Überholter Lernbegriff verhindert zukunftsfähige Bildung
UPDATE 27.9.: Kritik des Forum Bildungspolitik schlägt Wellen | Exen-Entscheid: MP Söder betreibt auf der CSU-Klausur Bildungspolitik per Machtwort vorbei an erziehungswissenschaftlichen Fakten und Praxiserfahrungen, kritisiert BLLV-Präsidentin Fleischmann.
UPDATE VOM 27.9.2024
Simone Fleischmann, Vorsitzende des Forum Bildungspolitik, im Wortlaut auf TV Bayern live:
"Wir fanden es schon sehr schade, dass die Kultusministerin in dem Moment, als sie gespürt hat, dass der Ministerpräsident einen anderen Weg gehen will, gesagt hat: ‘Dann doch lieber nicht den Dialog, dann bleiben wir doch lieber stehen.‘ Das ist schade. Ich kann es nur als Umkippen interpretieren. Ich habe zwar gehört, der Dialog soll weitergehen. Aber man fragt sich dann natürlich schon: Was bringt ein Dialog, wenn das schon abgefrühstückt wurde? Ich hoffe immer noch, dass sich Demokratie rentiert, dass Verbände eine wichtige Meinung haben, die auch gehört wird."
"Ich bin in der Jury des Deutschen Schulpreises. Da werden Schulen ausgezeichnet, die in die Kinder und Jugendlichen zu Leistung motivieren, wenn die sagen: ‘Hey, ich kann es. Kann ich dir jetzt zeigen, dass ich es kann?‘. Aber das darf bei uns nicht sein, sondern wir müssen den Jugendlichen oder das Kind erwischen bei ‘Ha, du kannst es nicht. Jetzt musst du es sagen!‘ Das ist doch verrückt. So werden wir keine Bestleistungen bringen. Aber das ist die Diskussion, in der wir gerade stehen.“
Christine Lindner, Co-Sprecherin Bündnis Gemeinschaftsschule Bayern:
"Wir haben viele Kinder mit psychischen Erkrankungen. Wir haben auch sehr gute Schülerinnen mit psychischen Erkrankungen, die sich ständig unter Leistungsdruck stellen. Die Kliniken und die Psychotherapeuten sind vollgebucht von sowas. Und das müssen wir versuchen zu verhindern oder zu verändern."
Zitat des Forum Bildungspolitik in den Medien:
Das Forum Bildungspolitik wirft Söder vor, den von Stolz angestoßenen Dialog eigenmächtig untergraben und so beschädigt zu haben. „Wir begrüßen und unterstützen den dialogischen Politikstil der Kultusministerin sehr“, heißt es in dem Schreiben. Das Bildungssystem müsse dringend modernisiert und damit auch zukunftsfähig gemacht werden. „Hierfür braucht es einen offenen und unbefangenen Austausch mit Expertinnen und Experten und Verbänden.“
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STATEMENT VON BLLV-PRÄSIDENTIN FLEISCHMANN VOM 13.9.2024:
"Wir haben es gestern wieder gehört: Die Bildungspolitik in Bayern macht der Ministerpräsident mit Machworten und Schnellschüssen und auf Basis eines veralteten tradierten Bildungs- und Leistungsverständnisses: Die PISA-Ergebnisse sind schlecht? Wir machen mehr Deutsch und Mathe! Wir wollen die Olympischen Spiele nach München holen? Wir brauchen mehr Bewegung und Sport für die Kinder! Die Demokratie ist unter Druck? Wir brauchen eine Verfassungsviertelstunde! Inzwischen kann man auf die Schnellschüsse warten und blickt schon vorab mit Sorge auf Kloster Banz. Was davon alles zu kurz greift, schon längst an den Schulen gemacht wird, oder auf wissenschaftlich fundierter pädagogischer Basis schlicht falsch ist, das interessiert nicht.
Und jetzt sind eben die unangekündigten Leistungsnachweise oder „Exen“ dran. Die Exen sollen bleiben, denn sonst würde sich die „Leistungsdichte verschlechtern“, so MP Söder. Stellt sich zum einen die Frage, was das genau bedeuten soll. Zum anderen stellt sich die Frage, was Exen mit Leistung oder Lernerfolgen zu tun haben? Lehrerinnen und Lehrer haben ausreichend Praxiserfahrung an den Schulen, die sich mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen genauso deckt wie mit den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler: gar nichts!
