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„Es ist Zeit, über ein neues Leistungsverständnis zu sprechen“

Debatte um die Petition, Ausfragen und Exen abzuschaffen: BLLV-Präsidentin Fleischmann stellt klar, dass entscheidende Kompetenzen mit diesen Formaten nicht abgefragt werden können. BLLV-Experten kommentieren im Detail. UPDATE 19.9. nach Aussagen von MP Söder.




Die meisten werden sich aus der eigenen Schulzeit daran erinnern, die wenigsten mochten es: Alle Unterrichtsmaterialien zur Seite legen, jetzt kommt eine Ex. Oder statt der berüchtigten Extemporalen bzw. Stegreifaufgabe das Zitieren nach vorne um über die Inhalte der vergangenen Stunden Rechenschaft abzulegen, sprich ausgefragt zu werden. Sind diese Formate der Leistungsrückmeldung eigentlich noch zeitgemäß und pädagogisch sinnvoll?

Die 17-jährige Amelie aus München findet das nicht und hat deswegen eine Petition gestartet, die eine Abschaffung von Exen und Abfragen fordert. Denn diese lösen bei vielen Schülerinnen und Schülern „Stress und Panik“ aus, dabei brauche es „Freude am Lernen ohne tagtäglich dem Druck von möglichen unangekündigten Tests ausgesetzt zu sein“ um wirklich Erfolge zu erzielen. Denn wer nur für diese Formate unter Druck und aus Angst auswendig lerne, vergisst das Ganze sofort wieder, das sei „nicht nachhaltig“. 9.000 Unterschriften hat die Petition inzwischen, darunter prominente Unterstützer auch aus den Erziehungswissenschaften.

Leistungsbereitschaft positiv verstärken

Der BLLV sieht Leistungsrückmeldung, die aufs reine Reproduzieren ausgelegt ist, schon lange kritisch. Er fordert mit Blick auf entsprechende Erkenntnisse aus den Erziehungswissenschaften stattdessen prozessorientierte Formate, die individuelle Fortschritte fokussieren, um so eine motivierende Lernatmosphäre zu schaffen, die nachhaltige Bildungserfolge ermöglicht. BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann beschreibt das im Gespräch mit der Abendschau im Bayerischen Rundfunk über die Petition so: „Es gibt einen wunderbaren Satz, der heißt ‘Catch him by being good‘. Das wäre der Auftrag von Schule, Kinder zu erwischen – im positiven Sinne – wenn sie gut sind. Wann kannst du etwas leisten? Wann bist du gut drauf? Zeig mir, was du kannst! Natürlich gibt es dann auch Dinge, die Kinder nicht können. Da kommen wir dann schon hin. Aber man sollte erstmal bei etwas Positivem anfangen.“

Der Bayerische Elternverband ist ebenfalls der Meinung, dass unangekündigte Tests „eine positive Fehlerkultur an Schulen untergraben“. Auch der Bayerische Philologenverband sieht die Schülerperspektive und die Forderung nach weniger Druck. Der Vorsitzende Michael Schwägerl spricht gegenüber dem BR aber von „einer Gesellschaft, die leistungsbetont ist.“ Nach der Schule würden auch „unangekündigt Situationen entstehen, in denen ich Leistung bringen muss.“


Präsentation ohne Vorlaufzeit? Im Arbeitsleben höchst selten…

Allerdings gibt es im Arbeitsleben tatsächlich wenig Situationen, in denen unangekündigt und spontan schriftlich etwas zu erbringen ist. Auch mündliche Formate wie Präsentationen oder Vorträge haben üblicherweise eine gewisse Vorlaufzeit.

Aus Sicht von Simone Fleischmann kommt es für die Zeit nach der Schule ohnehin auf etwas ganz anderes an. Mit Blick auf eine Arbeitswelt, die sich viel schneller und kontinuierlich dynamisch wandelt, sagt sie im Gespräch mit BR24: „Schule muss jungen Menschen soziale und emotionale Kompetenzen an die Hand geben. Diese lassen sich nicht durch Exen abfragen.“

Offener Dialog

Deswegen setzt sich Fleischmann auch als Vorsitzende des Forums Bildungspolitik in Bayern für einen breiten Dialog ein: "Es ist an der Zeit, dass wir über ein neues Leistungsverständnis in unseren Schulen sprechen“, regt sie gegenüber dem Münchner Merkur an.

