ESCHSTRUTH: In Bildungsstudien belegt Bayern immer wieder Spitzenplätze, so auch im aktuellen ifo-Bildungsmonitor. Was macht diesen Erfolg aus und können die Schülerinnen und Schüler in Bayern wirklich mehr?
FLEISCHMANN: Bayern ist ein Bundesland mit einer vergleichsweise hohen Wirtschaftskraft. Dadurch hat die zusätzliche Unterstützung der Kinder seitens der Eltern – beispielsweise durch bezahlte Nachhilfe – eine breitere Basis. Gute Bildung ist leider zunehmend vom Geldbeutel der Eltern abhängig. Auch die Investitionen in Bildung mit jährlich rund 24 Mrd.€ – wie beispielsweise im Jahr 2023 im Haushalt verankert – sind in Bayern mit die höchsten in Deutschland. Jeder dritte Euro des Staatshaushalts wird für Bildung ausgegeben, wie die Politik in Bayern nicht müde wird zu betonen. Und natürlich zählt das hohe Engagement unserer Lehrerinnen und Lehrer, die die PS für unsere Kinder auf die Straße bringen. Aber die sind nicht nur in Bayern, sondern auch in den anderen Bundesländern hoch motiviert.
Diese zweifellos günstigen Voraussetzungen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in Bayern immer mehr Kinder nach der Grundschule die Mindestanforderungen im Lesen, Schreiben und Rechnen nicht erfüllen. Das ist doch Wahnsinn! Wir verlieren auch in Bayern viel zu viele Kinder, Spitzenplatz hin oder her. Diese Mittelmäßigkeit ist wahrlich kein Grund zum Feiern. Wir müssen unsere Kinder fit für die Zukunft machen und ich meine ALLE Kinder: nicht nur die, die das Glück haben aus einem Elternhaus zu kommen, das sie gut unterstützt. Denn – und das ist die Zahl, die uns wirklich erschrecken muss – Bayern liegt laut der letzten ifo-Studie „Bildungsgerechtigkeit“ im Bundesländer-Ranking auf dem letzten Platz, was die Bildungschancen betrifft. Das Recht auf Bildung gilt aber für alle Kinder, egal in welche Familie sie zufällig hineingeboren wurden.
ESCHSTRUTH: Wir haben über 160.000 Lehrkräfte in Bayern. So viele wie nie zuvor. Wir investieren über 24 Mrd. € in die Bildung. So viel wie nie zuvor. Wie kann es sein, dass trotz dieser Steigerungen, die Leistungen der Kinder beim Lesen, Schreiben und Rechnen seit 2011* kontinuierlich sinken? (*IQB Daten)
FLEISCHMANN: Das ist genau die richtige Frage, denn es wirkt so, als hätte sich in 23 Jahren PISA noch keiner über das „Warum“ Gedanken gemacht. Wahr ist aber auch: Jede Lehrerin und jeder Lehrer und alle, die an einer Schule vor den Kindern und Jugendlichen stehen, wissen, woran es krankt. Denn die Anforderungen an den Schulen sind deutlich stärker gestiegen als die Zahl der Lehrkräfte. Auch heute sind die Auswirkungen von Corona immer noch nicht ausgeglichen. Inklusion und Integration stellen uns heute vor stärkere Herausforderungen. Und auch die Anforderungen hinsichtlich Demokratiepädagogik, Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Vieles mehr sind enorm gestiegen. Wir sind zu wenige! Wir können nicht individuell fördern! Und es kommt auf die Qualifikation der Lehrkräfte an! Wir brauchen individuelle Förderung für die Kinder und Jugendlichen. Wir brauchen Differenzierung. Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer. Und wir brauchen eine erstklassige Ausbildung für die Lehrkräfte. Was wir nicht brauchen, sind 26 Kinder in einer Klasse, die alle die gleiche Schulaufgabe schreiben!
ESCHSTRUTH: Müssen wir an die Strukturen ran? Und wenn ja, was braucht es dazu?