Wenn ein Ministerpräsident in Kloster Banz Impulse setzen will für eine zukunftsfähige Bildung und dabei einen völlig überholten Bildungs- und Leistungsbegriff vor sich herträgt, dann kann das nichts werden. Umso schlimmer, wenn er dabei basisdemokratische Bemühungen von Schülerinnen und Schülern, wie in der betreffenden aktuellen Petition der Münchner Schülerin Amelie, schon im Ansatz mit einem Machtwort auszuhebeln versucht. Dann können wir uns auch die ganze Demokratiebildung an unseren Schulen sparen. Für uns ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler jetzt verstehen, worum es geht. Wir müssen sie stärken! Und es ist wichtig für uns, dass der richtige dialogische Ansatz der von ihm eigentlich doch hoch gelobten Kultusministerin nicht dauernd per Verordnung, die alle Fakten ignoriert, zunichte gemacht wird."
<< Simone Fleischmann, BLLV-Präsidentin
Position
Medienberichte
TV-Interview auf SAT1 Bayern
Simone Fleischmann im Wortlaut bei Sat1 Bayern:
"Wir könnten solche Dinge prima diskutieren, wenn die Profis, die Ministerin, die Lehrerverbände, die Kolleginnen und Kollegen vor Ort überlegen würden: Was genau braucht es jetzt? Dann könnten wir sowas super professionell umsetzen. Aber jetzt wieder einen Schnellschuss parieren, das können wir nicht."
"Es gibt übrigens eine Schülerin, die hat jetzt eine Petition gestartet. Sie will keine unangekündigten Exen. Da haben schon Tausende unterschrieben. Die Petition ist noch nicht mal eingereicht und der Herr Ministerpräsident pariert schon und sagt: Nein, wir lassen es bei den unangekündigten Exen."
"Eins ist doch klar: Angst und Lernen gehört nicht zusammen. Wir wollen das wir die Kinder bei ihren Bestleistungen erwischen. Wir wollen einen modernen Leistungsbegriff und da gehört es dazu, dass wir uns Gedanken machen über eine veränderte Leistungskultur."
Simone Fleischmann im Wortlaut bei BR24 und auf tagesschau.de:
"Fachlich völlig daneben!"
"Exen haben gar nichts mit Leistung oder Lernerfolgen zu tun."
"Söder regiert vom Kloster Banz in die Klassenzimmer hinein. Dann können wir uns auch die ganze Demokratiebildung an unseren Schulen sparen. Ich bin sehr, sehr enttäuscht."
Simone Fleischmann im Frankenfernsehen im Wortlaut:
"Das Thema ist schon lange am Start. Wir haben halt jetzt gemerkt, dass es eine Petition einer Schülerin gegeben hat, die das einfach mal offenkundig sehr sensibel, sehr emotional von sich aus erzählt hat. Amelie hat gesagt: 'Es kann doch nicht sein, dass das ewig so weitergeht hier in Bayern, dass es unangekündigte Exen gibt. Also: Ich erwische dich. Und jetzt schreiben wir eine Ex und jetzt produzierst du die beste Leistung, egal ob du Angst hast oder nicht.' Das hat sie sehr gut auf den Punkt gebracht. Und jetzt beginnt die Diskussion, die dahinterliegt. Und die ist ziemlich breit. Die heißt nämlich: Was ist denn Leistung in Bayern?"
"Es gibt nämlich auch Gymnasien, die zum Beispiel schon lange entschieden haben: Wir machen das nicht mit diesen unangesagten Exen. Zu was führt das? Das führt zu einer Verlässlichkeit, zu einer Sicherheit. Ich fühle mich wohler in der Schule. Ich traue mich, das auch sagen: Schule hat auch etwas mit Wohlfühlen zu tun! Beste Leistung kann man dann bringen, wenn es mir gut geht. Ja, und diese Ergebnisse zeigen es, dass Schülerinnen und Schüler dann besser in der Lage sind, ihre Höchstleistungen zu zeigen. Das liegt eigentlich auf der Hand."
Frankenfernsehen zitiert MP Söder, dass die Lehrerverbände mehrheitlich weiter für Exen seien. Den BLLV kanzelt er so ab: "Die überragende Zahl der Lehrverbände unterstützt das ja, genauso der Philologenverband und der Realschullehrerverband. Ein Lehrerverband hat ein bisschen eine andere, seltsame Auffassung. Jetzt sind wir mal ehrlich: In der ersten Klasse gibt es auch keine Exen, also spielt es keine Rolle."
