das Leben von Friedrich Reuß.
Stolpersteine gegen das Vergessen
Zunächst las ich mich in alle Akten ein, die in Archiven von Bamberg, Würzburg und München vorhanden waren. Ich trat mit Hobbyforschern in Kontakt, mit den Schulen, die Reuß als Schüler besuchte oder an denen er später selbst unterrichtete und bemühte mich um eine direkte Recherche in Moskau in enger Zusammenarbeit mit Frau Sabine Gerhardus. So gelang es mir nach und nach, den Lebenslauf von Reuß fast lückenlos zu rekonstruieren. Am 12. September 2013 wurde es mir durch Unterstützung der Willy Aron Gesellschaft, des BLLV und des Eichendorff-Gymnasiums Bamberg ermöglicht, drei Stolpersteine für Dr. Friedrich Reuß, seine Frau Anja Reuß und seine Tochter Lieselotte zu verlegen. Diese befinden sich am heutigen Marienplatz 12 in Bamberg vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie Reuß. Dies war ein besonderes Highlight für dieses Projekt, was sehr wertgeschätzt wurde.
Kontakt zu Reuß' Enkeln
Ein weiteres Highlight folgte: Kurz darauf trat ich mit der Israelitischen Kultusgemeinde München in Kontakt. Durch diese konnte ich tatsächlich die Enkel von Dr. Friedrich Reuß ausfindig machen. Herr Rosenfeld und Frau Zimmermann (geb. Rosenfeld) baten um ein sofortiges Treffen mit mir in München und konnten mir dort die letzten offenen Fragen über das Leben von ihrem Großvater beantworten. Das Gespräch mit den beiden war neben der Stolpersteinverlegung der absolute Höhepunkt während meiner ganzen Recherchezeit und hat meiner Biografie nochmal etwas Einzigartiges verliehen. Die Geschwister kamen mich kurz darauf auch in Bamberg besuchen und ich zeigte ihnen die Stolpersteine, die für ihre Großeltern und ihre Mutter verlegt wurden. Sie haben mehrmals ihre größte Dankbarkeit und ihre Wertschätzung mir gegenüber gezeigt. Ich werde diese Zeit in meinem Leben niemals vergessen – es war eine unglaubliche Erfahrung für mich, die ich nie mehr missen möchte. Ich habe durch diese Arbeit nicht nur wahnsinnig viel über die Geschichte Deutschlands gelernt, sondern habe Menschenschicksale so nah erleben können, wie es noch sehr wenige Leute in meiner Generation erfahren.
"Ich bin dankbar und stolz"
Ich bin überaus dankbar und auch stolz, dass ich Friedrich Reuß durch meine Arbeit und die Biografie ein kleines Stück weit wieder zum Leben erwecken konnte. Auch wenn es oftmals Tiefpunkte, Sackgassen und auch einige Schwierigkeiten während meiner Recherchezeit gegeben hat, blicke ich heute mit sehr gutem Gefühl auf diese Zeit zurück! Jedem, der die Chance hat, in Zusammenarbeit mit dem Projekt Erinnern des BLLV eine Biografie über einen bayerischen Lehrer zu schreiben, würde ich dazu raten, diese Chance zu ergreifen - denn es sind so unfassbare Erfahrungen damit verbunden und vor allem ist es so wichtig, einem Menschen, der bereits in Vergessenheit geraten ist, wieder einen Namen zu geben! Diese Erfahrungen sollten so viele Menschen wie möglich miteinander teilen können!