Am 2. Mai werden in Bayern wieder die Übertrittszeugnisse ausgegeben. Die Noten in Deutsch, Mathematik und Heimat- und Sachunterricht (HSU) entscheiden dann ausschließlich, ob ein Kind auf die Mittelschule, die Realschule oder das Gymnasium gehen darf. Eine Praxis, die der BLLV seit vielen Jahren als unpädagogisch, unsachgemäß und nicht kindgerecht kritisiert. Welchem Stress 10-jährige Kinder, und auch deren Eltern, durch die Verteilung auf Schularten strikt nach Ziffernnoten ausgesetzt sind, hat nun auch RTL TV Bayern analysiert. Denn seit Oktober schreiben bayerische Grundschülerinnen und Grundschüler jede Woche eine Probe, häufig sogar zwei.
Grund ist schlicht der durch das Übertrittszeugnis entstehende Noten- und Zeitdruck, wie Sabine Bösl, Leiterin der Abteilung Berufswissenschaft des BLLV, im Gespräch mit RTL erläutert: „Das sind insgesamt 18 schriftliche Leistungsnachweise, die im Zeitraum von etwa Oktober – weil am Anfang des Schuljahres können wir natürlich noch keine Leistungsnachweise schreiben – bis zum Erhalt des Übertrittszeugnisses geschrieben werden müssen. Es gibt insgesamt vier probenfreie Wochen in dieser Zeit, die ziehen wir davon ab. Letztendlich bedeutet das für die Kinder, dass sie in fast jeder Schulwoche zwei Proben schreiben müssen, mindestens eine.“
Massiver Druck für einen suboptimalen Prozess
Dadurch verschiebt sich automatisch der Fokus weg von der Pädagogik, vom Lehren und Lernen, hin auf die reproduktiven Leistungsnachweise, die wegen der besonderen Bedeutung des Übertrittszeugnisses in Bayern gegebenenfalls auch juristischen Prüfungen standhalten müssen. Das ist weder für Pädagogen noch für die Kinder zielführend, stellt Sabine Bösl klar: „Die Lehrkräfte müssen von Leistungsnachweis zu Leistungsnachweis hetzen und spüren einfach, dass dadurch ganz großer Druck entsteht. Es ist sehr schwierig, wenn Kindern in der Grundschule nicht genügend Zeit gelassen werden kann, damit sie in ihrem individuellen Tempo lernen können. Denn das wollen wir ja eigentlich in der Grundschule.“
Dabei gibt es für diese erzwungene, unpädagogische Transformation des Grundschulalltags seit Oktober keinerlei wissenschaftliche oder statistisch belastbare Begründung, wie BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann gegenüber RTL Bayern betont: „Wir kritisieren diesen Übertritt, weil Kinder mit Zahlen schwer zu messen sind, und weil dieses Prinzip ‘2,33 fürs Gymnasium, 2,66 für die Realschule und schlechter, dann bleibst du hier‘ für manche Kinder echt schwierig ist. Außerdem platzieren wir die Kinder damit auch gar nicht optimal. Denn sonst dürfte ja kein Kind wiederholen müssen, sonst müsste ja nie ein Kind abgeschult werden. Es funktioniert also nicht, das ist nicht das Gelbe vom Ei.“
Bayerischer Irrweg
Das auch von Erziehungswissenschaftlern häufig kritisierte bayerische „Grundschul-Abitur“ ist dabei im bundesweiten Vergleich ein Unikat. In vielen anderen Ländern wird der Elternwille wenn nicht zum Maßstab gemacht, so doch zumindest einbezogen. Dafür macht sich der BLLV ebenfalls seit Langem stark. „Wir müssen uns endlich auf den Weg machen, weil wir das einzige Bundesland sind, in dem bei 10-jährigen drei Noten über drei Schularten zählen, und das ohne Elternwillen“, fordert Präsidentin Simone Fleischmann.
Das wäre zumindest ein Zwischenschritt. Er würde Druck von allen Beteiligten nehmen und einen Fokus auf echte Lern- und Bildungserfolge erlauben, statt juristisch wasserdichte Lebenschancenzuteilungen in den Mittelpunkt zu stellen, die statt echtem Verständnis nur ein Auswendig Lernen fördern, bei dem messbar wenig hängenbleibt.
