Die viel diskutierte und umstrittene PISA-Offensive der bayerischen Kultusministerin Anna Stolz (FW) wird ab diesem Schuljahr umgesetzt. Als Reaktion auf die schlechten Ergebnisse bei der letzten PISA-Studie wird in Bayern nun eine neue Stundentafel an den Grundschulen eingeführt. Diese sieht mehr Unterrichtszeit für Deutsch und Mathematik vor, während Fächer wie Kunst, Musik, Werken und Gestalten sowie Englisch gekürzt wurden.
Die Kernkritikpunkte des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbands (BLLV) bleiben unverändert:
Eine Politik, die Bildung auf Kernfächer reduziert und dabei die musisch-kreativen und sprachlichen Kompetenzen vernachlässigt, läuft Gefahr, den eigentlichen Kern der Bildung aus den Augen zu verlieren. Eine ganzheitliche Bildung, die alle Aspekte der kindlichen Entwicklung fördert, ist der Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft. Für eine ganzheitliche Erziehung, die Kinder zu selbstbestimmten, verantwortlichen Menschen formt, darf kein Fach wegfallen.
Persönlichkeitsentwicklung fördern statt erschweren!
Stattdessen fordern wir eine Erhöhung der Stundentafel, um eine umfassendere Förderung der Kinder zu gewährleisten. Kreative Fächer wie Kunst, Musik und Werken sind essenziell für die Persönlichkeitsentwicklung, vor allem da eine Förderung in diesem Bereich oft nicht mehr zu Hause erfolgt. Auch der Englischunterricht, der bereits eine große Rolle für die Sprachkompetenz und das Selbstbewusstsein der Kinder spielt, sollte viel früher beginnen – idealerweise schon in der 1. Klasse. Studien haben bewiesen, dass sich der frühe Englischunterricht nachhaltig bis in die 9. Jahrgangsstufe hinein positiv auf die Leistungen auswirkt. Nur so wird die Vielfalt der Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler optimal gefördert.
Aber wenn man sich auf der Website des Kultusministeriums zur PISA-Offensive informiert, könnte man meinen, dass diese Kritik an der Sache vorbeigeht.
Das KM betont, dass alle Fächer erhalten bleiben und kein Fach gestrichen wird. In ihrer Pressekonferenz zum Schulstart betonte die Kultusministerin auf Nachfrage, dass sie auch weiterhin nicht über Kürzungen sprechen möchte, sondern die Stundentafel „flexibilisiert“ wurde.
Es wird ein gemeinsamer Stundenpool für Kunst, Musik und Werken in der 3. und 4. Klasse eingeführt, und die Schulen dürfen selbst entscheiden, wie sie die Stunden verteilen. Heißt: Schulen sollen mehr Spielräume haben, um lokal Schwerpunkte zu setzen und dabei den ganzheitlichen Bildungsansatz zu wahren. Zusätzlich gibt es mehr Flexibilität bei der Förderung. Klingt nach einer guten Lösung? Auf den ersten Blick ja – doch in der Praxis zeigen sich erhebliche Probleme.
„Flexibilisierung“ heißt in Wahrheit versteckte Kürzung
Schaut man sich die neue Stundentafel an, stellt man fest, dass der gemeinsame Stundenpool für Kunst, Musik und Werken in den Jahrgangsstufen 3 und 4 mit vier bis fünf Wochenstunden angegeben wird. Bei Englisch wird auch ein Spielraum gewährt mit einer bis zwei Wochenstunden. Doch die maximale wöchentliche Stundenanzahl in beiden Jahrgangsstufen von je 28 Stunden kann nur dann erreicht werden, wenn bei beiden(!) Spielräumen der untere Stundenwert gewählt wird.
Das ist eine versteckte Kürzung, welche auch nicht durch die eine Flexible Stunde ausgeglichen werden kann, die es vorher in Form der Flexiblen Förderung ohnehin schon gab. In der vorherigen Stundentafel der Grundschulen umfassten Kunst, Musik und Werken insgesamt mindestens fünf Stunden wöchentlich, Englisch zwei. Was bringt eine Flexibilisierung, wenn man nur auf den vorgegebenen Maximalwert kommt indem man die verkürzte Option wählt?
Schulleitung als Sündenbock?
Auch Verantwortungsabwälzung auf die Schulleitungen führt dazu, dass in der Praxis die Kürzungen von kreativen Fächern unausweichlich sind, da die Priorisierung von Deutsch und Mathematik aus einem festen Stundenpool erfolgen muss.
Die Flexibilisierung der Stundentafel, die offiziell als Chance der Schwerpunktsetzung für die Schulen dargestellt wird, bedeutet in der Praxis, dass Schulen und Lehrkräfte mit den realen Konsequenzen der Umverteilung konfrontiert sind. Die Verantwortung wird auf die Schulleitungen übertragen, ohne dass die nötigen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Besonders in den musisch-kreativen Fächern fehlt es oft an Lehrkräften. In solchen Fällen bedeutet Flexibilisierung, dass diese Fächer de facto wegfallen. Dabei haben gerade diese Fächer einen unschätzbaren Wert für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder.
So wird Bildung noch ungerechter
Besonders bedenklich ist, dass Kinder aus weniger privilegierten Verhältnissen dadurch benachteiligt werden. Sie sind häufig auf den schulischen Unterricht in kreativen Fächern angewiesen, da ihre Familien nicht die finanziellen Mittel oder die Möglichkeiten haben, private Förderung in Bereichen wie Musik, Kunst oder auch Fremdsprachen zu finanzieren. Dahingehend verschärft die PISA-Offensive die bestehende Bildungsungerechtigkeit statt sie zu beheben.
Wir brauchen eine klare Stärkung der Grundschulen, denn diese legen die wichtigen Grundlagen der Bildung. Dafür brauchen wir eine Ausweitung der Stundentafel, Englischunterricht bereits ab der 1. Klasse und viel mehr individuelle Förderung, z. B. durch multiprofessionelle Teams. Eine ganzheitliche und zeitgemäße Bildung ist der Schlüssel für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Wir im BLLV bleiben für sie dran.
<< Antje Radetzky, Leiterin der Abteilung Berufswissenschaft im BLLV
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Das bedeutet die „Flexibilisierung“ der Stundentafel in der PISA-Offensive wirklich
Fächer, die wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung sind, werden gekürzt, Verantwortung wird auf Schulleitungen abgewälzt. BLLV-Expertin Antje Radetzky sieht die PISA-Offensive kritisch und fordert einen pädagogisch fokussierten Ausbau der Grundschul-Stundentafel.