Catrin Boldebuck im Gespräch mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann, der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des BLLV, Juliane Dahlke und Robert Schwarzenböck, Teamleiter Kommunikation im BLLV.
Catrin Boldebuck im Gespräch mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann, der wissenschaftlichen Mitarbeiterin des BLLV, Juliane Dahlke und Robert Schwarzenböck, Teamleiter Kommunikation im BLLV.
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„Jedes fünfte Kind“ – Warum Kinderarmut unseren Wohlstand und unsere Freiheit gefährdet

Die Journalistin Catrin Boldebuck vom Magazin "stern" schreibt seit Jahren über Schule, Bildungspolitik und Chancengerechtigkeit. Am 2. Oktober 2024 erschien ihr Buch “Jedes fünfte Kind“ – BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann sprach mit ihr.

Catrin Boldebucks Thema hinter der Bildungsgerechtigkeit? Armut ist teuer: Warum alle profitieren, wenn keiner mehr in Armut lebt! Der Goldmann Verlag, in dem ihr Buch erschienen ist, schreibt dazu: „Die meisten glauben, wer in Deutschland etwas erreichen will, schafft das aus eigener Kraft. Arme haben selbst schuld an ihrer Situation. Doch das ist ein Irrtum – auch wenn vereinzelte Aufsteigergeschichten darüber hinwegtäuschen mögen. Wir leben in einer Klassengesellschaft, jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf.

Catrin Boldebuck hat einige dieser Kinder und Jugendlichen begleitet und jahrelang intensiv zu den Themen Chancengerechtigkeit und Bildung recherchiert. Mit diesem Buch lenkt sie den Blick auf eines der drängendsten, ungelösten Probleme unserer Gesellschaft. Denn Kinderarmut ist nicht nur moralisch ein Skandal. Wenn aus armen Kindern arme Erwachsene werden, ist das in Zeiten von Fachkräftemangel und demographischem Wandel auch volkswirtschaftlicher Irrsinn. Höchste Zeit, sich mit den Ursachen und Folgen von Kinderarmut auseinanderzusetzen – und Maßnahmen dagegen zu ergreifen.“

BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann nutzte die Gelegenheit für ein Gespräch über Bildungsgerechtigkeit, das wir hier in Auszügen wiedergeben.

Versagt Bayern beim Thema Bildungsgerechtigkeit?

Simone Fleischmann: Liebe Frau Boldebuck – Bildungsgerechtigkeit ist immer wieder Ihr Thema. Warum greifen Sie es jetzt erneut auf und warum gleich in einem ganzen – übrigens sehr spannenden – Buch, zu dem ich Ihnen in sehr vielen Punkten übrigens zustimmen kann? 

Catrin Boldebuck: Schule sollte der zentrale Moment sein, wo die soziale Herkunft keine Rolle spielt. Aber wir sehen leider, dass deutsche Schulen – und da macht Bayern keine Ausnahme, denn Bayern ist noch schlimmer als alle anderen – nicht in der Lage sind, soziale Unterschiede auszugleichen. Das heißt, die Kinder kommen an die Schule mit einem Entwicklungsunterschied von bis zu bis zu drei Jahren. Also beim Malen, beim Ausschneiden oder in der emotionalen Regulierung, das heißt: Wer kann wie mit Wut oder auch mit positiven Gefühlen umgehen.

Diese Unterschiede haben sehr viel damit zu tun, in welchem sozialen Umfeld die Kinder aufwachsen. Die Schule sollte in der Lage sein, das auszugleichen. Sie schafft es aber nicht. Im Gegenteil, sie verstärkt und verfestigt sogar diese Unterschiede noch. Und es sind gerade wieder zwei neue Studien in veröffentlicht worden, die zeigen: Es wird eher schlimmer als besser. Und das ist nicht nur ein moralisches Problem, denn Intelligenz hat nichts mit der sozialen Herkunft zu tun. Es ist sogar noch beschämend. Aber es ist auch noch gesamtwirtschaftlich ein Riesenproblem. 