FLEISCHMANN: Es geht um Veränderung mit dem Ziel, wie wir die Kinder individueller und differenzierter fördern können. Hierzu gibt es auch im bestehenden System sehr viele Freiheiten in den Lehrplänen, die man unmittelbar nutzen kann. Es braucht aber Mut, wenn sie etwas anders machen. Trotzdem stoßen wir zum Beispiel mit innovativen Lernmethoden und Leistungserhebungen an systemische Grenzen, die mit Mut alleine nicht adressiert werden können. Was wir nicht brauchen, sind einfache Lösungen oder „Machtworte“ zu komplexen pädagogischen Themen, die jede wissenschaftliche Expertise und praktische Erfahrung beiseite wischen. Was wir ändern müssen, darüber braucht es einen gemeinsamen offenen und konstruktiven Austausch mit der Politik, den Eltern, den Schülerinnen und Schülern und allen, die an unseren Schulen arbeiten. Und es braucht den Austausch und die Wertschätzung für die Wissenschaft und die Expertinnen und Experten. Stichpunkte sind dabei unter anderem der Abbau von selektiven institutionellen Bildungsbarrieren, sozialpolitische Reformen und ein Ausbau des Ganztags mit fundierten pädagogischen Konzepten.
ESCHSTRUTH: Die Erlanger Eichendorffschule hat letztes Jahr den Deutschen Schulpreis gewonnen. Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen dazu einen Auszug aus der Zeitung vorlese. „[Schulleiter] Klemm fordert, dass man Schulleitungen mehr zutraut. Wie offen sind unsere Strukturen für Veränderung?
FLEISCHMANN: Ich bin Mitglied der Jury, die den Deutschen Schulpreis verleiht. Die Schule überzeugte uns mit ihrem erfolgreichen Konzept des selbstorganisierten und eigenverantwortlichen Lernens. Ich kann den Mut von Schulleiter Klemm und seinem Kollegium nur bewundern, sich von Widerständen nicht beeindrucken zu lassen. Diese Schule geht konsequent und zielstrebig einen anderen Weg, und den geht sie sehr erfolgreich. Dieselben Leute, die gestern der Schule noch Knüppel zwischen die Beine geworfen haben, sind heute die, die sich mit dem Erfolg brüsten und es schon immer gewusst haben. Zum Glück gibt es immer mehr Menschen, die neue Ideen unterstützen. Der Druck steigt ja von allen Seiten, neue Ansätze zu versuchen, weil traditionelle Methoden den Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Wir werden offener, aber leider nicht schnell genug. Auch hier fehlt uns der Mut, mehr auszuprobieren, mehr zu wagen, mehr ins Risiko zu gehen. Davon wünsche ich mir mehr.
Einen Satz noch zur Eichendorffschule. Was mich besonders freut ist, dass die Eichendorffschule eine Mittelschule ist. Wir unterschätzen das Potenzial der Mittelschulen, wir kümmern uns nicht genug um sie und deren Weiterentwicklung. Warum eigentlich nicht? Was hält uns denn davon ab? Nichts. Wie die Eichendorffschule gezeigt hat, ist alles möglich, wenn der Wille da ist.
ESCHSTRUTH: „Die jungen Leute von heute können ja nichts mehr. Die sind alle verwöhnt. Uns wurde noch etwas abverlangt. Heute wird ja nichts mehr gefordert. Alle verweichlicht. Und die Bundesjugendspiele wurden auch noch abgeschafft.“ Solche Äußerungen hört man immer wieder. Ist da was dran?
FLEISCHMANN: Mein Eindruck ist, dass diese Äußerungen zu kurz greifen und auch zeigen, wie verschoben unser Leistungsverständnis ist. Primär ist die Frage wichtig: Was bringt unsere Gesellschaft weiter? Wir müssen Leistung definieren nach den Zukunftskompetenzen. Weg vom Elitedenken, dem Leistungsdenken und der Ellenbogen-Mentalität und hin zum kompetenzorientierten Denken. Wichtig ist in unserer heterogenen Gesellschaft, dass jeder sich mit seinen Stärken und Fähigkeiten einbringen kann. Und die müssen wir fördern. Es ist doch entscheidend, dass man mit Kreativität und Kollaboration ein Projekt voranbringt. Nicht, dass man die Projektbeschreibung auswendig referieren kann. Das Leistungsverständnis von Schule und der Welt passen danach nicht mehr zusammen. In der Arbeitswelt leben wir doch schon heute einen völlig anderen Leistungsbegriff. Das passt mit dem traditionellen Schulsystem mit Noten, wo jeder für sich alleine kämpft, nicht zusammen. Der Komplexität der heutigen Welt können wir nicht mit Ellenbogen begegnen.
