BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Gespräch an der Schule (Foto: Jan Roeder)
BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Gespräch an der Schule (Foto: Jan Roeder)
Leistungsdruck und Stress bei Kindern Startseite Topmeldung
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Vom "Grundschulabitur" - von Kindern, die performen müssen und Eltern, die mit Rechtsanwälten kommen

Schon jetzt fühlen sich viele Viertklässler:innen und ihre Eltern im Übertrittsstress. Dabei sollte die Grundschule Kindern Lust aufs Lernen machen und sie individuell fördern. Im Interview mit der AZ gibt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann praktische Tipps.

Für viele Kinder beginnt der Stress in der vierten Klasse schon mit dem ersten Schultag. Schuld sind der Übertritt und das zugehörige Übertrittszeugnis - ein Dauerthema für die Kinder und die Eltern an der Schule und auch für den BLLV, der das Thema jetzt unter anderem auch mit einer neuen Veranstaltungsreihe angeht, die am 12. Oktober ihren Auftakt hatte. Seit Jahren fordert der BLLV, die bayerische Praxis zu hinterfragen. Denn die individuelle Förderung sowie die Chancen- und Bildungsgleichheit sind im aktuellen System nicht gegeben. Im Vergleich der Bundesländer basiert fast nur noch in Bayern die Übertrittsempfehlung in der 4. Klasse vor allem auf dem Durchschnitt der drei Noten der Schülerinnen und Schüler in den Fächern Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachunterricht.

Schon vor einiger Zeit betonte deshalb Simone Fleischmann, die Präsidentin des BLLV: „Die Stellen nach dem Komma entscheiden heute in Bayern erstmal über den weiteren schulischen Weg eines neun- oder zehnjährigen Kindes. Dieses Prinzip widerspricht einem modernen Menschenbild sowie der kindgerechten Ermöglichung von Bildungs- und Lebenschancen ebenso wie den Prinzipien einer individuellen Sicht auf die Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern. So sorgt dieses System für eine weiter wachsende Ungerechtigkeit  im bayerischen Bildungssystem." Dass Bayern auch deshalb das Schlusslicht bei der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland bildet, ergab zuletzt die ifo-Studie vom 14. Mai 2024.

Leistung unter Angst und Stress

Dabei ist der Übertritt in der vierten Klasse nur der Höhepunkt von all dem Leistungsstress, dem die Kinder schon in der Grundschule ausgesetzt sind. Auch die aktuelle Diskussion rund um die "Exen" in Bayern wirft ein Licht auf das größere Thema. "Wir haben derzeit die Diskussion über unangekündigte Exen und allein diese zeigt deutlich, in welch leistungsorientierter Gesellschaft wir in Bayern leben. Es ist für viele selbstverständlich, dass Kinder unter Angst Leistung bringen sollen. Die Exen abzuschaffen bedeutet für manche, die Leistungsgesellschaft abzuschaffen. Wir Lehrkräfte bemerken aber, unter welch enormem Druck Kinder bereits im zweiten Halbjahr der zweiten Klasse stehen, wenn es zum erstenmal Noten gibt, wenn der Leistungsvergleich wirklich sichtbar wird. In der jetzigen vierten Klasse endet das Schuljahr für viele Anfang Mai mit dem Übertrittszeugnis. Das Schuljahr wurde mit dem Blick auf April 2025 begonnen und das Kind muss bis dahin 'performen'. Der Stress beginnt mit dem ersten Schultag", so BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Interview mit der Abendzeitung (AZ), das am 19. Oktober in der Printausgabe erschienen ist.

Dabei betont Fleischmann auch, dass der Übertritt ein Stress ist, dem sich auch organisatorisch die ganze Schule stellen muss - auch um die Kinder zu schützen: beispielsweise wenn die Schulleitung bewusst darauf achtet, dass in der vierten Klasse möglichst wenig mobile Reserven unterrichten, damit eine professionelle, feste Lehrkraft für die Kinder da sein und auch die Eltern begleiten kann. Apropos Eltern!

Die entscheidende Rolle der Eltern

Welche prägende, aber enorm unterschiedliche Rolle die Eltern dabei spielen, betont die BLLV-Präsidentin im Interview. Schließlich kommen die einen Kinder aus wohlhabenden bildungsnahen Haushalten. Der Druck, gute Leistungen zu bringen, ist oft entsprechend hoch - auch wenn gerade hier den Eltern aus beruflichen und gesellschaftlichen Gründen oft die ausreichende Zeit für ihre Kinder fehlt. Auf der anderen Seite gibt es viele Elternhäuser mit schwierigem sozioökonomischem Hintergrund, wo es am Verständnis oder den Möglichkeiten fehlt, die Kinder zu fördern, auch wenn diese das Potenzial für gute Noten hätten. Beide können damit zu den Verlierern eines überkommenen Leistungsbegriffs mit "bulimischem" Lernen werden, auch wenn es in wohlhabenden Haushalten vielleicht noch die Nachhilfe richtet - zumindest was die Noten angeht.

Wie man den Druck für die Kinder im bestehenden System senken kann, ist deshalb für Simone Fleischmann die wichtigste Frage, denn schließlich geht es bei all dem um die Kinder und ihre Zukunft: "Es ist entscheidend, dass Eltern und Lehrkräfte in gutem Kontakt stehen. Eltern sollten ehrlich reflektieren: Was kann mein Kind? Wo kann ich helfen? Wo will ich helfen? Wie viel Energie kann und will ich in den Übertritt meines Kindes investieren? Und: Wie geht es meinem Kind, wenn die komplette Unterstützungsmaschinerie in der fünften Klasse am Gymnasium plötzlich weg ist?" Eltern und Lehrkräfte sollten deshalb immer im Kontakt sein, vor allem wenn es Anzeichen gibt, dass sich Kinder zurückziehen und mit dem Druck nicht mehr umgehen können. Dass manche Eltern dann mit Anwälten kommen und der Schule vorschreiben wollen, wie beispielsweise Leistungserhebungen stattzufinden haben, nützt laut der BLLV-Präsindentin niemandem und greift nur die Professionalität der Lehrkräfte unnötig an.

Hinhören und im Dialog bleiben

Eltern und Lehrkräfte sollten deshalb an einem Strang ziehen, ein Gefühl für die Stärken und Schwächen der Kinder entwickeln und dabei vor allem die Wünsche der Kinder berücksichtigen. Sie sollten ganz genau hinhören, was ihr Kind selbst eigentlich will, was ihm Freude macht und was es vielleicht auch belastet - und sie sollten nichts überstürzen. Schulpsychologinnen und -psychologen können dabei eine gute Hilfe sein.

Das ganze Interview in der Abendzeitung können Sie >>HIER nachlesen (Stand 21.10.2024)!