Dabei ist sie sich allerdings bewusst, dass die Beharrkräfte in Bayern enorm sind – auch wenn Kultusministerin Stolz zu Schuljahresbeginn angekündigt hat, Anzahl und Formate von Leistungsrückmeldungen auf den Prüfstand stellen zu wollen. Zur Petition ließ das Kultusministerium verlauten, dass Schulen grundsätzlich freie Hand hätten, ob sie unangekündigte Leistungsnachweise durchführen wollen oder nicht, da diese nicht verpflichtend seien.

Kinder ins System pressen oder bestmöglich fördern?

Amelie, die Initiatorin der Petition, wünscht sich allerdings einen weiteren Schritt, nämlich ein Verbot dieser Formate.

Auf die Frage nach den Erfolgschancen sagt Simone Fleischmann im Gespräch mit Bayern 1: „Wir beobachten das. Wir glauben aber, dass Bayern noch nicht so weit ist, dazu jetzt eine Entscheidung von oben zu treffen. Weil das würde nämlich bedeuten: Wir gehen auf die Schüler zu und Schule würde sich der Mentalität, dem Können und der Motivation der Kinder anpassen – und nicht andersherum. Momentan müssen sich die Kinder nämlich dem System anpassen. Aber das ist eigentlich falsch.“
 

Kommentare


Es geht nichts verloren - außer der Angst der Schülerinnen und Schüler...

Kommentar von Roland Kirschner, Leiter der Fachgrupe Gymnasium im BLLV


"Die – vorsichtige – Ankündigung der Kultusministerin, über das Ankündigen von Leistungsnachweisen diskutieren zu wollen, geht in die richtige Richtung. Überfallartige Stegreifaufgaben und Rechenschaftsablagen sollten schon lange der Vergangenheit angehören.

Dass in der Schule Lern- und Prüfungsphasen sichtbar voneinander getrennt sein sollen, um nachhaltiges Lernen zu ermöglichen, ist bekannt. Auch die Schulordnungen gehen zumindest verschämt darauf ein, indem sie der Lehrerkonferenz einräumen über prüfungsfreie Zeiten zu entscheiden. Dies wird in den meisten Schulen dann so umgesetzt, dass die Woche vor den Weihnachtsferien oder die Freitage vor Oster- und Pfingstferien „prüfungsfrei“ sind.

Außerhalb dieser Zeiten kann aber jederzeit unangekündigt eine Prüfung drohen: In Form einer Stegreifaufgabe oder als „Rechenschaftsablage“ (also Ausfragen). Die Schülerinnen und Schüler sind daher gezwungen, immer alles sofort verstehen und anwenden zu können. In der nächsten Stunde nachfragen? Schon möglich, aber nicht, wenn eine Ex geschrieben wird oder man an die Tafel muss. Dass so etwas nicht lernförderlich ist, liegt auf der Hand.

Gelegentlich wird argumentiert, in einer Leistungsgesellschaft entstünden eben Situationen, in denen man unangekündigt Leistung erbringen muss. Das stimmt. Im Normalfall muss ich aber unangekündigt Leistungen erbringen, in denen ich Expertise und Kompetenz habe – und nicht, während ich sie noch aufbaue und entwickle. Und eine unangekündigte Englisch-Ex bereitet mich sicherlich nicht darauf vor, später im Beruf spontan ein Telefonat auf Englisch führen zu müssen.

Manche befürchten, die Schülerinnen und Schüler würden nichts mehr lernen, wenn Stegreifaufgaben angekündigt werden. Unabhängig davon, dass dieses Argument ein seltsames Verständnis von Schule zeigt: Als jemand, der seit Jahren nur noch angekündigte Tests schreibt, kann ich sagen: Stimmt nicht. Das Lernverhalten der Schüler:innen ändert sich dadurch nicht. Auch die Angst, die Noten würden dadurch zu gut werden, kann ich (leider) nicht bestätigen. An den Noten ändert sich auch nichts.

Wenn ich recht nachdenke, ändert sich eigentlich wirklich nichts, wenn man auf überfallartiges Benoten verzichtet. Nur eines: Die Schülerinnen und Schüler können mit weniger Angst in die Schule gehen. Und alleine das sollte für Pädagoginnen und Pädagogen ein ausreichender Grund sein, auf unangekündigte Leistungsnachweise zu verzichten."

<< Roland Kirschner, Leiter der Fachgruppe Gymnasium


Die "angekündigte Ex" - es ist kompliziert...

