1. Einführung
Im bildungspolitischen Diskurs fällt eines auf: Diskussionen werden häufig ideologiegeleitet geführt und die Wissenschaft spielt bislang eher eine Nebenrolle. Wir Lehrerinnen und Lehrer haben uns der Pädagogik verschrieben, konkret für eine gesunde und nachhaltige Entwicklung für alle Kinder und Jugendlichen im Sinne einer ganzheitlichen Bildung mit Herz, Kopf und Hand. Diese Orientierung ist, anders als beispielsweise mit dem Begriff der „Kuschelpädagogik“ gelegentlich unterstellt wird, ganz und gar nicht „naiv“, „schonend“ oder „verwöhnend“, sondern eine wissenschaftlich fundierte Perspektive auf zeitgemäße Bildung (Becker-Stoll, 2018; Prengel, Heinzel & Winklhofer, 2017;).
Inzwischen gibt es so viele Erkenntnisse und Konzepte in Wissenschaft (z.B. lernwirksames Feedback) und Praxis (z. B. die Preisträgerschulen des Deutschen Schulpreises), die unser Bildungswesen - würden sie flächendeckend umgesetzt werden - immens bereichern würden. Leider bleibt ein entsprechender flächendeckender Transfer in die Praxis auch bei erwiesenermaßen wirksamen Konzepten in der Regel die Ausnahme. Einige dieser Aspekte bzw. Konzepte möchte ich an dieser Stelle besonders hervorheben und auch aufzeigen, was es aus Sicht der Lehrerinnen und Lehrer für einen Transfer in die Praxis braucht.
2. Bedeutsame Aspekte für gelingende Transferprozesse
2.1 Sozial-emotionale Kompetenzen
Ganz zentral für Bildungsprozesse - das hat sich nicht erst während der Corona-Pandemie gezeigt, wurde dort aber besonders deutlich - ist der Aspekt des Sozial-Emotionalen. Psychische und psychosomatische Beschwerden haben während der Zeit der Lockdowns im Bildungswesen bei Kindern und Jugendlichen (und nicht nur bei diesen) in Besorgnis erregender Weise zugenommen. In der Bildungsforschung ist es nicht erst seit Corona selbstverständlich, bei der sozialen Eingebundenheit von einem psychologischen Grundbedürfnis zu sprechen (Deci & Ryan, 1993). Hinzu kommt die Bindungsforschung mit dem Konzept der Feinfühligkeit (Grossmann & Grossmann, 2003) und die Erziehungsstilforschung mit dem Konzept der autoritativen bzw. demokratischen Erziehung, die sich allesamt als entwicklungsförderlich erwiesen haben, weil sie Kindern und Jugendlichen das geben, was diese brauchen: Wärme, Beziehung, Sicherheit und Struktur.
Im Bildungsalltag bleibt für diese zentralen Aspekte der Entwicklung jedoch wenig Raum. Stattdessen bestimmen überfüllte Lehrpläne, Noten und Leistungsdruck den Schulalltag, trotz der bekanntermaßen zahlreichen negativen Auswirkungen dieser Praktiken, beispielsweise hinsichtlich der intrinsischen Motivation, die durch extrinsische Anreize verloren geht und nur schwer (wieder) aufgebaut werden kann (Ryan & Deci, 2020). Statt Wärme und Beziehung herrscht häufig Kälte und Distanz, statt Sicherheit und Struktur herrscht Druck und Hilflosigkeit. Hier bietet die Forschung zu lernwirksamen Feedback und dialogischer Leistungsbeurteilung wissenschaftlich fundierte Alternativen, bei der sowohl auf der Beziehungsebene als auch hinsichtlich der Strukturierung von Lernprozessen entwicklungsförderlichere Wege gegangen werden (Beutel & Pant, 2019; Hattie & Timperley, 2007; Wisniewski, Zierer & Hattie, 2020; Winter, 2018). Hinsichtlich der sozial-emotionalen Kompetenzen gibt es im amerikanischen Raum nun bereits jahrzehntelange Forschung und wirksame Programme zur Förderung dieser Kompetenzen (Corcoran, Cheungc, Kimd & Xiee, 2018; Durlak, Domitrovich, Weissberg & Gullotta, 2017; Hetmanek, Knogler & CHU Research Group, 2019), in Deutschland kennt man die Wortverbindung „sozial-emotional“ vielerorts vor allem im Bereich sonderpädagogischer Förderung. Mit einem anderen Verständnis von Bildung und Lernen könnte dieser zentrale Aspekt nicht nur selbstverständlicher Teil des Schulalltags, sondern neben den fachlichen Inhalten auch ein selbstverständlicher und in der Praxis gelebter Teil des Curriculums werden.
