Ferdinand Kissinger (1891 bis 1941)
Herkunft
Ferdinand Kissinger gehörte zur selben Familie wie der ehemalige US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger. Letzterer konnte 1938 mit seiner Familie von Deutschland aus in die USA fliehen. Doch nicht jedem, der eine Flucht versuchte, gelang sie auch. Zahlreiche Mitglieder der jüdischen Familie Kissinger blieben zurück und litten unter der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Eines dieser Familienmitglieder war Ferdinand Kissinger, Henry Kissingers Onkel zweiten Grades. Ferdinand Kissinger wurde am 13. Oktober 1891 in Urspringen, einem kleinen Ort in der Nähe von Würzburg, geboren. Er war das vierte von acht Kindern des Ehepaares Simon und Babette Kissinger.
Ausbildung
Von seinem siebten bis zu seinem 15. Lebensjahr besuchte Ferdinand die jüdische Schule in seinem Geburtsort – eine kleine Elementarschule, an der Ferdinands Vater als einziger Lehrer unterrichtete. Von der Familientradition sicherlich nicht ganz unbeeinflusst begann Ferdinand als junger Mann seine eigene Ausbildung zum Lehrer. 1910 schloss er sein Studium an der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt in Würzburg ab und trat somit nicht nur in die Fußstapfen seines Vaters, sondern auch in die zahlreicher anderer Verwandter.Lehrer und Soldat Nach Abschluss seines Studiums arbeitete Kissinger zunächst in Willmars, einem Ort, der an der bayerischen Grenze zu Thüringen liegt. Als 1914 jedoch der Erste Weltkrieg ausbrach, musste auch Kissinger Dienst für sein Vaterland tun. Er kämpfte mehrere Jahre in Frankreich, wurde 1918 zum Unteroffizier befördert und mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet. Als der Krieg zu Ende war, kehrte er jedoch nicht nach Willmars zurück, sondern trat im Mai 1919 eine neue Stelle im schwäbischen Hainsfarth an.
Familie
Gut ein Jahr später heiratete Ferdinand Kissinger am 28. Dezember 1920 in Aschaffenburg Sofie Lebermann, eine junge Jüdin aus Darmstadt. In einem Gutachten, das ein Arzt mehr als zehn Jahre später verfasste, wurde Sofie als eine zart gebaute, intelligente Frau mit geistigen Interessen beschrieben. Doch das Eheglück währte nicht sehr lange. 1929 zeigte Sofie erste Anzeichen von Schizophrenie. Ein Symptom dieser Krankheit war, dass sie das Vertrauen in ihren Ehemann verlor und sogar glaubte, er wolle ihr körperlichen Schaden zufügen. Die Probleme, die dadurch für die Beziehung entstanden, führten 1930 zu einer räumlichen Trennung des Paares. Sofie zog zu ihren Eltern nach Darmstadt. Da es dem Paar nicht gelang, seine Ehe zu retten, wurden Ferdinand und Sofie 1933 nach einem langen Scheidungsverfahren geschieden. 1941 gab Ferdinand an, Sofie sei im Ausland verstorben. Falls sie sich noch 1940 in einer Anstalt befunden hat, ist davon auszugehen, dass Sofie im Rahmen der "Aktion T4" ermordet worden ist.
Münchner Jahre
Als 1923 die jüdische Schule in Hainsfarth, die schließlich nur noch von drei Schülern besucht worden war, geschlossen wurde, verlor Ferdinand Kissinger seine dortige Arbeit als Lehrer. Daher verbrachten er und seine Frau Sofie zunächst ein Jahr in Hachenburg bei Ferdinands Schwester Jenny und deren Familie. 1924 wurde in der Herzog-Rudolf-Straße in München durch den jüdisch-orthodoxen Verein "Ohel Jakob" eine neue jüdische Volksschule gegründet. Hier fand Ferdinand wieder eine Anstellung und zog zusammen mit Sofie nach München. Bei seinen Schülern war Ferdinand sehr beliebt, auch wenn sie ihn den "dicken Kissinger" nannten, im Kontrast zu seinem Bruder Julius, der ebenfalls an der Schule unterrichtete. In einer Stadt, in der der Antisemitismus zu dieser Zeit immer größere Wellen schlug, war das Leben für einen jüdischen Lehrer wie Ferdinand Kissinger sicherlich nicht einfach, außerdem stellte die Scheidung von Sofie für Kissinger eine zusätzliche Belastung dar. Finanziell schien es Kissinger jedoch gut zu gehen – er lebte einige Jahre in einer Wohnung in einem großen, repräsentativen Mietshaus in der Thierschstraße, während nur wenige Meter weiter Adolf Hitler zur selben Zeit noch zur Untermiete lebte.
