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„Wir brennen für die Schule der Zukunft“

Im ausführlichen Gespräch über Bildung in Bayern bei München.TV schildert BLLV-Präsidentin Fleischmann die komplexe Lage an bayerischen Schulen und welche Weichen die Politik stellen muss, damit Kinder und Jugendliche fit für eine sich rasant verändernde Welt werden.

„Braucht unser bayerisches Schulsystem eine Reform?“, fragt Moderatorin Monika Eckert auf München.TV zum Auftakt eines intensiven Austauschs mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann über die aktuelle Lage an den Schulen im Freistaat.

Fleischmann stellt klar, dass es dafür angesichts fast täglich zunehmender Erwartungen zunächst ein gesamtgesellschaftliches Verständnis braucht, was Schule eigentlich leisten soll: „Was ist denn die Aufgabe von Schule? Wir wollen natürlich, dass die Kinder lesen, rechnen und schreiben lernen. Es kommen aber noch viele Aufgaben hinzu. Wir würden wahnsinnig gern eine demokratische Gesellschaft stabil halten – oder wieder stabil machen, das heißt: Kinder zu Demokraten und gewaltfreien Bürgerinnen und Bürgern erziehen. Wir würden gerne Medienkompetenz in den Kindern anlegen. Wir würden Kinder gerne in ihrer Persönlichkeitsentwicklung fördern. Sie brauchen eine ganzheitliche Bildung. Es gibt also viele unterschiedliche Erwartungen der Gesellschaft, die Schule erfüllen soll.“

Kinder lernen durch Vorbilder – auch durch schlechte…

Damit das auch nur ansatzweise möglich ist, fordert die BLLV-Präsidentin angesichts des eklatanten Lehrkräftemangels klare Schwerpunkte. Denn die fehlen derzeit: „Daher kommt dieses Gefühl der Überforderung des Systems an sich, aber auch der einzelnen Kollegin oder des einzelnen Kollegen“, erläutert Fleischmann.

Die zunehmende Gewalt an Schulen macht der BLLV-Präsidentin dabei besonders große Sorgen. Zudem die Ursachen dafür offenkundig außerschulisch sind: „Es ist eine Verrohung in der Gesellschaft zu spüren, in den Worten, aber auch in den Taten. Die Welt da draußen ist verrohter gewalttätiger, aggressiver geworden. Kinder lernen eben auch am negativen Vorbild bei wichtigen Fragen: Wie versuche ich, einen Konflikt zu lösen? Was macht die Mama, wenn sie nicht mehr weiterweiß? Wie reagiert der Papa, wenn er in eine schwierige Situation kommt? Was machen Politiker, wenn sie merken, dass es nicht mehr weitergeht? Ich erlebe im bayerischen Landtag Politikerinnen und Politiker – nicht nur einer Fraktion –, die sich ein bisschen weit über die Grenzen bewegen in Worten. Dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn Kinder das aufnehmen.“

Schlüsselkompetenzen: Andere Meinungen aushalten, Kompromisse finden

Weil die gesellschaftliche Eskalationsbereitschaft unvermeidlich in die Schulen schwappt, sorgt das dort für massive Probleme, schildert Fleischmann: „Wir müssen in der Schule ein friedvolles Miteinander hinkriegen. Die Mama, der Papa möchte gerne, dass das Kind in einem behüteten Raum aufwächst, dass es nicht geschlagen wird, nicht gebissen wird, dass es zu keinen Gewalttaten in der Schule kommt.“

Dafür ist Prävention enorm wichtig, betont die BLLV-Präsidentin: „Wir müssen zeigen: Wie reden wir ordentlich miteinander? Wie lassen wir andere ausreden? Wie können wir aber auch einen Konflikt austragen? Wir dürfen doch auch mal unterschiedlicher Meinung sein. Wie geht das denn? Wie geht denn Demokratie? Wie kann man partizipieren? Wie können wir Kinder zu Menschen erziehen, die tolerant und respektvoll sind?“


