In Bayern basiert die Übertrittsempfehlung in der 4. Klasse auf dem Durchschnitt der drei Noten in den Fächern Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachunterricht. Aus Sicht des BLLV ist dieses starre System, das es neben Bayern nur noch in Sachsen und Berlin gibt, nicht geeignet für eine altersgerechte, valide und faire Zuweisung der Schülerinnen und Schüler auf die weiterführenden Schularten. Die Entwicklung der letzten Jahre, auch durch Corona, hat das nicht verbessert – ganz im Gegenteil.
„Wir müssen über die Zahlen nicht diskutieren. Der Trend ist in allen Studien klar und eindeutig: Die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in der vierten Klasse nehmen in erschreckender Weise seit Jahren ab. Dazu kommt, dass es nach Corona immer noch sehr viele Kinder mit großem Nachholbedarf gibt und zwar bei den sozialen und den fachlichen Kompetenzen. Noch erschreckender: Die sozioökonomische Schere geht immer weiter auseinander. Im aktuellen System werden die Kinder aus schwachen Familienverhältnissen und Kinder mit Migrationshintergrund systematisch frühzeitig zurückgelassen. Und warum? Weil beim Notenschnitt die Stellen nach dem Komma heute erstmal über den weiteren schulischen Weg eines neun- oder zehnjährigen Kindes entscheiden“, so BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann.
Kinder mitnehmen statt abhängen
Dieses Prinzip widerspricht aus der Sicht des BLLV einem modernen Menschenbild, der kindgerechten Ermöglichung von Bildungs- und Lebenschancen und den Prinzipien einer individuellen Sicht auf die Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern. Die negativen Auswirkungen auf das Lernverhalten und die psychische Gesundheit bei vielen Kindern und deren Familien erleben die Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen jeden Tag.
Die Folgen dieses pädagogisch unnötigen Übertrittsverfahrens sind ein erhöhter psychischer Druck auf Kinder und die Störung der Beziehung zwischen den Eltern und Lehrkräften. Die Fixierung auf wenige Noten verdrängt die intrinsische Motivation zum Lernen und verengt das Bildungsverständnis auf die drei für den Übertritt relevanten Fächer. Das System verschärft die soziale Auslese und führt zur Vernachlässigung der Förderung von Kindern, die im aktuellen System keine ausreichende Übertrittsperspektive haben.
Simone Fleischmann weiter: „Es geht uns nicht darum, die Ansprüche an die Schülerinnen und Schüler und ihre Leistung zu senken, Leistung nicht zu fordern oder keine Rückmeldung zu geben, sondern Schule und Leistungsfeedback zu modernisieren, zu individualisieren und ganzheitlich zu realisieren.“
Der Mythos der hohen Durchlässigkeit
Eines der wichtigsten Argumente, das von den Vertreterinnen und Vertretern eines streng gegliederten Schulsystems angeführt wird, ist die vermeintliche Durchlässigkeit des Schulsystems, oder anders gesagt: Schülerinnen und Schüler können theoretisch auch später die Schulart wechseln, sich weiterqualifizieren und beispielsweise das Abitur auf unterschiedlichste Weise erreichen. In der Realität ist aber gerade das streng gegliederte Schulwesen am wenigsten durchlässig und wenn, dann eher „nach unten“. Laut bayerischem Bildungsbericht kommen in der Sekundarstufe auf jeden Wechsel an eine Schulart, deren Abschluss mehr Möglichkeiten bietet, rund zwei Schulartwechsel an eine Schule, die weniger Möglichkeiten eröffnet.
Wenn Schülerinnen und Schüler allerdings die Möglichkeit haben, an ein und derselben Schule mehrere Abschlüsse zu absolvieren, dann erreichen später viele entgegen ihrer ursprünglichen Übertrittsprognose nach der Grundschule das Abitur. Beispielsweise hatten 2021 rund 83 Prozent der Abiturienten an Hamburger Stadtteilschulen zuvor keine Gymnasialempfehlung erhalten.
Ein erster Schritt: Den Lehrkräften und den Eltern vertrauen
Ein erster wichtiger Schritt wäre es, die Verantwortung für den Übertritt der Entscheidung von Eltern zu überlassen, begleitet von der professionellen Einschätzung durch die Lehrerinnen und Lehrer, die die Kinder und deren Wünsche und Potenziale kennen. Ein Weg, den schon viele Bundesländer in Deutschland erfolgreich gehen. So können Fähigkeiten und Kenntnisse umfassend bewertet sowie die Faktoren Sozialkompetenz, Persönlichkeitsentwicklung und Arbeitshaltung verantwortungsvoll und individuell berücksichtigt werden.
Übertrittszeugnisse: Fördern statt Aussortieren
München – Am 2. Mai haben alle Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 4 ihr Übertrittszeugnis erhalten. Jedes Jahr ist dieser Termin für viele Kinder mit Konflikten behaftet und mit Angst besetzt. Die Reduzierung der Leistung auf die punktuelle Erhebung dreier Noten widerspricht den Grundsätzen einer individuellen Förderung und damit der Chancen- und Bildungsgleichheit. Immer mehr Kinder erreichen in der Grundschule die geforderten Mindeststandards nicht. Schulnoten hängen zunehmend vom sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses ab. Damit wird der Wettbewerb um Bildungschancen schon in der vierten Klasse für viele Kinder ein Kampf, den sie nur verlieren können. Nur durch ein längeres gemeinsames Lernen und durch einen Verzicht auf eine Selektion nach scheinbarer Leistung können sich Kinder gesund entwickeln.
