München – Auch wenn Kultusminister Piazolo für dieses Schuljahr mehr Flexibilität bei Leistungsnachweisen, Prüfungs- und Versetzungsregelungen zugesagt hat. Fakt ist: Bildungsgerechtigkeit wird auch damit nicht möglich – zu verschieden ist die individuelle Situation der Schülerinnen und Schülern im Corona-Schuljahr und zu starr das System, das auf Lernen im Gleichschritt angelegt ist.
„Es zeigt sich wieder einmal ganz klar: Das bayerische Schulsystem und insbesondere die gymnasiale Struktur sind zu starr und haben kaum Antworten auf die jetzige Krise“, so BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Natürlich sei es momentan vor allem wichtig, Druck rauszunehmen und Eltern, Lehrern und Schülern Sicherheit zu geben. „Deshalb begrüßen wir, dass Kultusminister Piazolo dem Rechnung trägt, was wir schon lange sagen – dass dies kein normales Schuljahr ist und auch keines mehr werden wird.“ Der BLLV bewertet es als richtigen Schritt, dass Lehrkräften mehr Entscheidungsspielraum übertragen wird und sie die Anzahl der Leistungsnachweise für ihre Klasse eigenverantwortlich reduzieren und die Art und Weise flexibilisieren können. Größtmöglicher Handlungsspielraum für die Kolleginnen und Kollegen vor Ort ist notwendiger denn je. Auch dass ein freiwilliges Wiederholen des letzten sowie des aktuellen Schuljahres nicht auf die Höchstausbildungsdauer angerechnet werden soll, hatte der BLLV selbst mehrfach gefordert.
Doch es geht nicht nur um dieses Schuljahr. „Wir brauchen eine längerfristige Perspektive“, betont die BLLV-Präsidentin. Die Unterrichtssituation sei – anders als im Frühjahr, als alle Schulen zeitgleich im Lockdown waren – extrem heterogen. Und das nicht nur bei den verschiedenen Schulen, sondern auch innerhalb einer Jahrgangsstufe und sogar in der gleichen Klasse. „Es darf nicht sein, dass den Schülerinnen und Schülern in den Folgeschuljahren Nachteile entstehen, die aus den durch Wechsel- und Distanzunterricht oder Quarantäne-Fehlzeiten verursachten Lernrückständen resultieren.“ Ein freiwilliges Zurückgehen bedeute eben auch einen Verlust von einem Jahr Lebenszeit. Auch die in diesem Schuljahr angebotenen Brückenkurse seien zwar sinnvoll, müssten aber unbedingt noch weiter professionalisiert und flächendeckend ausgebaut werden. Manchmal fallen diese Brückenkurse dem Lehrermangel zum Opfer.
Darüber hinaus ist es für viele Schüler schlicht nicht zu bewältigen, zum Stoff des aktuellen Lehrplans noch Inhalte aus dem Vorjahr aufzuholen. Von echter Gerechtigkeit kann deshalb nicht die Rede sein.
„Machen wir uns doch mal ehrlich: Wir doktern an einem grundsätzlich kranken System herum und versuchen mit ständig neuen Maßnahmen, hier und da etwas auszugleichen, was nicht auszugleichen ist!“, so Fleischmann. „Dieses System basiert auf dem jahrzehntelangen Mythos, Lernen laufe bei allen Kindern und Jugendlichen in gleicher Form und in der gleichen Zeit ab – die Corona-Krise hat uns allen diese Fiktion doch besonders deutlich aufgezeigt!“
Modularisiertes Gymnasium
Schon vor einigen Jahren hatte der BLLV mit dem „Modularen Gymnasium“ ein alternatives Konzept vorgestellt, das den individuellen Bedürfnissen von Schülerinnen und Schülern besser gerecht wird. Es sieht passgenaue Fördermöglichkeiten und zusätzliche Lernzeiten vor und lässt die Gymnasiasten außerdem aus den Angeboten der Schule verschiedene Fach-und Zusatzmodule wählen. Insbesondere letztere ermöglichen eine gezielte und individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern, sowohl als Unterstützung als auch im Sinne einer Begabtenförderung. Wäre dieses Modell in Bayern Realität, müssten wir uns jetzt keine Gedanken machen, wie in Corona-Zeiten an Gymnasien Flexibilität, Individualität und Gerechtigkeit gelebt werden können.
Mehr Förderangebote, reduzierte Lehrplaninhalte, faire Abschlüsse
Der BLLV fordert in diesem Sinne kurzfristig zumindest eine Modularisierung von individuellen Förderangeboten, um die jetzige Bildungsungerechtigkeit unter den Kinder und Jugendlichen wenigstens etwas aufzufangen.
Ferner müssen unbedingt zeitnah weitere verbindliche Lehrplaninhalte, die Gegenstand der Abschlussprüfungen sind, gestrichen werden. Darüber hinaus muss den einzelnen Schulen, die von den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie besonders stark getroffen wurden, das Recht eingeräumt werden, in Eigenverantwortung alle Inhalte, die nicht behandelt wurden, auch nicht prüfen zu müssen. Die Fragen zur Ausgestaltung zentraler Abschlussprüfungen wie des Qualifizierenden Abschlusses der Mittelschule, des Mittleren Schulabschlusses oder des Abiturs müssen angesichts der stark unterschiedlichen Betroffenheit der Schulen durch die Corona-Krise dringend von der Politik rechtlich klar geregelt werden. Ein bloßer Aufschub, um Druck und Stress bei allen Beteiligten zu vermindern, reicht hier keinesfalls aus.
Ein bestehendes System in einer Krise zu verändern wird so nicht möglich sein.
„Jetzt mal ehrlich: Niemand leugnet mehr, dass im traditionellen System das Drehen an kleinen Schräubchen nichts mehr bringt. Die Politik muss endlich mutig und ehrlich handeln!“, fordert die BLLV-Präsidentin.