Besonders Konfliktlösung braucht Vorbilder

Dafür reicht es aus Fleischmanns Sicht bei Prügeleien im Pausenhof eben nicht, dem Opfer ein Pflaster und dem Täter einen Verweis zu geben. Sondern es geht um Ursachenforschung: „Ich war 15 Jahre lang Schulleiterin und habe Psychologie im Hauptfach studiert. Ich habe nach solchen Vorfällen oft gedacht: ‘Okay, Simone, wenn ich das erleben würde, was dieses Kind täglich an Krisen zu Hause erlebt, wüsste ich nicht, ob ich hier Schulleiterin sein kann.‘ Wir entdecken sehr häufig, dass diese Täter Opfer im System sind, dass sie zu oft erlebt haben, sie gehören nicht dazu, sie werden aussortiert, keiner mag sie. Wir haben Kinder, da bist du die einzige verlässliche Bezugsperson, die um 7:30 auf das Kind wartet und den Geburtstag mit dem Kind feiert. Weil die Mama war nicht zu Hause, Papa gibt es gerade keinen. Dass diese Kinder nicht so ausgeglichen sind, nicht so resilient sind, nicht so schön kommunizieren können, das ist oft zu verstehen.“

Trotzdem gilt an Schulen bei kriminellen Handlungen das Null-Toleranz-Prinzip, stellt Fleischmann klar: „Wenn tätliche, gewalttätige, hartnäckige, physische Übergriffe in der Pause passieren, dann musst du auch Anzeige erstatten. Dann musst du den Jugendpolizisten rufen, dann musst du den Disziplinarausschuss einberufen, dann musst du mit den Eltern reden.“

Ohne Bindung und Selbstvertrauen kein Lernerfolg

Das Thema Gewalt sieht Fleischmann aber auch als eins der deutlichsten Symptome für den Mangel an Chancengleichheit in der Bildung in Bayern: „Wir sind Pädagogen geworden, weil wir mit Kindern zusammen die Welt erkunden wollen. Das ist jetzt sehr blumig gesagt, aber ich wollte deswegen Lehrerin werden, weil ich mit Kindern Wege gehen wollte. Ich wollte die Kinder für das Leben von morgen vorbereiten. Ich wollte sie fit machen in Mathematik, in Deutsch, in Englisch. Aber ich wollte ihnen auch zeigen, wie man sich einbringen kann. Die zentrale Frage ist wirklich, warum es uns eben nicht gelingt, Unterschiede, die Kinder mit sich bringen, die Familien mit sich bringen, die das Leben mit sich bringt, in der Schule auszugleichen. Wenn wir sehen: Hier ist ein Kind, das den ganzen Tag am Wochenende auf sich allein gestellt ist, das nie einen Ausflug macht, das keine Bindung an die Eltern hat, das nie erlebt: Ich kann was, ich bin ein guter Mensch, ich werde geliebt. Wie soll dieses Kind den Pythagoras schnallen? Wie soll es Hausaufgaben machen? Wie soll es auf eine Schulaufgabe lernen?“

Die pädagogische Antwort liegt eigentlich auf der Hand, sagt die BLLV-Präsidentin: „Wir könnten das mit unserer Ausbildung: jedes Kind abholen und individuell fördern. Wenn wir aber jeden Tag alleine vor 26 Kindern sind und dann noch zwei autistische Kinder dabei sind, drei Kinder, die nicht Deutsch sprechen, und vielleicht drei oder vier hochbegabte Kinder, dann ist die Heterogenität zu groß, die Ansprüche der Kinder zu bunt, als dass ich das alleine parieren könnte.“

Auf jedes einzelne Kind schauen

Hier lohnt für Fleischmann der Blick in Länder, die in Sachen Bildungsgerechtigkeit deutlich besser dastehen: „Der einzige Schlüssel zum Erfolg in diesen Ländern, die in dem Bereich Sieger sind, die also Bildungsungerechtigkeit sehr gut ausgleichen, ist die individuelle Förderung, die Kleingruppe. Du gehst mal in den Kurs in Mathematik oder dir wird geholfen, überhaupt Deutsch zu lernen. Dafür brauchen wir eine wesentlich bessere Schüler-Lehrer-Relation. Mehr individuelle Lernzeit für das einzelne Kind mit uns Lehrerinnen und Lehrern oder mit ergänzenden Kräften. Wenn wir Defizite feststellen, dann hätten wir gern zusätzliches Personal. Wir hätten gerne eine kleine Gruppe, in die man das Kind schicken kann, einen Beratungslehrer, einen Schulpsychologen, einen Förderlehrer.“