ESCHSTRUTH: Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es uns derzeit bei der Leistungsmessung immer nur um das Endergebnis, die Noten. Korrekt?
FLEISCHMANN: Schulen sollen Lernorte sein und keine Sortieranstalten. Und jeder Mensch lernt auf seine eigene und ganz individuelle Weise. Die Fokussierung auf eine einfache „Ziffernnote“ wird dem nicht gerecht und sagt viel zu wenig aus. Für uns geht es auch um die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, Social Skills und Zukunftskompetenzen, die gar nicht in Noten gemessen werden können. Da müssen wir uns auch die Frage stellen, was Leistung ist. Und ich habe den Eindruck, dass dieser Begriff gerade in der Politik aktuell zwar fleißig vor sich hergetragen wird, aber gleichzeitig sehr verengt und veraltet gesehen wird. Mit veralteten Leistungsbegriffen kommen wir aber nicht weiter. Was beispielsweise eine Schülerin hinlegt, die immer Fünfer in Mathe hatte und sich jetzt auf eine Drei hochgearbeitet hat, das ist eine exzellente Leitung und vielleicht sogar mit mehr Arbeit verbunden als bei anderen, die schon immer Einser hatten. Was ich damit sagen möchte ist, dass wir auch prozessorientierte Leistungen erheben sollten. Und was ist mit Kindern, die beispielsweise zu Hause große Probleme haben und sich in einer harten Zeit schwer tun mit dem Lernen? Bekommen die dann eine Fünf? Noten alleine können all das nicht abbilden.
ESCHSTRUTH: Durch die Petition einer Schülerin wird momentan über die Abschaffung der Exen diskutiert. Unabhängig wie man dazu stehen mag, was sagt die Diskussion über unseren Leistungsbegriff aus?
FLEISCHMANN: Ich bin sehr dankbar für diese Diskussion. Nur so verändert sich etwas. Die Schulpreisgewinner der letzten Jahre haben immer wieder gezeigt, dass Kinder dann besonders gute Leistungen bringen, wenn sie dazu bereit sind. Klingt erstmals nach Kuschelpädagogik, aber das sind harte Fakten. Die Noten sind besser als bei der herkömmlichen Leistungserhebung. Was ist denn der Sinn, ein Kind bloßzustellen mit einer Sechs? Ha, jetzt habe ich dich erwischt? Das nützt doch niemandem. Der BLLV sieht Leistungsrückmeldung, die aufs reine Reproduzieren ausgelegt ist, schon lange kritisch. Er fordert mit Blick auf entsprechende Erkenntnisse aus den Erziehungswissenschaften stattdessen prozessorientierte Formate, die individuelle Fortschritte fokussieren, um so eine motivierende Lernatmosphäre zu schaffen, die nachhaltige Bildungserfolge ermöglicht. Die Einstellung verändert sich dann von „Ich habe Angst vor der Prüfung“ zu „Heute zeige ich Euch, was ich gelernt habe.“ Die Evidenz belegt, dass diese alternativen Wege zu besseren Leistungen und besserem Verständnis führen. Leider halten viele immer noch starr an der Vergangenheit fest, aus welchen Gründen auch immer. Das hält uns nicht nur unnötig auf, sondern schadet der Entwicklung unserer Kinder.
ESCHSTRUTH: Ein anderes Leistungsverständnis fängt ja auch bei der Lehrerbildung an. Verändert sich hier etwas?