Kommentar von Tobias Schreiner, Leiter der Fachgruppe Realschule im BLLV

Jetzt ist das Thema ganz oben angekommen: "Exen und Abfragen werden natürlich bleiben", zitiert BR24 den Ministerpräsidenten und versteht das zugleich als ein "Einbremsen" der Initiative der zuständigen Ministerin. Zugleich wird in den Artikeln mit Verweis auf das Ministerium argumentiert, dass schon heute Lehrkräfte auf unangekündigte Leistungsnachweise verzichten könnten.

Und da wird es ein bisschen kompliziert:

In Bayern ist das meiste, was Schule betrifft, recht kleinteilig geregelt, in vielen Verordnungen, ministeriellen Erlässen und Schreiben. Es war (zu Corona-Zeiten) der Ministerpräsident selbst, der das geflügelte Wort von der "KMS-Exegese" prägte, die Schulleitungen betreiben müssten, um das ausführliche Regelwerk selbst zu verstehen. Das muss, legt man dieser Tatsache nicht Regulierungswut, sondern ein Bemühen um Gleichbehandlung zugrunde, ja auch nicht unbedingt schlecht sein (wenngleich Lehrkräfte, die aus anderen Bundesländern nach Bayern wechseln, meist sehr irritiert sind, wie kleinteilig insbesondere die Erteilung von Noten an unseren Schulen geregelt ist).

Bisweilen treibt diese Kleinteiligkeit aber auch bemerkenswerte Blüten, die in der aktuellen Debatte weitreichende Auswirkungen haben:

So regelt §23 der gymnasialen Schulordnung, dass schriftliche Leistungsnachweise "insbesondere Kurzarbeiten, Stegreifaufgaben, fachliche Leistungstest und Praktikumsberichte" sind. Der entsprechende §17 der Schulordnung für die Realschulen hingegen lautet: "Kleine Leistungsnachweise sind Kurzarbeiten, Stegreifaufgaben, sowie mündliche und praktische Leistungen."

Beide Schulordnungen schreiben weiter vor: "Stegreifaufgaben werden nicht angekündigt."

Jetzt macht ein kleines Wörtchen einen großen Unterschied: Das "insbesondere" erlaubt es den gymnasialen Lehrkräften nämlich, auch andere als die genannten kleinen Leistungsnachweise zu schreiben - und tatsächlich gibt es durchaus Gymnasien, die das für sich so entschieden haben und somit auf unangekündigte Leistungsnachweise komplett verzichten - mit großem Erfolg übrigens, insbesondere auch, was die Ergebnisse beim Abitur betrifft (wenig überraschend, weil: Es geht nichts verloren - außer der Angst der Schülerinnen und Schüler).

Den Realschulen steht diese Möglichkeit nicht offen; hier regelt die Schulordnung die Art der kleinen Leistungsnachweise abschließend; die "angekündigte Ex" gibt es nicht.

Solche Unterschiede sind nicht nachvollziehbar; das kann man weder Lehrkräften noch Eltern oder Schülern erklären.

Anstelle nun also per Petition ein Verbot von Leistungsnachweisen irgendeiner Art zu fordern oder wiederum per Machtwort jedes Bemühen um Innovation im Bereich der Prüfungsformate von vornherein abzubügeln, wäre es notwendig, zunächst genau hinzuschauen, was eigentlich geht und was nicht. Und dann ist es Zeit, den Schulen und den Lehrkräften mehr zuzutrauen, ungleiche Regelungen abzuschaffen und im Zuge der Entbürokratisierung den pädagogischen Freiraum und die Autonomie an den Schulen zu erweitern - gerade auch im Bereich der Prüfungen und der Notenbildung.

<< Tobias Schreiner, Leiter der Fachgruppe Realschule


Medienberichte

Simone Fleischmann im Wortlaut bei Spiegel online:

"Wir testen nicht, wie kompetent ein Jugendlicher das Periodensystem in Chemie anwenden kann. Im Grunde testen wir, ob Kinder so mit ihrer Angst umgehen können, dass sie trotzdem Höchstleistungen bringen können."

"Leistung spielt in der Debatte rund um das bayerische Schulsystem seit jeher eine große Rolle. Aber wenn Leistung und Angst zusammentreffen, können Schülerinnen und Schüler nicht gut lernen."

"Das halte ich für nicht mehr zeitgemäß. Es braucht keinen zusätzlichen Druck: Wir verlieren nichts, wenn Kinder die Angst verlieren."