Denn wir können uns das schlicht nicht mehr leisten. Wir kommen aus einer Zeit wo es mehr Menschen als Jobs gab, da konnte man sich das zumindest wirtschaftlich vielleicht noch erlauben, dass nicht alle mitgekommen sind. Aber das geht ja gar nicht mehr. Wir haben einen riesigen Fachkräftemangel. Wir diskutieren hier intensiv über die Frage Zuwanderung. Wie qualifizieren wir Menschen? Wie gehen wir eigentlich damit um, dass in Zukunft irgendwann ein junger Mensch zwei Rentner finanzieren soll oder zwei Rentnerinnen? Und wir haben ja schon jetzt jedes Jahr rund 50.000 Schülerinnen und Schüler, die die Schule verlassen ohne einen Abschluss. Das ist sozialer Sprengstoff und wir tun nichts dagegen. 


Simone Fleischmann: Herzlichen Dank – das war ja schon ein richtiger Rundumschlag im besten Sinn. Sie wissen ja auch, dass es uns genau um all diese Kinder diese Kinder geht die wir in der Schule und auf ihrem Bildungsweg nicht verlieren dürfen. Wir sehen oft, dass Höchstleistung und Eliten in der Gesellschaft und in den Medien viel Lobby haben, aber die Lobby für die Kinder mit Unterstützungs- und Förderbedarf sind dann oft nur wir. Und ich sage das ganz klar und mit Stolz, denn wir sind der Verband, der alle Schularten vertritt, aber natürlich sind viele von uns Grund- und Mittelschullehrkräfte und wir haben eben das Herz für diese Kinder. Wenn wir dann diese Haltung einnehmen und klar vertreten, dass wir möglichst viele Kinder und Jugendliche mitnehmen und fördern wollen, weil es uns eben allen nützt, dann wird uns leider oft eine „rosarote Brille“ unterstellt. Und da würde ich Sie jetzt gerne mal direkt mit einer Frage oder besser gesagt mit einer Provokation konfrontieren, die mir so oder ähnlich immer von einem Verwandten vor die Füße geworfen wird, der jetzt schon 90 Jahre alt ist und zu mir dann immer sagt: „Mein Gott, Simone, du mit deiner rosaroten Bildung mit Herz und Kopf und Hand. Es gibt nun mal immer die Gescheiten und die Dummen, das wirst du auch nicht ändern“. Was sagen Sie denn solchen Menschen? 

Catrin Boldebuck: Natürlich haben Menschen unterschiedliche Begabungen und Talente und das wird wahrscheinlich auch immer so bleiben. Aber das hat ja nichts mit der sozialen Herkunft zu tun. Leider ist es trotzdem so, dass diejenigen, die zu Hause weniger haben – also weniger Geld, weniger Bücher, weniger Bildung – meistens auch einen schlechteren Schulabschluss haben und dann ihre Kinder nicht so gut unterstützen können und sich das Ganze immer weiter fortsetzt. Und es ist ja auch nachgewiesen, dass manche Lehrkräfte – bewusst oder unbewusst – diejenigen fördern, die zu Hause begütert und besser gebildet sind. Und dass Kinder, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kommen, viel mehr leisten müssen, damit sie eine Gymnasialempfehlung bekommen. 

Das heißt, sie kommen ohnehin schon seltener aufs Gymnasium, und wenn sie dahin kommen, müssen sie mehr können als Gleichaltrige aus einem Akademikerhaushalt. Und wenn sie dann am Gymnasium sind, dann wird es für sie ungleich schwerer, diesen Leistungsstand zu halten. Gerade in sehr leistungsorientierten bayerischen Gymnasium, weil sie zu Hause nicht die Unterstützung haben, weil ihnen das nicht zugetraut wird. Und da geht es nicht darum, dass Bildung und Erfolg immer gleichzusetzen wäre mit Gymnasium. Es ist eben nur ein klarer Indikator. Und das ist zutiefst unfair und zutiefst ungerecht. Schöne Grüße an Ihren 90-jährigen Verwandten. Ja, die Unterschiede gibt es. Aber das dürfte nichts damit zu tun haben, was auf dem Konto von Mama und Papa ist. 

Beschämende politische Debatte

Simone Fleischmann: Vielen Dank für die Ausführung und ich bin da natürlich voll bei Ihnen. Und wichtig fand ich da natürlich besonders Ihre Anmerkung: Nein es muss nicht jeder und jede aufs Gymnasium und das Gymnasium ist eben auch nicht gleichzusetzen mit Bildungserfolg. 