2.2 Lehrerbildung
Wir brauchen außerdem nicht nur in der Bildungspraxis, sondern auch in der Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen ein grundsätzliches Umdenken: weg vom Abprüfen von Wissen und Kompetenzen nach starren Vorgaben, hin zu Persönlichkeitsentwicklung, Feedback und Reflexion. Auch über die Verzahnung von Theorie und Praxis wird seit Jahrzehnten gesprochen, aber bislang existiert in Deutschland lediglich ein einziger dualer Lehramtsstudiengang (für berufliche Bildung) an der TU München. Mit dem Konzept des Praxissemesters gewinnt die erste Phase des Lehramtsstudiums zwar an Qualität, aber auch dieses ist noch lange nicht flächendeckend umgesetzt und es löst zudem viele andere Probleme der Lehrerbildung leider auch nicht, wie beispielsweise das Versorgungsproblem. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) hat hierzu ein flexibles Lehrerbildungsmodell entwickelt, das einen Wissenschafts-Praxis-Transfer zeitgemäß in der Ausbildung mitdenkt und gleichzeitig neben anderen Aspekten auch für die Fragen der Berufsorientierung und der flexiblen Lehrerversorgung Antworten liefert.
Neben den Ausbildungsstrukturen muss auch die dritte Phase in den Blick genommen werden: Die hohe Wirksamkeit von videogestütztem Coaching und Micro Teaching ist längst erwiesen (Hattie, 2020; Pianta, 2014), dennoch werden diese Formen der Kompetenzentwicklung in Deutschland nach wie vor kaum genutzt. Noch immer glaubt man, mit einer 7-jährigen Ausbildung sei im Grunde alles getan.
2.3 Führungskräfte
Ein weiterer Aspekt, der sich in der Praxis immer wieder zeigt und den auch die Wissenschaft immer wieder hervorhebt ist die Rolle von Führungskräften. Schulleitungen spielen die zentrale Rolle, wenn wir von Schulentwicklung im Allgemeinen oder ganz konkret über Themen, wie Digitalisierung, Inklusion, Integration, Ganztag oder individuelle Förderung sprechen. In der freien Wirtschaft ist dies eine Selbstverständlichkeit, aber im Bildungswesen muss es immer wieder betont werden: Führungskräfte benötigen eigenverantwortlichen Handlungsspielraum, Zeit und Führungskompetenzen um Organisationen weiterbringen zu können. Erfolgreiche Bildung darf nicht länger von der Bereitschaft für unbezahlte Überstunden abhängig sein. Die Rahmenbedingungen müssen sich insbesondere für Schulleitungen ändern.
2.4 Eigenverantwortung
Direkt damit einher geht auch die Frage der Eigenverantwortlichkeit von Schulen. Vorreiterschulen entscheiden sich häufig ganz bewusst dafür, nicht nach den Regeln zu spielen. Ein Grund ist, dass die Vorgaben der Ministerien umfangreich und die Entscheidungsfreiheiten von Schulen gering sind (Blossfeld, Bos, Daniel, Hannover, Lenzen, Prenzel & Wößmann, 2010). Innovationsgeist, Kreativität und Organisationsentwicklung werden so schon im Keim erstickt. Es darf aber nicht sein, dass Bildungsinstitutionen Angst haben, etwas anders und vielleicht „falsch“ zu machen. Es braucht deshalb einerseits Mut, neues zu wagen. Andererseits aber auch die klare Botschaft von politischer Seite, dass dies auch erwünscht ist und damit einhergehende Unterstützung und die Schaffung von Freiräumen zur Entwicklung. Hier sind die Entscheidungstragenden gefragt!
2.5 Arbeitsbedingungen
Wenn wir von Wissenschafts-Praxis-Transfer und damit auch von Veränderung sprechen, dann gibt es ein Schlagwort, das gar nicht zu oft genannt werden kann: Zeit. Die Formulierung „Zeit für Bildung“ meint nicht nur das Motto eines Beschlusses (BLLV, 2015) oder einer Kampagne, sondern ist auch der Titel einer entsprechenden wissenschaftlichen Expertise (Schneider, 2018), denn ohne Zeit fehlt auch der Raum und die Freiheit zur Veränderung. In Zeiten eines massiven Fachkräftemangels im pädagogischen Bereich - ganz besonders in Kitas und Grundschulen - stehen in den bildungspolitischen Debatten primär quantitative Fragen der Versorgung im Vordergrund und leider nur selten Fragen der Qualität. Exemplarisch sei hier die Debatte um den nun verabschiedeten Rechtsanspruch auf Ganztag von der ersten bis zur vierten Klasse genannt, bei der auch häufig auf die problematische Situation hinsichtlich des Aufbaus der Kita-Strukturen verwiesen wurde, der trotz inzwischen langjährigem Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz nach wie vor stockt und vielerorts nicht zufriedenstellend erfüllt wird.