FLEISCHMANN: Die Lehrkräftebildung ist natürlich eines meiner Herzensthemen. Die Anforderungen an Schule haben sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert – und sie werden weiter wachsen. Schon heute fühlen sich viele angehende, aber auch erfahrene Lehrkräfte nur noch schlecht auf aktuelle und künftige Herausforderungen vorbereitet: Der mangelnde Berufsfeldbezug und neue Herausforderungen wie Inklusion, Integration und Digitalisierung machen eine Reform der Lehrkräftebildung erforderlich.
Das zurzeit praktizierte starre Konzept verhindert außerdem, flexibel auf veränderte Anforderungen und Bedarfe zu reagieren. Das bekommen wir alle deutlich zu spüren. Einerseits fehlen an einigen Schularten massiv Lehrkräfte, andererseits stehen junge Lehrerinnen und Lehrer auf der Straße.
Es geht ja angesichts des Lehrkräftemangels auch darum, möglichst vielen jungen Menschen Lust zu machen, den Lehrberuf zu ergreifen. Wir wünschen uns mehr Begleitung, mehr Qualität, mehr Handlungs- und Berufsorientierung in der Lehrerausbildung. Der Fokus liegt darauf, was es bedeutet, Lehrer zu sein und nicht nur Fachwissenschaftler. Diese Punkte haben wir in unserem „Flexiblen Lehrkräftebildungsmodell“ zusammengefasst und auch in die Expertenkommission zur Lehrkräftebildung der Staatsregierung eingebracht.
ESCHSTRUTH: Eine Optimierung der Lehrerausbildung wird nur mittelfristig zu mehr Lehrerinnen und Lehrern führen. Lt. Kultusministerium gibt es in diesem Schuljahr 3.800 neue Lehrkräfte. 3.700 Lehramtsabsolventinnen und -absolventen beginnen zudem mit der Seminarausbildung. Zusätzlich sind auch rund 600 Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger für den zweijährigen Vorbereitungsdienst angemeldet. Das ist doch nicht schlecht?
FLEISCHMANN: Ich begrüße die Anstrengungen von Kultusministerin Anna Stolz, aber es reicht leider nicht. Außerdem finde ich es sehr positiv, dass das Kultusministerium auch endlich vom Lehrkräftemangel spricht. Vor ein paar Jahren hat man den Notstand an Lehrkräften noch geleugnet. Doch das geht jetzt nicht mehr und weiterhin fehlen tausende Lehrkräfte. Unterrichtsausfall und Vertretungsstunden sind an der Tagesordnung. Kurzfristig sind Quereinsteiger eine große Hilfe in solchen Krisenzeiten, aber keine dauerhafte Lösung für Bildungsqualität. Und genau die leidet ganz massiv, vor allem hinsichtlich der Herausforderungen, die heute an eine individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler an unseren Schulen gestellt werden. Wir haben ja schon darüber gesprochen, wie sich das auf die Kompetenzen der Kinder an den Schulen messbar auswirkt – beispielsweise, wenn viele Kinder die Mindestanforderung in Rechnen, Schreiben und Lesen nicht mehr erfüllen.
Und natürlich gibt es hier keine schnellen perfekten Lösungen. Was wir brauchen, ist zunächst eine Stärkung der Kernmannschaft, die schon heute täglich alles gibt, um die Schulen am Laufen zu halten. Dazu haben wir schon im letzten Jahr 36 Punkte aufgelegt, um die Arbeitsbedingungen, aber auch um strukturelle und finanzielle Bedingungen für die Lehrkräfte in Bayern zu verbessern – und genau diese Punkte brauchen wir auch, um den Lehrberuf für die Zukunft wieder attraktiver zu machen und den jungen Menschen Lust zu machen auf diesen Beruf, der der schönste der Welt sein kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und wenn wir den Kindern und Jugendlichen gerecht werden können.
ESCHSTRUTH: Wie macht sich der Lehrermangel bemerkbar?