Catrin Boldebuck: Überhaupt kann man ja auch gut sagen, das Gymnasium ist gar nicht gut genug, wie uns Pisa ja immer zeigt. Das ist aber ein anderes Thema. Wir brauchen auch dringend Handwerker. Und wenn ich einen Beruf erlernt habe, dann kann ich Geld verdienen, für mich selber sorgen. Ich werde dadurch wahrscheinlich gesünder leben. Da gibt es klare Zusammenhänge. Ich werde seltener straffällig, ich zahle Steuern, ich brauche mit geringerer Wahrscheinlichkeit Bürgergeld. Im Gegenteil, ich bin ein produktives Mitglied dieser Gesellschaft und wahrscheinlich, und das ist der nächste Punkt, wird eine solche Person seltener dazu neigen, irgendwann politisch frustriert zu sein. Geht die soziale Schere auf, bekommen rechte extremistische Parteien eher Zulauf – ein weiterer wichtiger Punkt für mehr Bildungsgerechtigkeit. 

Und eines würde ich gerne loswerden über die sehr heftige und teilweise auch sehr unschöne bis brutale öffentliche Debatte gesehen zum Thema Bürgergeld und Kindergrundsicherung. Das ist jetzt schon ein völlig verbranntes Thema und ich finde, wenn man beobachtet hat, wie dort Politiker in Talkshows oder in Interviews geredet haben, das war sehr herablassend, das war sehr beschämend. 

Da wurde gesagt Kindergrundsicherung sei Quatsch, das wollen wir hier nicht. Das geht alles nicht. Das kostet viel zu viel. Die ganze Diskussion war in jeder Hinsicht herabsetzend und beschämend. Ich frage mich: Hat sich überhaupt mal jemand von diesen Erwachsenen Gedanken darüber gemacht was mit den Kindern ist und was das macht mit Mädchen und Jungen? Weil die bekommen das mit, dass ihre Eltern und sie selbst herabgesetzt und als soziale Schmarotzer bezeichnet werden. Fragen sich diese Politiker, wie sich diese Menschen fühlen und wie sich deren Kinder fühlen und ob die noch Vertrauen haben können zu den Politikern im fernen Berlin?


Wenn das Geld an jeder Ecke fehlt

Simone Fleischmann: Vielen Dank. Das, was Sie jetzt am Schluss gesagt haben, das ist dieser Vertrauensverlust den wir überall bemerken und der ja seine Ursachen hat. Und dann beklagen wir diesen Vertrauensverlust der Menschen, die selbst so enttäuscht wurden. Ich verstehe sehr gut den Bogen, den Sie gemacht haben. Sie sprechen in Ihrem Buch auch viel über Kinderarmut. Wie ist Ihre Definition und wie haben Sie das Thema in ihren Recherchen wahrgenommen?

Catrin Boldebuck: Kinderarmut bedeutet, dass eine Familie unter einem bestimmten, von uns definierten Versorgungsniveau oder Einkommensniveau leben muss. Es gibt verschiedenste Armutsdefinitionen. Es gibt die extreme Armut, die sich zum Beispiel in Obdachlosigkeit zeigen würde. Aber davon reden wir nicht. Wenn wir davon reden, dass jedes fünfte Kind arm ist, dann bedeutet das, dass die Familie weniger als 60 Prozent eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens hat. Das bedeutet zum Beispiel bei einer vierköpfigen Familie, die zwei Kinder unter 14 hat, dass sie so circa 2.500 € pro Monat hat oder bei einer Alleinerziehenden mit Kind unter 14 circa 1.500 €. 

Dabei gibt es übrigens aus verschiedenen Gründen eine große Dunkelziffer und außerdem viele weitere Kinder, die in halb prekären Verhältnissen leben und wo sich diese dieser Mangel trotzdem durch das ganze Leben zieht. Die Leute können nicht in den Urlaub fahren, sie sind teilweise nicht in der Lage, sich ein neues Paar Schuhe zu leisten, sie haben kein Auto, sie können sich teilweise auch keine Mahlzeiten leisten, in der bestimmte Dinge drin sind, wie Fleisch oder so was. 