Eine wichtige Rolle spielen aber auch Eltern, besonders beim Agieren ihrer Kinder in digitalen Räumen. Denn schulische Verbote lösen die drängenden Fragen dabei nicht, stellt Simone Fleischmann klar: „wir werden gesellschaftliche Entwicklungen nicht durch Verbote stoppen. Man muss das umdrehen und fragen: Wie kannst du kompetent damit umgehen? Gefällt dir das? Was ist denn altersgemäß? Die Eltern müssen mit den Kindern reden, wir brauchen die Eltern an unserer Seite. Wenn ich als Mama und als Papa merke, da stimmt doch irgendwas nicht, der ist die ganze Nacht auf dieser Plattform, der spielt die ganze Nacht, der macht Fotos – dann muss das besprochen werden. Eltern müssen sich einmischen in die Art und Weise, was kommuniziert wird, wie viel Zeit und wie intensiv Kinder auf einer Plattform sind. Wenn ich merke, mein Kind ist verstört und ist unglücklich, dann muss ich nachfragen und dann kann ich auch mit der Lehrerin darüber reden.“


Medienkompetenz vermitteln statt Verbote erlassen

Statt Verboten geht es aus Sicht der BLLV-Präsidentin also um die erzieherische und pädagogische Begleitung. Für Letztere ist Medienkompetenz entscheidend, sei es in Fragen von Netzwerken wie TikTok oder auch im Umgang mit Künstlicher Intelligenz: „Wir brauchen medienkompetente Kinder, die sich in diesem Dschungel der Möglichkeiten orientieren können“, betont Fleischmann. „Das ist der Anspruch, den wir an Schule haben. Wenn jetzt die KI die Hausaufgabe macht, dann ist das übrigens kein Beinbruch. Früher hat halt vielleicht der Opa die Hausaufgabe gemacht oder das Referat hat die Mutter gemacht. Jetzt macht halt die KI das Referat oder den Aufsatz. Aber dann beginnt die eigentliche Denkleistung, indem die Lehrkraft nachfragt: Sag mal, was hast du da geschrieben? Erklär mal! Damit beginnt die Denke über das Wissen – und das ist viel stärkeres Lernen und viel besseres, kompetenzorientiertes Lernen, als wenn man etwas auswendig Gelerntes wiedergibt.“

Darum greifen Simone Fleischmann die Maßnahmen, mit denen versucht wird, auf die Ergebnisse der letzten PISA-Studie zu reagieren, auch entschieden zu kurz: „Ich habe noch keinen getroffen, der nicht verstanden hat, dass Lesen, Rechnen und Schreiben die Kernkompetenz und die grundlegende Kompetenz ist, für alles, was später kommt. Wir müssen also reagieren – aber nicht zulasten der ganzheitlichen Bildung!“

Motivation ist der beste Lehrer

Denn gerade die Fächer, zu deren Lasten die zusätzlichen Stunden gehen, sind wichtig für Zukunftskompetenzen, die PISA eben nicht gemessen hat: „Musik, Kunst, Sport, kreative Fächer, in denen ich auch mal merke: ‘Hey, ich kann schon was. Ich war jetzt in Mathe nicht so gut, aber ich bin ein starker Fußballer und die anderen finden mich saucool‘. Ich habe als Lehrerin selber erlebt, wenn ein Kind im Sportunterricht ein Tor geschossen hat, und die anderen ihn abgeklatscht haben. Der hatte nachher in der Mathematikprobe eine bessere Note. Deshalb kämpfen wir dafür, dass nicht weniger Stunden in der Grundschule sind, dass nichts gestrichen wird. Wir sind im nationalen Vergleich mit der Anzahl der Stunden an der Grundschule eher im unteren Drittel. Das gehört aufgestockt, damit die Kinder mehr Chancen haben. Es soll ja auch Richtung Ganztag darum gehen, in der Grundschule lesen, rechnen, schreiben zu lernen – aber bitte auch musizieren, Theaterspielen und eine Schach-AG haben!“

Pädagogischen Profis ist dabei ohnehin klar, dass Lernerfolg direkt abhängig von der Lernmotivation ist, wie BLLV-Präsidentin Fleischmann schildert: „Wir müssen schauen, dass junge Menschen Lust haben, zu lernen. Die Erstklässler fressen uns am ersten Schultag noch die Haare vom Kopf. Diese Lust und dieses Engagement, die Motivation, die Kinder haben, die lässt dann aber nach: Je länger die Kids in die Schule gehen, desto weniger wird es. Das müsste aber genau andersherum sein, im Sinne von: Ich will die Welt erkunden, ich will wissen, was in der Welt los ist! Was ist denn mit diesem Krieg? Was ist denn mit der Nachhaltigkeit? Wie ist denn das mit der Klimakrise? Was passiert denn hier in anderen Staaten, in denen die keine Demokratie haben?“

Bestärken statt Abwerten

Für langanhaltende Motivation ist aus Sicht des BLLV auch der im bayerischen Schulsystem tief verankerte Leistungsbegriff mit der Fokussierung ausschließlich auf Ziffernnoten wenig hilfreich. „Wir sind dafür, dass man Noten reduziert gibt und zusätzlich andere Rückmeldungen, in denen Stärken, Schwächen, Analysen, sehr viel Verbalgutachten und sehr viel Prozessorientierung betont wird“, sagt Simone Fleischmann im Interview.