Der BLLV vertritt allerdings Lehrkräfte aller Schularten und hat bayernweit mit Abstand die meisten Mitglieder. Die Erkenntnisse aus der Erziehungswissenschaft und aus der Praxis, die beide zeigen, dass Lernerfolge sich steigern, wenn konstruktive Formen der Leistungsrückmeldung genutzt werden, ignoriert der MP. Söder setzt stattdessen die subjektive anekdotische Eigenerfahrung zu unangekündigten Tests als relevanter an und postuliert, dass diese gemeingültig sei: "Weil wir sie alle erlebt haben und uns allen gutgetan haben."
Abseits dieser offenkundig wenig fundierten "Begründung" rekurriert diese Einschätzung auf ein Schulgeschehen, dass mehrere Jahrzehnte zurück liegt. Glücklicherweise hat sich aber seitdem zum einen die Pädagogik sowohl in ihrer wissenschaftlichen, empirisch gestützten Grundlage wie auch in der praktisch angewandten Methodik enorm weiterentwickelt. Zum anderen hat sich auch die Schülerschaft deutlich gewandelt. Hier das singuläre vergangene Eigenerleben als valides Argument gegen den heutigen erziehungswissenschaftlichen Konsens ins Feld führen zu wollen, ist aus Sicht professioneller Pädagoginnen und Pädagogen bedenklich.
Simone Fleischmann in der Süddeutschen Zeitung:
"Die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Simone Fleischmann, kritisierte, Söder mache Bildungspolitik auf Basis eines veralteten und völlig überholten Bildungs- und Leistungsverständnisses. Exen hätten nichts mit Leistung oder Lernerfolgen zu tun.
Die Praxiserfahrung von Lehrern decke sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit den Erfahrungen der Schüler. Noch schlimmer sei, wenn Söder basisdemokratische Bemühungen von Schülern schon im Ansatz mit einem Machtwort auszuhebeln versuche: 'Dann können wir uns auch die ganze Demokratiebildung an unseren Schulen sparen.'"
Die SZ zitiert dazu auch den Berliner Erziehungswissenschaftler Jörg Ramseger:
"Natürlich sollten Bayerns Schüler zu optimaler Leistung ermutigt werden - und zwar auch diejenigen, denen das Lernen schwerfalle. 'Die fiese Fallenstellergesinnung hinter den unangekündigten Leistungsproben widerspricht allen Erkenntnissen der Motivationspsychologie der letzten 50 Jahre', erklärte er. Denn Leistungsmotivation erwerbe man nicht durch Prüfungsdruck."
WEITERE MELDUNGEN: Spiegel | ZEIT | FAZ | BR24 | Stern | n-tv | Welt | Passauer Neue Presse | Augsburger Allgemeine | Donaukurier | Merkur | Nordbayern.de | Traunsteiner Tagblatt | Fränkischer Tag | Mainpost | TZ | Schwäbische | Antenne Bayern | Radio Arabella | Radio Euroherz | Radio Bamberg | Onetz | Radio Mainwelle | Brennessel Magazin |
Update 20.9.: News4teachers berichtet, dass Kultusministerin Stolz nach dem Vorpreschen des Ministerpräsidenten "zurückrudert", und gibt den kritischen Kommentar von BLLV-Präsidentin Fleischmann dazu vollständig im Wortlaut wieder:
» „Exen“ bleiben! Stolz rudert nach Söder-Basta zurück – BLLV: So können wir uns Demokratie-Unterricht sparen!
BR Heimat berichtet ebenfalls über den Streit um unangekündigte Leistungsnachweise:
» Zur Sendung (Thema ab 7:20)
Darin wird BLLV-Präsidentin Fleischmann zitiert: "Exen haben mit Leistung nichts zu tun, das wissen Lehrer wie Bildungswissenschaftler. Söders Bildungs- und Leistungsbegriff ist völlig überholt."
Außerdem wird klargestellt: "Exen lösen Angst, Stress und Blockaden aus und wirken sich damit negativ auf Leistung aus."
Merkur: "Noten beweisen, dass unsere Ideen funktionieren"
Im Münchner Merkur berichtet Axel Kisters, Schulleiter des Holzkirchner Gymnasiums, über Erfahrungen mit dem Konzept, gänzlich auf unangekündigte Leistungsnachweise zu verzichten:
"Die Situation, morgens in den Unterricht zu kommen, nach vorne gerufen zu werden und dann Rede und Antwort stehen zu müssen, das erzeugt Stress. Stress ist für das Lernen aber nie förderlich und er lässt sich zumindest teilweise vermeiden. Wir wollen unsere Schülerinnen und Schüler zu Eigenständigkeit animineren und zu Eigenverantwortlichkeit. Die Schülerinnen und Schüler können sich freiwillig für eine Leistungsüberprüfung melden und beispielsweise die letzte Unterrichtsstunde zusammenfassen. Wenn bei einzelnen Schülern eine solche Note aussteht, wird ein Termin vereinbart."
