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Verfassungsviertelstunde: „Haltungen prägen sich nicht in 15 Minuten“

Welchen Nutzen bringt die in diesem Schuljahr gestartete Verfassungsviertelstunde? Im Gespräch mit dem Deutschlandradio stellt BLLV-Präsidentin Fleischmann klar, dass politische Bildung nur gelingt, wenn Schülerinnen und Schüler sie täglich umsetzen können.

Gemäß Wunsch der Staatsregierung ist mit diesem Schuljahr die Verfassungsviertelstunde gestartet. Mit Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen ist das öffentliche Interesse, was dieses vom Ministerpräsidenten erdachte Format nun konkret bewirkt, entsprechend groß.

Auf Nachfrage von Deutschlandradio stellt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann dazu erneut klar, dass zumindest ein wichtiges Bildungsziel richtig identifiziert wurde: „Es ist positiv, dass die Staatsregierung erkannt hat, dass in Zeiten, in denen die Demokratie wankt, die Gesellschaft erwartet, dass Schule hier etwas bewirkt und ausgleicht. Der Ansatz, Kinder und Jugendliche mit einem Viertelstundenformat zu medienkritischen Demokraten zu erziehen, die sich politisch einbringen, Partizipation als etwas Positives erleben und sich aktiv für die Demokratie einsetzen, erscheint uns im BLLV aber als zu kurz gesprungen.“

„Also an meiner Schule gab’s die noch gar nicht…“

Daher sieht es Fleischmann auch unkritisch, dass bisher nicht alle Kinder zuhause von der Verfassungsviertelstunde als eigenständiger Unterrichtseinheit berichten. Denn das zeige möglicherweise, dass das Bildungsziel sinnvollerweise auch als Querschnittsaufgabe umgesetzt werde: „Wenn Schülerinnen und Schüler das bisher noch nicht mitgekriegt haben, dann glaube ich nicht, dass das nicht gemacht wird, sondern ganz im Gegenteil: Dann ist es eben gut in den Unterricht integriert!“

Mit unterrichtlicher Wissensvermittlung ist es aber aus Sicht der BLLV ohnehin nicht getan. Präsidentin Simone Fleischmann lobt zwar „viele Materialien, die das Kultusministerium und andere Anbieter zur Verfügung stellen, an denen man die Verfassungsviertelstunde mit allen Themenfeldern, abarbeiten kann.“ Doch politische Bildung zu vermitteln, braucht eigentlich völlig andere Formate:

Demokratische Schule: Diskussion und Mitbestimmung

„Wenn wir ein Schülerparlament einführen, wenn wir Klassen- und Schülersprecherwahlen abhalten, dann ist das die höchste Form der Umsetzung der Verfassungsviertelstunde an den Schulen“, stellt Fleischmann klar. „Das bedeutet dann zum Beispiel, dass wir erstmal eruieren, wie und wann man wählt, dass man Wahlplakate gestalten lässt, dass man Antrittsreden der Kandidatinnen und Kandidaten konzipiert, dass man Testläufe macht, dass man überlegt: Was passiert bei einer Wahl? Wie kann eine Wahl ausgehen? Wie arrangieren wir das? Wie läuft das Wahlprozedere? Daran sieht man doch sofort: Auf dem Weg zur Wahl von Schülersprechern ist ganz viel Verfassung passiert! Wenn man dann zum Beispiel als Hochformat noch eine Schülervollversammlung abhält, dann kommen dort alle Themen, die Schülerinnen und Schüler in ihrer Schule beschäftigen, aufs Tableau. Dann wird dort Pro und Kontra diskutiert, dann werden Pitches gehalten für beispielsweise eine Chillout-Area oder den Billardtisch oder einen Kicker in einem Raum. Dann werden sich die Schülerinnen und Schüler stark machen für eine Auslandsreise und vieles mehr. So geschieht dann sozusagen by the way das, was eigentlich Ziel der Verfassungsviertelstunde wäre: Ich lebe und erlebe partizipative Elemente von morgens bis zum Nachmittag in der Schule – in allen Formaten, die möglich sind, damit Schülerinnen und Schüler ihre Schule gestalten. Wir müssen also die Demokratiebildung, die politische Bildung, die Themen, die in der Gesellschaft heiß diskutiert werden, in die Mitte des schulischen Tuns stellen.“