Medienberichte
Simone Fleischmann im Wortlaut:
"Das System verschärft die soziale Auslese und führt zur Vernachlässigung der Förderung von Kindern, die im aktuellen System keine ausreichende Übertrittsperspektive haben. Das System verschärft die soziale Auslese und führt zur Vernachlässigung der Förderung von Kindern, die im aktuellen System keine ausreichende Übertrittsperspektive haben."
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Simone Fleischmann im Wortlaut:
"Das System verschärft die soziale Auslese und führt zur Vernachlässigung der Förderung von Kindern, die im aktuellen System keine ausreichende Übertrittsperspektive haben."
Im Artikel heißt es weiter:
Fleischmann forderte "einen Verzicht auf eine Selektion" anhand der Durchschnittsnoten. Solche Schulnoten hingen zunehmend "vom sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses" ab. Damit werde der Wettbewerb um Bildungschancen schon in der vierten Klasse für viele Kinder ein Kampf, den sie nur verlieren können, so Fleischmann. Im aktuellen System würden Kinder aus schwachen Familienverhältnissen und Kinder mit Migrationshintergrund "systematisch frühzeitig zurückgelassen".
- "Wir sagen, dass Kinder reduziert werden auf Noten. Kinder gehen verloren. Freilich schaffen es manche ganz gut, aber der Druck ist zu groß. Wir verlieren zu viele Kinder. Gerade jetzt, wo wir erleben, dass Kinder ohnehin so leiden – auch unter den Jahren, in denen sie unter schwierigen Corona-Bedingungen Leistung bringen mussten.
- "Es ist an der Zeit, dass man den Elternwillen freigibt, dass wir eine gute Beratung als Lehrerinnen und Lehrer leisten können, und dass die Schere der Bildungsungerechtigkeit, die wir hier in Bayern besonders weit offen haben, endlich mal ein bisschen geschlossen wird."
- "Ein Übertrittszeugnis ist nicht valide für den weiteren Weg von Schülerinnen und Schülern. Es zeigt zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt eine scheinbare Leistungsfähigkeit von Kindern und wir merken einfach, dass der Druck für die Kinder dabei zu groß ist. Wir fordern als BLLV einen individuellen, ganzheitlichen Leistungsbegriff – und der kann durch einen Übertrittszeugnis nicht abgebildet werden."
- "Für uns ist gerade in der jetzigen Zeit nach Corona, in der durch den Lehrermangel vieles nicht mehr möglich ist, ein Übertrittszeugnis besonders problematisch, weil es eben aussortiert anstatt zu fördern. Und wir merken einfach, dass Kinder eher Förderung statt Aussortieren bräuchten."
- "Für uns ist die Reduzierung der Leistung von neun- oder zehnjährigen Kindern auf nur drei Noten zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt ein krasser Widerspruch zur pädagogisch angezeigten individuellen Förderung und zum Anspruch auf Bildungsgerechtigkeit."
- "Wir verlieren so viele Kinder und wir verlieren diese Kinder vor allem im Alter von neun und zehn Jahren, weil viele Angst haben, diesen Übertritt nicht zu schaffen. Angst ist ein schlechter Lernbegleiter. Deswegen fordern wir eine längere gemeinsame Schulzeit, um eben diesen Drucksituationen bei neun- und zehnjährigen Kindern zu begegnen."
Auswirkungen von Leistungsrückmeldung durch Ziffernnoten statt individuell fördernd und prozessorientiert:
- "Wir erleben viele Kinder, die im Vorfeld dieses Termins am 2. Mai – manchmal schon am Ende der zweiten Klasse, wenn die Notebewertung beginnt – total auf diese Noten fixiert sind und große Ängste entwickeln. Wir müssen als Lehrerinnen und Lehrer mitansehen, wie wir dadurch Talente, Kapazitäten und Kompetenzen bei Kindern verlieren, weil Angst eben noch nie ein guter Lernbegleiter gewesen ist."
Notengebung und Bildungsungerechtigkeit:
- "Es trifft vor allem Kinder, die aus sozioökonomisch schwierigsten Verhältnissen kommen. Wir wissen, dass der Bildungserfolg in keinem anderen Bundesland so eklatant abhängig ist von den Möglichkeiten der Eltern, zum Beispiel Nachhilfe zu bezahlen oder ob sie die Zeit aufbringen können, die Kinder selbst beim Lernen zu unterstützen."
Wie auf schlechte Noten reagiert werden kann:
- "Bitte immer erstmal die Kirche im Dorf lassen und sagen: 'Okay, es ist jetzt so. Jetzt schauen wir mal, wie du dich weiter entwickeln kannst.' Und dann offen hinschauen und fragen, was eigentlich dahinter steckt. 'Wie geht es dir denn eigentlich? Welche Schwierigkeiten hast du?' Und dann ganz offen mit den Kindern selber und den Lehrerinnen und Lehrern austauschen, am besten auch im Dreiergespräch."
Folgen, wenn die Übertrittsregelung Kinder der Mittelschule zuweist:
- "Ich weiß, dass sehr sehr viele Kinder, die dann in der fünften Klasse dort ankommen, demotiviert sind und sagen, ich bin hier irgendwie übrig geblieben, die anderen sind woanders hingegangen. Es braucht sehr viel Kraft, die wir dann miteinander brauchen, um diese Kinder wieder aufzubauen."
Die Lage an Schulen nach der Corona-Krise:
- "Alle Schülerinnen und Schüler, die sich in dieser sehr schwierigen Zeit irgendwie durchgeschlagen haben, verdienen unser aller Respekt."
Bedeutung von Noten und Abschlüssen:
- "Wir wünschen allen Kindern und Jugendlichen vor allem ein glückliches Leben. Da gehört ein guter Beruf dazu – aber auch noch mehr."