"Die Jahrgangsstufentests und die Abiturnoten bestätigen jedenfalls, dass unsere Ideen funktionieren. Und es hat uns noch kein Schüler wegen des Notenkonzepts verlassen."
Nürnberger Nachrichten: "Ein Lehrer alter Schule – Exen bleiben: Söder führt die Kultusministerin vor"
Kathrin Walther kritisiert in ihrem Kommentar das wiederholte Übergreifen der Kultusministerin, die auf Dialog mit Wissenschaft und Praxis setzen möchte, durch den MP. Die sei schon bei der Schwerpunktsetzung in der PISA-Offensive so geschehen: "Anna Stolz durfte diese erniedrigende Erfahrung in ihrer noch recht kurzen Amtszeit schon zum zweiten Mal machen."
Walther stellt außerdem klar: "Die Argumentation 'Druck hat uns früher auch nicht geschadet!' müsste wissenschaftlich erst noch bewiesen werden."
Weiter kritisiert Kathrin Walther, dass sich der MP mit Stolz als progressiver Ministerin schmücken wolle, ihr in der Sache aber ständig in den Rücken falle: "Doch geht es darum, Worten Taten folgen zu lassen, stimmen etablierte Kräfte das bleischwere Lied 'Das haben wir schon immer so gemacht!' an und Söder singt mit."
Simone Fleischmann im Gespräch mit Radio Arabella:
„Wir verlieren so viele Kinder, die wirklich was in der Birne haben, die wirklich intelligent sind. Und die können dann in einer Leistungssituation auf einmal nicht mehr die Note schreiben, die sie eigentlich verdient hätten. Das heißt, wir geben eine Note für eine Leistung in einer Angstsituation. Das ist für manche Kinder kein Problem, aber für manche eben schon. Deswegen brauchen wir Mischformate, auch mal kollaborative Leistungsformate, Gruppenarbeiten, Präsentationen. Wir wollen auch Feedback über einen Lernprozess geben und nicht nur über das Lernergebnis. Es gibt wunderbare Formen des Feedbacks, die übrigens auch die Wirtschaft alle anwendet, die wir auch in der Schule anwenden können und eben nicht nur eine angesagte Ex mit: ‘Das ist eine fünf. Du kannst nichts!‘“
„Natürlich sagen viele Menschen: ‘Nee, nee, Leistung muss wehtun und das müssen die Kinder können. Und dann sollen sie sich auf den Hosenboden setzen und das hat uns auch nicht geschadet. Und dann muss man halt mal weinen.‘ Diese Hardliner-Einstellung gibt es natürlich mit einem sehr traditionellen Leistungsbegriff, nach dem Menschen sagen, dass Leistung so geprüft werden muss. Pädagogisch ist das ein extremer Rückschritt, der nicht funktionieren kann. Wir im BLLV wollen Fortschritt hin zu moderner Leistungsrückmeldung, zu vielfältigem Feedback und zu differenzierten, prozessorientierten Formaten.“
Simone Fleischmann im Wortlaut im Kommentar der SZ:
Der Ministerpräsident mache die Bildungspolitik in Bayern "mit Machtworten und Schnellschüssen und auf Basis eines veralteten tradierten Bildungs- und Leistungsverständnisses."
„Was davon alles zu kurz greift, schon längst an den Schulen gemacht wird oder auf wissenschaftlich fundierter pädagogischer Basis schlicht falsch ist, das interessiert nicht.“
Weitere Stimmen zum Thema
Helmut Klemm im Wortlaut gegenüber dem Merkur:
Zum Argument, unangekündigte Tests würden auf das Arbeitsleben vorbereiten: "Haarsträubender Blödsinn: Niemand ist permanent unvorhersehbaren Drucksituationen ausgesetzt. Man arbeitet entweder in Routinen oder in Teams."
"...eine altmodische, rückwärtsgewandte und lächerliche Diskussion. Wir reden davon, die Bedeutung von Noten zu reduzieren, weil sie so subjektiv sind und, dass wir Schülerinnen und Schüler gezielt fördern müssen. Wir brauchen eine andere Kultur von Leistung und Leistungsnachweisen.“
„Im Bereich der Mittelschule kennen wir das nicht. Wir machen das nicht, weil wir es pädagogisch für falsch halten, mit solchen Leistungen zu Noten zu kommen.“
Zum eigenen Erleben unangekündigter Tests: "Das hat mich maßlos gestresst und genervt."