„Wir müssen bei vielen Kindern ganz von vorne anfangen“

„Wir haben versucht, von allen Seiten Lehrer zu bekommen.“ So schildert Claudia Decker, BLLV-Mitglied und Rektorin der Franziska-Hager-Grundschule in Prien im Gespräch mit OVB online die Folgen daraus, dass das Kultusministerium zwar viele Stellen geschaffen hat, um den akuten Lehrermangel zu bekämpfen, diese Stellen aber oft gar nicht mit Menschen besetzen konnte, weil schlicht kein qualifiziertes Personal zu finden ist.

Und so sehen sich viele Schulleiterinnen und Schulleiter vor der undankbaren Aufgabe, irgendwie selbst Menschen zu finden, die vor den Klassen stehen können. „Im schlimmsten Fall kommt’s drauf an, wer halt ein gutes Lasso hat“, schildert BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann die absurde Gemengelage.

Die Lage ist eskaliert

Claudia Decker weiß, dass sie dabei noch Glück hatte: „Heuer arbeiten wir sogar mit zwei studierten Lehrkräften, die in Rumänien und der Ukraine ihr Examen gemacht haben, aber fließend Deutsch sprechen. Die gute Nachricht: Wir konnten so alle Klassen mit Lehrern besetzen, wir müssen keine Stunden ausfallen lassen.“

Das ist beileibe nicht die Regel: Immer häufiger stehen nicht grundständig pädagogisch ausgebildete Personen vor bayerischen Klassen, die aus Personalmangel auch immer größer werden.

Defizite sind zuallererst soziale

Dabei ist der pädagogische Bedarf nach Corona und mit den zu integrierenden Kindern und Jugendlichen aus der Ukraine besonders hoch: „Gerade die Kleinen waren davon betroffen, weil sie die Situation nicht so gut kompensieren konnten“, schildert Rektorin Claudie Decker. „Es gab wochenlang nur Videokonferenzen als Ersatzunterricht. Davon sind einige Schüler regelrecht vereinsamt, weil das in ihrer Familie aus verschiedenen Gründen nicht aufgefangen werden konnte.“

Das hat nun spürbare Folgen: „Es gab einige Fälle, in denen es unter Schülern nicht nur einen gröberen Umgangston gab, sondern auch Prügeleien“, berichtet Decker und stellt klar, was das pädagogisch bedeutet: „Das bedingt, dass wir dort wieder mit der Basisarbeit anfangen.“

Raus aus der Opferrolle

Dafür wären eigentlich besonders Aktivitäten wichtig, deren Streichung das Kultusministerium als Option mit dem Unwort „Kürzungen bei Randstunden“ nahelegt. Betroffen sind hier Fächer wie Musik, Kunst oder Sport, die nach dem ganzheitlichen Bildungsverständnis des BLLV essenziell für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen sind. „Zusätzliche Arbeitsgruppen, um ein Profil zu schärfen, oder mit den Kindern zum Beispiel die Themen Demokratie oder Umwelt zu bearbeiten oder Theater und Musik zu machen – das alles ist nicht mehr möglich“, muss Claudia Decker auch für die Grundschule in Prien zu ihrem Leidwesen einräumen.

Daher gibt sie auch für den „normalen“ Unterricht ein klares Ziel aus: „Wir wollen vor allem bei den sozialen Kompetenzen wieder von vorne anfangen, um die Kinder dort abzuholen, wo sie gerade stehen. Wir wollen ihnen das Gefühl der Geborgenheit geben, aber andererseits auch die Fähigkeiten, ihre Wünsche zu artikulieren. Dass sich die Kinder sozusagen wieder als aktiv erleben, und nicht nur als Opfer dieser Situation.“

Es gibt eben keine „Randstunden“

Dabei geht es letztlich um deutlich mehr als nur um Krisenbewältigung: „Wir sind eine Modellschule für soziales Lernen, für Demokratie“, stellt Claudie Decker klar. „Das heißt, dass wir uns auf den Weg machen, zu prüfen, wie können wir die Kinder einbringen, wie können sie selbst wirksam sein, wie können wir die Basis für Demokratie legen.“

Aus Sicht des BLLV ist es daher höchst bedenklich, wenn in Krisensituationen im Zweifel genau das als Erstes unter die Räder kommt, was eine Gesellschaft auf lange Sicht stabil und zukunftsfähig macht. Hier ist die Politik gefordert, ihre Prioritäten anzupassen.

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