„Es gibt in Bayern schon einen sehr antiquierten, sehr auf Ellenbogen ausgerichteten Leistungsbegriff. Wir glauben, dass man stattdessen einen ganzheitlichen Lernbegriff bräuchte, eine Veränderung der Leistungskultur. Das bedeutet dann auch, dass ich einem Kind mal anders zurückmelde: ‘Das hast du heute super gemacht. Hey, komm, darüber hältst du morgen ein Referat. Du warst im Urlaub in Schweden? Da hast du etwas über die Natur in Schweden gelernt. Willst Du darüber einen Vortrag halten?‘ So etwas ist ein Ereignis für ein Kind. Und dann kriegt es dafür eine Rückmeldung und anstatt einer Note in einer Schulaufgabe.“


Demokratie ist kein Lernhäppchen sondern eine Lebensaufgabe

Überhaupt braucht es für die Herausforderungen, auf die Schule in dieser Zeit Antworten bieten muss, zeitgemäße Formate. Deswegen sieht der BLLV die geplante Verfassungsviertelstunde auch hinsichtlich des gewählten Formats kritisch, wie BLLV-Präsidentin Fleischmann anschaulich erläutert: „Ein Mensch, der sich in der Demokratie orientieren soll, muss verstehen, was Demokratie ist. Wie funktioniert eine Demokratie? Welche Staatsformen gibt es außerdem? Warum finden eigentlich alle diese Demokratie so toll? Das kann ich lernen – aber nicht, indem ich eine Schulaufgabe schreibe und eine vier kriege, sondern das müssen wir in der Schule leben: Mitbestimmung! Partizipation! Wir entscheiden zusammen: Fahren wir nach Rom auf die Abschlussfahrt, fahren wir in den Kletterpark oder fahren wir nirgends hin und erkunden München? Fahren wir ins Schullandheim zum Skifahren oder nicht? Es geht darum, Entscheidungen in die Hände der Kinder zu geben. Dann sprechen sie alles an, was in diesem großen Parlament bei uns hier im Bayerischen Landtag auch gemacht wird. Was ist ökologisch sinnvoll? Wenn man Skifahren geht oder besser nicht? Dann sagen die einen: ‘Nee, wir fahren nicht zum Skilager, weil dann können die drei nicht mitfahren, die haben nicht so viel Geld.‘ Dann kommen die nächsten und führen die Nachhaltigkeit ins Feld: ‘Moment mal, da sind ja Beschneiungsanlagen, das können wir doch nicht machen. Hast du schon mal gesehen, wie so eine Wiese ausschaut nach so einem Winter?‘ Es kommen also alle Argumente. ‘Aber zusammen wegfahren wollen wir schon, weil wir sind doch eine Gruppe. Wir wollen uns doch besser kennenlernen. Dann halten die einen einen Pitch, der dafürspricht, die anderen halten eine Rede dagegen, die dritten machen ein Referat, was überhaupt die Gefahren des Skifahrens sind. Die nächsten bringen ein, wie viel Geld es kostet. Und dann stimmen wir ab und es gibt eine Mehrheitsentscheidung. ‘Ach, das ist Demokratie!‘ Dann versteht doch jeder, dass es nicht in einer Minute geht im Klassenzimmer oder in einer Viertelstunde. Das ist eine ganze Woche! Und dabei ist dann Mathematik gefragt, da ist Physik gefragt, da sind so viele Dinge gefragt. DAS ist eigentlich der Wert von Schule. Denn ich glaube nicht, dass wir uns längerfristig über Jahreszahlen von Kriegsanfängen und Kriegsbeendigungen unterhalten werden. Wir werden auch nicht mehr am Sonntag über irgendeinen Fakt streiten, weil spätestens nach einer Sekunde hat irgendeiner das Handy gezückt und die Fakten geklärt. Sondern es geht darum, darüber zu reden, zu verstehen und sich einzubringen. Dafür brennen wir. Dafür muss eine Veränderung her in der Aufgabe von Schule!“

Darf Schule glücklich machen?