Konfliktfähigkeit trainieren

Echte politische Bildung heißt dabei auch, aktuelles Zeitgeschehen und konkrete Konflikte und den Umgang damit in den Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens zu rücken – unabhängig vom nötigen Zeitrahmen:

„Ich habe als Klassenleiterin mindestens eine halbe Stunde am Tag mit den Schülerinnen und Schülern Inhalte aus Zeitungen, die sie beschäftigt haben und zu denen sie etwas wissen wollten, gelesen und diskutiert – das war ihnen extrem wichtig“, berichtet Fleischmann und ergänzt: „Wenn im Pausenhof Streit war und du als Lehrer hörst, wie jemand als „Judensau“ beschimpft wird, dann holst du das ins Klassenzimmer und lässt die Schülerinnen und Schüler klären: Was ist hier passiert? Was ist Antisemitismus? Warum will ich so eine Äußerung nicht? Was steckt da historisch dahinter? Wie gehen wir jetzt damit um? Was bedeutet es, wenn man sowas in Bayern, in Deutschland nicht sagen darf? Damit haben wir eine aktuelle, leider schreckliche Situation, an der ganz klar wird, wie und warum unsere Verfassung so ist, wie sie ist.“

Hymne singen oder Haltung zeigen?

Weil das Bildungsziel politische Bildung also zum einen so komplex ist und sich nicht mit theoretischer abstrakter Wissensvermittlung erreichen lässt, zum anderen Bayern im Bundesvergleich hinterherhinkt, bezweifelt der BLLV, dass die Verfassungsviertelstunde alleine das bewirken kann, was eigentlich das Ziel sein sollte:

„Die politische Bildung in Bayern sieht im Vergleich zu den anderen Bundesländern so aus, dass wir im unteren Drittel der quantitativen Skala liegen“, stellt Präsidentin Simone Fleischmann klar. „Jetzt könnte man natürlich sagen: 15 Minuten ist schon besser als null Minuten. Aber eigentlich geht es insgesamt um einen Change in dem, was Aufgabe von Schule ist: Niemand bestreitet, dass es jetzt Aufgabe von Schule sein muss, Demokraten zu bilden, medienkritische Bürgerinnen und Bürger zu erziehen, sich zu besinnen auf den enormen Wert der Demokratie, auf das, was unsere Verfassung an guten Grundsätzen hat. Dann geht es aber eben nicht ums Auswendiglernen der Verfassung oder um das Singen der Bayernhymne – sondern es geht um Haltungen. Und die prägen sich wahrlich nicht in 15 Minuten!“

Wird das neue Format kritisch ausgewertet?

Daher geht es für Fleischmann auch an der Realität vorbei, wenn die Staatsregierung das Abhalten der Verfassungsviertelstunde abfragen will: „Wer als Lehrer ein Themenfeld abhakt, der hat es unterrichtet, na toll. Aber hier geht es doch eben um Haltungen! Ich sage nochmal: Demokraten Erziehen ist nicht den Pythagoras lehren, sondern Demokraten Erziehen heißt, den Wert der Demokratie erlebbar zu machen! Und das ist halt in 15 Minuten schwierig und es ist auch in einer Abhak-Mentalität schwierig. Dazu braucht man ein ganz anderes Verständnis, wie man Schülerinnen und Schülern Haltungen beibringt.“

Entsprechend hat die BLLV-Präsidentin auch an die von der Staatsregierung geplante Evaluation des neuen Formats eine klare Erwartung: „Ich glaube, die Evaluation braucht es für die Staatsregierung, die das gesetzt hat, und wohl auch für den Ministerpräsidenten selbst, der damit glänzen wollte. Ich erwarte mir, dass die Evaluation zeigt, dass die Verfassungsviertelstunde nicht die alleinige Lösung sein kann, um Demokraten zu erziehen, um Partizipation einzuüben und um Bürgerinnen und Bürger für ein Leben in der Demokratie vorzubereiten. Es wäre schön, wenn in dieser Evaluation herauskommt, dass wir dafür mehr brauchen!“