FLEISCHMANN: Generell macht sich der Lehrkräftemangel derzeit am stärksten bei den Mittelschulen bemerkbar. Auch die Gymnasien haben es in Zukunft nicht einfach, weil sie durch die Umstellung von G8 auf G9 einen zusätzlichen Jahrgang integrieren müssen. Generell muss man aber auch sagen, dass es vor allem regional an allen Schularten immer wieder zu dramatischen Engpässen kommt, bedingt durch die Bevölkerungsstruktur, die Attraktivität des Standorts und andere Faktoren. Was wir leider verlieren, unabhängig von der Schulart, sind viele Möglichkeiten der individuellen Förderung. Das bedeutet eine Gefahr für die Bildungsqualität und es bedeutet vor allem, dass wir viele Kinder auf dem Weg verlieren. Die Frage ist: Wie lange hält das unser Schulsystem noch aus, wenn die Ressourcen nicht mal für den Erhalt des Status Quo ausreichen? Die so dringend benötigten Veränderungsimpulse bleiben aus, weil man keine Zeit, kein Geld und kein Personal dafür hat. Das darf nicht passieren, deshalb brauchen wir strukturelle Veränderungen.
Derzeit bestimmen oft blinder Aktionismus und kurzfristige Reflexe oder politische „Machtworte“ den Dialog. Ernährungserziehung, Demokratiebildung oder Medienkompetenzbildung sind enorm wichtig. Das sind aber nur einige Beispiele für viele Themen und immer weitere Themen, die wir an den Schulen abdecken sollen. Auch hier benötigen wir mal einen klaren Dialog und eine klare Übereinkunft, was die Schulen leisten sollen, was sie leisten können und welche Ressourcen sie dafür benötigen. Denn: Psychologen, Mediatoren und Sozialarbeiter sollen wir auch noch sein. Die Lehrkräfte werden überfordert, mit der Konsequenz, dass die Qualität sinkt. Wenn etwas dazukommt, dann muss auch etwas wegfallen. Aber es fällt nichts weg. Meine Aufgabe ist es, dafür zu kämpfen, dass unsere Lehrkräfte möglichst viel Zeit bekommen, um das zu machen, wofür sie ausgebildet wurden: Kinder individuell und differenziert zu fördern.
ESCHSTRUTH: Der Bildungswissenschaftler John Hattie antwortete auf die Frage, wie er das 3-gliedrige Schulsystem sieht: „I am amazed that you think you know what a student at the age of 10 years will be like at the age of 30 [ ….]. It’s a waste of talent.” Hat er recht?
FLEISCHMANN: Absolut. Wir plädieren schon immer für eine längere gemeinsame Schulzeit. Auch hier zeigt uns die Evidenz, dass es besser ist, länger in heterogenen Gruppen differenziert und individualisiert unterrichten zu können. Das ist die beste Voraussetzung für alle, um möglichst viele Optionen offen zu halten. Zehnjährige wissen doch nicht, ob sie Anwalt oder Heizungsinstallateur werden wollen. Und sie haben auch noch nicht die Kompetenzen entwickelt, die sie später zeigen werden und zeigen könnten. Es herrscht das Vorurteil, dass eine längere gemeinsame Schulzeit zu „Einheitsschulen“ führt, die die Qualität senken. Nein, das tun sie eben nicht und das wollen wir auch nicht. Wir wollen, dass die hochbegabten Kinder genauso gefördert werden wie z.B. sprachlich benachteiligte Kinder. Wir wollen, dass alle Kinder optimal gefördert werden, individuell und differenziert. Und das kostet Geld, viel Geld, aber es ermöglicht es den Kindern, ihr Potenzial zu heben. Mit Freude an der Schule, weil wir besser auf sie eingehen können. Das können wir momentan nicht und das kritisiert Prof. Hattie zurecht.
Unsere Kinder nach der vierten Klasse mit drei Noten zu bewerten, ist unterkomplex. Was ist denn das für ein Menschenbild? Und wir sehen doch, was der Leistungsdruck mit unseren Kindern macht. Grundschulabitur. Geht’s noch? Dass es auf absehbare Zeit in Bayern eine längere gemeinsame Schulzeit gibt, ist sehr unwahrscheinlich. Deshalb komme ich auch hier auf die eigenverantwortliche Schule zurück. Die Lehrerinnen und Lehrer vor Ort kennen die Kinder am besten. Eine informierte Entscheidung der Eltern im engen Austausch mit den Lehrkräften fände ich äußerst sinnvoll beim Übertritt auf die weiterführenden Schulen.