Simone Fleischmann plädiert ohnehin dafür, Schule vom Kind her zu denken: „Unser Anspruch wäre, dass wir uns mit einem Kind so beschäftigen können, dass dieses Kind glücklich wird. Ja, es soll um Glück gehen – um Wissen, um Kompetenz – aber auch um Glück.“

Im krassen Widerspruch dazu stehen Notenfokussierung und die bayerische Besonderheit beim Übertritt, durch die schon sehr junge Kinder Schule nicht mehr als Ort des Lernens sondern als Ort des Wiedergebens erleben: „9-jährige Kinder aufgrund von drei Noten auf Schularten aufteilen ist nicht prognostisch valide“, kritisiert die BLLV-Präsidentin. „Wenn die die ersten Dreier, Vierer oder Fünfer kriegen, dann sagen die ‘Oh Gott, womöglich kann ich nicht aufs Gymnasium!‘ An dieser Schraube muss man drehen. Denn wir merken, dass diese Platzierung aufgrund dieser drei Noten nicht valide ist, weil es gibt viele, die purzeln dann vom Gymnasium auf die Realschule, von der Realschule zur Mittelschule. Oder aber sie wiederholen ganz häufig oder aber sie sind diese klassischen Drop outs – und da haben wir in Bayern besonders viele – die abgeschult werden oder die aus dem System fallen. Dieses System passt also nicht zu den Kindern.“

Zwei im Zeugnis = Welt verstanden?

Aus Sicht des BLLV ist die Lösung einfach und zudem international bewährt: „Wir müssen uns überlegen, ob es nicht eine längere gemeinsame Schulzeit braucht. Vielleicht zehn Jahre gemeinsam oder ein Zweisäulenmodell, in dem wir statt nach der vierten erst nach der achten Klasse die Kinder auf die gymnasiale Bildung hin zur Studierfähigkeit verteilen. Und alle anderen, denen dann aber auch alle Wege offen stehen, machen den Abschluss, der zu ihnen passt, gehen in das Berufsleben, in die duale Ausbildung oder aber dann später über einen entsprechenden Abschluss auch an die Universität.“

Aber auch der Lernbegriff, der einer Notengebung zugrunde liegt, muss sich den wissenschaftlichen Erkenntnissen anpassen, fordert Simone Fleischmann, die vehement gegen eine Lernpraxis kämpft, die sich nur als „bulimisch“ bezeichnen lässt: „Bulimisches Lernen heißt: ‘Ich habe das nur für die Probe gelernt. Ich habe mit der Mama am Wochenende alles gegeben. Ich habe mir das reingezogen. Ich habe eine zwei geschrieben.‘ Die Frage ist: Was kann ich jetzt? Ich habe eine Zwei, die zwei brauche ich, damit ich aufs Gymnasium gehen kann. Es geht doch aber darum, was ich von der Welt gelernt habe!“


Lernanlässe liegen auf der Straße

Im schlimmsten Fall nicht viel, meint die BLLV-Präsidentin und fordert, das Lernen dem anzupassen, wie Kinder die Welt um sich herum wahrnehmen und begreifen – nämlich in Phänomenen: „Kinder fragen sich: Wie entsteht ein Regenbogen? Phänomenologisches Lernen heißt, ich sage dann: Wir machen fünf Gruppen in der Klasse. Fangt mal an, zu recherchieren. Die einen recherchieren in der Bibliothek, die anderen recherchieren im Netz, die nächsten fragen die Passanten auf der Straße. Wenn wir damit nicht weiterkommen, dann laden wir vielleicht einen Physikprofessor ein. Wo ist denn eigentlich ein Regenbogen? Welche Farben hat denn der? Da sprudelt es aus den Kindern nur so heraus. Und dann haben wir kein bulimisches Lernen, sondern dann haben wir ein Lernen an einem Phänomen, das ein Kind entdecken will. Und das ist eben nicht immer fachspezifisch. Für die Zukunft heißt das: Nicht in 45 Minuten-Häppchen für Proben lernen, sondern an Phänomenen, an Interessensgebieten der Kinder und an dem, was die Welt bietet. Die Welt bietet so viel an Lernaufgaben, die auf der Straße liegen. Die müssen wir in die Schule hineinholen und dann fächerverbindend, fächerübergreifend lernen in Projekten. Das wäre für mich die Schule der Zukunft.“