Ferdinand Kissinger mit Schulklassen der Ohel-Jakob Volksschule in München
Verfolgung
Trotz oder vielleicht auch gerade wegen seines Wohlstandes war Ferdinand Kissinger einer der 26 000 "Aktionsjuden", die nach der Reichspogromnacht im November 1938 in Konzentrationslagern inhaftiert wurden. Kissinger musste zwei Monate in Dachau verbringen. Eine Vorstellung, wie es ihm dort erging, erhalten wir durch den Bericht des ehemaligen Schülers Simon Maoz (früher Walter Marx). Durch ihn erfahren wir, wie sein Vater die Misshandlung von Ferdinand Kissinger in Dachau miterlebt hat: Eines Morgens werden die Häftlinge aus den Baracken gerufen zum Appell. (...) Die Häftlinge stehen in der Reihe, der SS-Mann schreitet sie ab, sieht die Reihe von der Seite an und sieht den Bauch des dicken Kissinger hervorstehen. (...) Kissinger muss raustreten, wird auf den Boden geworfen. Die SS-Männer treten und springen ihm mit ihren Stiefeln auf den Bauch, ,damit die Reihe gerade werde'. Friedrich Marx glaubt, Kissinger sei an den Misshandlungen im Konzentrationslager Dachau gestorben. Tatsächlich wurde Kissinger jedoch am 12. Dezember 1938 entlassen und konnte nach München zurückkehren. Bis 1941 unterrichtete er weiter an der jüdischen Volksschule, 1940 wurde er sogar Schulleiter.
Deportation und Tod
1941 lebten noch 3410 Juden in München. Im November desselben Jahres wurden 1000 von ihnen ermordet, darunter auch Ferdinand Kissinger.
Kissinger lebte gemeinsam mit seinem Bruder Julius, dessen Frau Jenny und seinen zwei kleinen Neffen in der Bürkleinstraße, als er Mitte November enteignet wurde und dadurch sein Eigentum wie etwa Möbel verlor. Dann wurde er in ein Sammellager in Milbertshofen gebracht. Seine vier Mitbewohner aus der Bürkleinstraße traf das gleiche Schicksal, ebenso zahlreiche Schüler Kissingers. Offiziell wurde den Betroffenen mitgeteilt, dass es sich lediglich um eine Umsiedelung handle. Am Morgen des 20. November 1941 mussten etwa 1000 Menschen in Milbertshofen einen Zug besteigen, der sie in das Rigaer Ghetto bringen sollte.
Trotz der mangelhaften Wasserversorgung während der Reise glaubten viele der Deportierten, dass sie im Osten ein Leben ohne ständige Angst und Bedrohung erwartete und sie nach Ende des Krieges in ihre Heimat zurückkehren könnten. Da das Rigaer Ghetto jedoch überfüllt war, fuhr der Zug stattdessen nach Kaunas im heutigen Litauen. Dort befand sich das Neunte Fort, eine ehemalige Militäranlage aus der Zarenzeit, die unter der Besatzung der Nazis zu einem Gefängnis und einer Erschießungsstätte wurde. Der Zug, in dem auch die Kissingers saßen, erreichte Kaunas am 23. November. Die 1000 Münchner Juden wurden im Neunten Fort in enge, kalte Zellen gesperrt. Nach zwei Tagen, am 25. November 1941, wurden die Häftlinge nach draußen geführt und erschossen. Ferdinand Kissinger war einer von ca. 50 000 Juden, die bis 1944 in Kaunas ermordet werden.
Das Schicksal Ferdinand Kssingers steht im Mittelpunkt des Dokumentarfilms Erinnern - ein Geschichtsprojekt des BLLV.
Quellen
- Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Kriegsstammrolle 19228
- Staatsarchiv Augsburg, BA Nördlingen Akten 967
- Stadtarchiv München, EWK Ferdinand Kissinger
- Staatsarchiv München, Landgericht 6757;Polizeidirektion München 14462
- The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem, D-Ur2-7; D-Ur2-8
- Bokovoy, Douglas: Jüdisches Bildungswesen. In: Bokovoy, Douglas/Meining, Stefan (Hgg.): Versagte Heimat Jüdisches Leben in Münchens Isarvorstadt 1914-1945, München 1994, S. 181-196
- Heusler, Andreas: Fahrt in den Tod. Der Mord an Münchner Juden in Kaunas (Litauen) am 25. November 1941. In: Stadtarchiv München (Hg.) : "...verzogen, unbekannt wohin": Die erste Deportation von Münchner Juden im November 1941, Zürich, München 2000, S. 13-21
Fotos
- Porträt StAM Pol.Dir.M 14462 3
- Schulklassen: (1) (3) Stadtarchiv München (2) Douglas Bokovoy
Die Verfasserin Katharina Steinegger
Mein Name ist Katharina Steinegger, ich bin derzeit 18 Jahre alt und komme aus Grafing. Das Gedächtnisblatt für Ferdinand Kissinger habe ich im Rahmen meines W-Seminars am Gymnasium Grafing verfasst. Was für mich als Schulprojekt begann, wurde schnell zu einer Arbeit, die mir auch persönlich viel bedeutete: Es war unglaublich spannend, die Lebensgeschichte von Ferdinand Kissinger zu recherchieren und es freut mich, dass ich mit meiner Arbeit zur Erinnerung an diesen Menschen beitragen kann. Während meiner Recherche besuchte ich im Rahmen von Filmaufnahmen des BLLV Ferdinand Kissingers Wohnorte in München und auch das Fort IX. in Kaunas in Litauen, also den Ort, an dem Ferdinand Kissinger ermordet wurde. Diese Besuche werden mir ganz besonders in Erinnerung bleiben, denn sie haben mir die Möglichkeit gegeben, mir Ferdinand Kissingers Leben nach der langen Recherche für das Gedächtnisblatt noch besser vorstellen zu können.