ESCHSTRUTH: Es gibt in Bayern so viele tolle Beispiele, die uns heute schon zeigen, wie Schule morgen sein kann. Die bereits angesprochene Eichendorffschule mit selbstorganisiertem Lernen, die Bauhausplatz Grundschule in München mit dem kooperativen Ganztag, die Europakanalschule in Erlangen mit der Digitalisierung etc. Viele dieser Erfolge wären ohne das individuelle Engagement einzelner nicht möglich gewesen. Damit alle Kinder davon profitieren können, müssen es doch andere Schulen nur nachmachen. Alle wollen doch da hin, wo diese Schulen schon sind. Warum kann man das erfolgreiche selbstorganisierte Lernen der Eichendorffschule nicht an allen Mittelschulen in Bayern umsetzen?
FLEISCHMANN: Natürlich könnte man das, allerdings ist das genau gleiche System auch nicht für alle Schulen gleich richtig. Die Schulen, die Schulleitungen und das ganze Kollegium müssen ihren eigenen Weg finden, auch wenn bestimmte Prinzipien natürlich grundlegend richtig sind und wissenschaftlichen Grundlagen entsprechen. Die Schulen brauchen dafür aber die Freiräume und auch hier wieder die Ressourcen, um für ihre Schule das jeweils richtige Konzept umzusetzen. Und da gibt es strukturell natürlich unterschiedlichste Widerstände. Mit Mut und Kraft lässt sich aber vieles erreichen. Und wir brauchen natürlich auch dafür top motivierte und ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer mit der pädagogischen Expertise. Auch dafür brauchen wir einfach die Besten. Was heute dabei schon hilft, sind Netzwerke wie das des Deutschen Schulpreises. Denn es handelt sich ja nicht nur um eine Preisverleihung, bei der irgendeine tolle Schule ausgezeichnet wird, die eben mal vom Himmel gefallen ist. Der Deutsche Schulpreis ist viel mehr als nur eine Auszeichnung: eine Plattform für die Entwicklung neuer und exzellenter schulischer Konzepte.
Im Forum des Deutschen Schulpreises können alle Bewerberschulen im Rahmen eines 15-monatigen Programms ein selbst gewähltes Unterrichtsentwicklungsvorhaben vorantreiben. Dafür stellen die Verantwortlichen Beratungs-, Vernetzungs- und Begegnungsangebote sowie ein digitales Workshop-Programm zur Verfügung. Viele der späteren Gewinnerschulen sind deshalb schon vor der Preisverleihung im Forum aktiv, arbeiten an ihren Konzepten und lernen voneinander. Und auch nach der Preisverleihung arbeiten die Preisträger in einem stetig wachsenden Netzwerk zusammen.
ESCHSTRUTH: Der Ganztag ist ein wichtiges Thema, vor allem für Eltern. Der Rechtsanspruch kommt 2026 für die ersten Klassen und wird dann sukzessive für die Folgeklassen eingeführt. Der Großteil der Verantwortung dafür liegt bei den Kommunen. Es scheint, dass die Kommunen das flächendeckend nicht schaffen werden. In meinem Wohnort Erlangen zum Beispiel scheint es versäumt worden zu sein, hier rechtzeitig die Weichen zu stellen. Die negativen Auswirkungen spüren die Eltern und Kinder bereits heute. Was denken Sie darüber?