Lernprozesse und individuelle Fortschritte fokussieren
Auf lange Sicht braucht es aus Sicht des BLLV aber ein systematisches Umdenken, betont Simone Fleischmann: „Im BLLV haben wir eine klare Vision: längere gemeinsame Schulzeit! Also auf keinen Fall nach der vierten Klasse aufgrund von drei Noten 10-jährige Kinder auf drei – wenn wir die Förderzentren mitrechnen, vier – Schularten verteilen. Das wollen wir nicht. Wir wollen ein längeres gemeinsames Lernen!“
Auch bei der Art der Leistungsmessung muss den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu Feedbackkultur und Motivationslehre endlich Rechnung getragen werden, fordert die BLLV-Präsidentin: „Wir wollen, dass nicht nur Noten entscheidend sind, sondern dass noch andere Feedbacks gegeben werden“, so Fleischmann. Denn Leistungsrückmeldung muss individuell und entwicklungsorientiert sein und auch den Lernprozess miteinbeziehen statt sich rein auf Ergebnisse zu beschränken.
Grundschulen zeigen, wie es gehen kann
Gemeinsames Lernen in gemischten Gruppen bietet ohnehin für alle große Chancen, ist die BLLV-Präsidentin überzeugt und sieht die Arbeit in Grundschulen dafür als besten Beweis: „Wir stehen für Heterogenität. Die scheint ja vier Jahre gut zu sein. Aber dann plötzlich nicht mehr …?“
» zum Beitrag bei RTL TV Bayern live: „Stress in der vierten Klasse“
Dieser Übertritt ist nicht das Gelbe vom Ei!
Im Gespräch mit Medienvertretern stellen Präsidentin Simone Fleischmann und BLLV-Expertin Sabine Bösl klar, dass die bayerische Übertrittsregelung ein pädagogisch unzeitgemäßes Unikat darstellt. Sie plädieren stattdessen für längeres gemeinsames Lernen.
Medienberichte
Simone Fleischmann im Wortlaut in den BR-Nachrichten:
„Viele Kinder fallen durchs Raster und über die denken wir nach. Um die würden wir uns gerne kümmern. Deswegen glauben wir, dass – gut differenziert – vielleicht acht oder sogar zehn Jahre gemeinsame Schulzeit wirklich angezeigt wären.“
Simone Fleischmann im Wortlaut beim Bayerischen Rundfunk und gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd):
"Man muss die Prognosekraft eines Notendurchschnitts von 2,33 fürs Gymnasium oder 2,66 für die Realschule bei einem Zehnjährigen kritisch hinterfragen. Die Abschulungsquoten und Wiederholungszahlen in Bayern sind extrem hoch."
"Ein inklusives Schulsystem kann zehnjährige Kinder nicht auf Grundlage eines Notenschnitts aus drei Fächern in drei Schularten sortieren – das passt nicht zusammen."
"Für CSU und Freie Wähle ist das dreigliedrige Schulsystem so etwas wie der Heilige Gral."
"Die Staatsregierung sieht frühe und scharfe Selektion als Garant für das etwas überdurchschnittliche Abschneiden bayerischer Schülerinnen und Schüler bei der PISA-Studie. Grund ist aber eher eine finanzstarke Elternschaft. Mich schmerzt das gerade als Lehrervertreterin, das so zu sagen: Aber wir haben größtenteils eine Elternschaft, die es sich leisten kann, die Lücken, die das System lässt, selbst aufzufüllen. Sie haben Zeit, mit den Nachwuchs zu lernen oder können sich umfangreiche Nachhilfe leisten."
Die BLLV-Präsidentin verweist in dem Zusammenhang auf Lern-Camps und einen boomenden Nachhilfemarkt, ganz besonders in Bayern.
Simone Fleischmann kritisiert Aussagen von Politik und Verbänden, die bayerische Mittelschule sei "die beste Schule überhaupt". Das liege daran, dass "die nie auf der Mittelschule waren und die auch nicht wissen, wie es sich für die Kinder anfühlt, aussortiert zu werden."
Simone Fleischmann im Wortlaut gegenüber der Frankenpost:
„Wir dürfen nicht aus Gewöhnung an allem festhalten, auch wenn die Erkenntnisse vorliegen, dass es anderswo bereits bessere Methoden gibt.“
"Wir brauchen einen grundlegenden Systemumbau im Schulwesen, der Zukunftskompetenzen stärker in den Mittelpunkt rückt."
Zum Argument des Bayerischen Philologenverbandes, dass eine IQB-Studie unter Viertklässern eine hohe Schulzufriedenheit ergeben habe und der Übertritt daher nicht so schlimm sein könne:
„In der IQB-Studie zur Schulzufriedenheit wurden weder Übertritt noch Leistungsdruck direkt abgefragt. Die Befragung zielte hauptsächlich auf die soziale Eingebundenheit der Schüler ab."
„Der Bildungserfolg hängt stark von den sozioökonomischen Verhältnissen ab."