Es scheint, als sei der Anspruch an hohe Bildungsqualität ein Luxusproblem und das in einem der reichsten Länder der Welt. Das darf nicht sein! Deshalb müssen wir, wenn wir über Wissenschaft-Praxis-Transfer sprechen und damit natürlich ganz besonders die Qualität von Bildung meinen, immer auch die Arbeitsbedingungen in den Blick nehmen. Pädagoginnen und Pädagogen brauchen dringend zeitliche Entlastungen, eine bessere und vor allem gleichwertige finanzielle Anerkennung ihrer Arbeit und ihre Gesundheit muss geschützt werden. Personelle Unterversorgung, Überstunden, Stress und Burnout, das ist vielerorts die Realität. Wissenschafts-Praxis-Transfer braucht Zeit für Fort- und Weiterbildung, für Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung und - wie die Forschung zeigt - Zeit für jedes einzelne Kind, ganz konkret in Form von ausreichend Personal bzw. einem flächendeckend umgesetzten entwicklungsförderlichen Personal- Kind-Schlüssel.
2.6 Unterstützungsstrukturen
Neben den genannten Freiheiten für Führungskräfte, Institutionen und Pädagoginnen und Pädagogen braucht es zudem auch Unterstützungsstrukturen. Unternehmensberatungen sind in der freien Wirtschaft und auch in Behörden inzwischen eine Selbstverständlichkeit, aber Schulen haben kaum Möglichkeiten, in ihrer Schulentwicklung unterstützt zu werden. Es gibt kein Budget, keine Unterstützungsstrukturen, kaum auf Schulen spezialisierte Organisations- bzw. Schulentwicklungsberatung. Unterstützung gibt es meist erst, wenn akute Probleme vor Ort auftauchen, nicht aber präventiv oder einfach nur, weil es eben sinnvoll ist. Vorbildlich arbeitet in diesem wichtigen Feld beispielsweise die an der Berliner Senatsverwaltung angesiedelte Zweigstelle proSchul. Auch hier ist jedoch die Politik gefragt, denn ohne entsprechende Ressourcen lassen sich auch keine flächendeckenden Unterstützungsstrukturen aufbauen.
2.7 Ein erstarrter Diskurs
Trotz der genannten Erkenntnisse der Bildungsforschung und der bereits zahlreich vorhandenen erfolgreichen Konzepte aus der Bildungspraxis steht dem Transfer eine Sache ganz besonders im Weg, die sich nicht nur in der Bildungspolitik, aber dort ganz besonders zeigt: Der bildungspolitische Diskurs ist erstarrt. Über all die genannten Themen wird seit Jahrzehnten diskutiert und gestritten - wie eingangs erwähnt - meist vorbei an der Wissenschaft im Hintergrund festgefahrener ideologischer bzw. parteipolitischer Positionen und Interessen. Was es braucht ist wortwörtlich ein bildungspolitischer Aufbruch, der eine Verbesserung des Bildungssystems nicht blockiert, sondern ermöglicht.
3. Fazit
Ein anderes Verständnis von Bildungsprozessen und Leistung, mehr Freiräume und attraktivere Rahmenbedingungen sowie schließlich professionelle Unterstützungsstrukturen - so kann Transfer von der Wissenschaft in die Praxis gelingen. Dafür braucht es Bewegung in der Bildungspolitik und den politischen Willen, die entscheidenden Weichen zu stellen. Solange dies nicht geschieht, werden Bildungsforschung, Bildungspraxis und Bildungspolitik sich im Kreis drehen. Und das möchte letztlich keiner.
Der Artikel wurde im fünften Tagungsband der Reihe IFS-Bildungsdialoge veröffentlicht, der die Inhalte der präsentierten Beiträge sowie die angeregten Diskussionspunkte aufgreift. Zentrale Gelingensbedingungen, Chancen und Herausforderungen eines erfolgreichen Wissenschaft-Praxis-Transfers werden darin aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und diskutiert. Mehr Informationen: Waxmann Verlag