FLEISCHMANN: Wir müssen zunächst mal überlegen, wofür wir die Weichen stellen wollen und sollen. Geht es nur um irgendeine Aufbewahrung für die Kinder oder wollten wir vielleicht ursprünglich die Chance nutzen, um mit pädagogisch sinnvollen Konzepten die Kinder im Ganztag auch ganzheitlich und individuell zu fördern? Und wer soll das leisten? Die ohnehin zu wenigen Lehrerinnen und Lehrer können das sicher nicht! Und wenn der anhaltende Fachkräftemangel bereits jetzt dazu führt, dass schon die Durchführung der Halbtagsschule durch den Staat nicht gewährleistet werden kann, wie soll dies dann eigentlich für den Ganztag funktionieren? Von einer tatsächlichen Umsetzung dieses Rechtsanspruchs, sind wir in Bayern immer noch weit entfernt. Und natürlich wurde hier seitens der Politik auf den verschiedensten Ebenen viel versäumt. Freilich sagen auch wir: Es kann doch nicht sein, dass ein gemeinsam verabschiedetes Bundesgesetz mit solch einem enormen Vorbereitungsbedarf so gehandhabt wird! Der BLLV steht dafür ein, Kindern und Jugendlichen beste Bildung zu ermöglichen. Ein pädagogisch professionell aufgesetztes, gebundenes Ganztagsangebot in der Grundschule wäre genau die richtige Lösung für viele bildungspolitische Herausforderungen: Mehr Förderung für die Kinder, mehr Zeit für Lesen, Rechnen und Schreiben, aber auch Kunst, Musik und Werken! Die politisch Verantwortlichen müssen die enormen Chancen, die die gute Ganztagsschule bietet, endlich erkennen und sich mit aller Kraft dafür einsetzen! Was ich sagen will ist: Der Fehler wurde teils schon viel früher gemacht, nämlich an dem Punkt, an dem man mit viel Vorlauf die Konzepte hätte entwickeln müssen: Was wollen wir, welche Ressourcen brauchen wir und wie können wir die sicherstellen? Ganz im Gegenteil schafft es die Politik aber nicht mal, bestehende Ganztagsangebote zu sichern. Und auch vom viel gepriesenen Bürokratieabbau ist beim Thema Ganztagsbetreuung nichts bei den Trägern angekommen.
ESCHSTRUTH: Der PISA-Schock 2001. Wie der Name bereits sagt, war das ein Schock für die gesamte Gesellschaft. Die PISA-Ergebnisse 2023 waren schlechter als die 2001. Einen Schock habe ich nicht wahrgenommen. Verliert Bildung in der Wahrnehmung der Menschen an Bedeutung, weil da sowieso nichts mehr zu retten ist?
FLEISCHMANN: Zumindest für die Lehrerinnen und Lehrer war es schon alleine deshalb kein Schock, weil es immer wieder neue Studien gibt, die mit viel Aufwand zu den gleichen Ergebnissen kommen. Aber kann das angesichts des Lehrkräftemangels und der vielen Herausforderungen an den Schulen irgendwen wundern? Brauchen wir wirklich noch eine Studie, die uns sagt, was wir eh schon wissen? Wenn wir dauernd nur messen und nichts daraus lernen, dann bringen die ganzen Studien gar nichts. Haben wir neue Konzepte, die der Entwicklung in den letzten Jahren hätten entgegenwirken können? Ein bisschen mehr Mathe und Deutsch an den Schulen wird es jedenfalls nicht richten. Jede Lehrerin und jeder Lehrer und alle, die an einer Schule vor den Kindern und Jugendlichen stehen, wissen, woran es krankt. Nur die Verantwortlichen haben sich in 23 Jahren PISA anscheinend keine Gedanken über das 'Warum' gemacht. Die Öffentlichkeit hat sich vermutlich – leider – über all die Jahre an die schlechten Ergebnisse gewohnt. Der große Schock bleibt aus, weil dann ja auch gleich irgendwelche Schnellschüsse gemacht werden, und dann ist bestimmt wieder alles gut. Ich hatte es ja vorhin schon gesagt: Wir brauchen individuelle Förderung für die Kinder und Jugendlichen. Wir brauchen Differenzierung. Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer. Und wir brauchen eine spitzen Ausbildung für die Lehrkräfte.
ESCHSTRUTH: Frau Fleischmann, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.
FLEISCHMANN: Sehr gerne, Herr Eschstruth.
» zum Gespräch (in Auszügen) beim BEV
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Wir brauchen ein neues Verständnis von Leistung!
BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann spricht mit Florian Eschstruth, Bundeselternrat und im Bayerischen Elternverband aktiv, über Bildungsgerechtigkeit, einen zeitgemäßen Leistungsbegriff, Lehrkräftemangel, längeres gemeinsames Lernen und Lehrkräftebildung.