Profis gefordert

Gerade auch in einer zukunftsorientierten Schule steht und fällt der Lernerfolg aber mit den pädagogischen Profis, die sich täglich um die Schülerinnen und Schüler bemühen. Bestenfalls sollte es mehr als eine Lehrkraft pro Klasse sein. Doch die Realität sieht anders aus: Das Kultusministerium feiert es schon als Erfolg, wenn zumindest zu Schuljahresbeginn, vor den ersten Infektwellen, vor jeder Klasse eine Person steht – auch wenn es keine grundständig ausgebildete Lehrkraft ist. Doch sogenannte Quereinsteiger müssen unterstützt werden, damit sie sich im Schulalltag überhaupt zurechtfinden, betont Simone Fleischmann: „Wir haben derzeit keine andere Wahl als mit Quereinsteigern zu arbeiten, weil wir an den Grund-, Mittel- und Förderschulen so wenige sind. Quereinsteiger, die nicht Lehramt studiert haben, müssen wir aber an der Hand nehmen und ihnen helfen. Wer hilft ihnen? Die Kernmannschaft, die mal Lehramt studiert hat. Das kostet viel Kraft. Wir bekommen also Entlastung für Lehrerinnen und Lehrer aus der Kernmannschaft, indem wir erstmal mehr leisten. Außerdem haben wir Bedenken, dass das Entprofessionalisierung bedeutet.“

Wie Personal gewinnen funktioniert – und wie nicht…

Die Chancen, dass sich hier zeitnah etwas änderst, stehen schlecht, da es im Lehramt an Nachwuchs mangelt. Für die BLLV-Präsidentin gibt es hier nur eine Lösung: „Es ist kein attraktiver Job mehr. Wir müssen aber alles daransetzen, dass junge Menschen sagen: ‘Das ist ein wunderbarer Beruf!‘ Das geht nur, indem die Menschen, die jetzt an der Schule arbeiten, auch sagen, dass es ein wunderbarer Beruf ist. Dazu braucht es bessere Arbeitsbedingungen. Denn momentan haben wir viele Lehrkräfte im Burnout, viele, die frühzeitig aufhören, viele, die merken, es ist eben kein wunderbarer Beruf und es macht mich eher krank, als dass es mir Freude macht.“

Da ist es wenig hilfreich, wenn politische Entscheider der Öffentlichkeit vorzugaukeln versuchen, man könne Personalmangel mit der Einschränkung von Teilzeitmöglichkeiten beheben. Denn das führt erstens genau zum Gegenteil, und trifft zweitens genau die Falschen, warnt Simone Fleischmann: „Wir haben diese Diskussion um Teilzeit in der Staatsregierung. Manche Frauen – und es sind meist Frauen – MÜSSEN aber Teilzeit nehmen, weil sie sonst das Leben nicht stehen. Der Mann ist im Big Business, sie haben drei Kinder und den Opa pflegen sie auch noch. Wer macht denn die Care-Arbeit? Das sind die Frauen und in der Grundschule arbeiten zu 80 % Frauen. Wenn wir diese Diskussion weiterführen, wird es echt gefährlich für die Wirtschaftskraft in Bayern. Wir brauchen bessere Ganztagsschulen, wir brauchen bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und eine Attraktivität des Berufs. Es darf bitte nicht rückwärts gehen, indem wir die Teilzeit einschränken!“

Menschen wertschätzen

Vorwärts gehen, das bedeutet für die BLLV-Präsidentin einen anderen Blick auf die Leistung und die Rolle der Lehrkräfte. Sie wünscht sich: „Wertschätzung der Lehrerinnen und Lehrer – wir brauchen die besten, die Lehrerinnen und Lehrer werden wollen. Wir brauchen einen Prozess, der deutlich macht, was der Wert von Schule ist.“

Mit Blick auf die angesprochenen Herausforderungen im Lern- und Leistungsbegriff, dem nicht kindgerechten strukturellen Übergang zu den weiterführenden Schulen und der in Bayern grassierenden systematischen Bildungsungerechtigkeit, stellt Simone Fleischmann abschließend klar: „Wir brauchen die Möglichkeit, jedem einzelnen Kind Angebote in der Schule zu machen. Nicht das Kind muss ins System passen, sondern wir müssen Angebote machen, damit sich jedes Kind weiterentwickeln kann!“
 
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