In der Schule - und das fällt dann ja auch auf - sind diese Kinder schlechter ausgestattet, was das ganze Equipment angeht. Das ist ja sehr teuer, wenn man so eine Erstausstattung anguckt. Da gibt es dann die Kinder mit den schlechteren Federmäppchen oder mit den fehlenden Stiften. Dann gibt es die Kinder, die kein Frühstück zu Hause bekommen oder die kein Pausenbrot dabeihaben.

Deshalb habe ich für mein Buch sehr viel mit jungen Erwachsenen geredet, weil die sehr gut in der Rückschau erklären können, wie sie das empfunden haben. Und die sagen zum Beispiel immer wieder: Mir ist erst in der Schule klar geworden, dass ich weniger habe als andere – von den Klamotten angefangen bis hin zur schicken Brotdose. Und die einen haben gar kein Brot dabei und die anderen nur einen labbrigen Toast. Und wieder andere haben eine schöne dunkle Scheibe Brot, die gut belegt ist und da liegt auch noch was daneben. Da ist klein geschnittenes Gemüse, Apfel und so weiter. Das sehen Kinder und das sehen übrigens auch Lehrer. 

Es gibt ein Schulbarometer von 2022, das belegt wie die Lehrer sehr genau beobachten, dass sich da die soziale Schere immer weiter auftut – übrigens natürlich eher in Grund-, Mittel- und Realschulen als am Gymnasium. Die betroffenen Kinder können häufig nicht mit auf Klassenreisen oder zum Ausflug gehen, weil das Geld zu Hause fehlt. Natürlich gibt es Unterstützungen, aber das reicht oft nicht und viele Eltern schämen sich oder wissen gar nicht, wie sie Hilfe bekommen. Deswegen fallen häufig Kinder plötzlich kurz vor dem Schulausflug aus. 

Oft haben diese Kinder auch ein viel engeres Umfeld, in dem sie sich bewegen als andere Gleichaltrige, die ganz selbstverständlich Ausflüge und Urlaube machen, neue Erfahrungen machen und lernen, sich zu bewegen in der Welt und irgendwie auch in ihrem sozialen Umfeld. Und davon betroffen ist etwa jedes fünfte Kind – 3 Millionen in Deutschland. 

Über Schulstruktur und Bildungsgerechtigkeit

Simone Fleischmann: Vielen Dank auch für den Bogen. Ich würde gerne ein Beispiel selbst schnell erzählen. Ich habe auch als Schulleiterin immer noch gerne Kunst gegeben. Da habe ich oft erlebt, dass – wenn wir am Ende die Bilder von den Kindern selbst haben bewerten haben lassen – wir dann mit der Bewertung aufgehört haben. Warum? Weil man die hochwertigen Farbkästen und die Farben natürlich nicht mit denen vom Grabbeltisch vergleichen kann. Das ist dann schon spannend auch bei Diskussionen über Leistung. Bei den Billigfarben kann man machen was man will und rühren wie man will, wenn die Qualität der Farbpigmente nicht stimmt. Das eine Bild hat leuchtende Farben und das andere sieht aus wie ein Putzlappen. Und am Ende hatten viele mit den tollen Farbkästen zwar weniger Kompetenz aber bessere Noten. Das finde ich beim Kunstunterricht immer total sinnbildlich. 

Catrin Boldebuck: Da haben Sie völlig recht – ein gutes Beispiel. 

Und das nächste ist, finde ich, dass auch oft die Schulen in benachteiligten Vierteln oft mehr Schüler mit Herausforderungen haben und mit einem schlechteren Leistungsniveau und dass dort dann auch noch die Schulen oft schlechter ausgestattet sind – da kommt dann alles zusammen. 

Und da sind wir auch schon bei der anderen ewigen Debatte: Wäre es nicht besser, man hätte ein anderes Schulsystem – vor allem für Bayern? Es gibt ja immer wieder Hinweise aus großen Studien, dass beispielsweise die Zweigliedrigkeit gut wäre. Also die Kinder nicht so früh trennen und länger gemeinsam lernen lassen. Es schadet den Besseren Schülerinnen und Schülern nicht, aber es nützt den Schlechteren und gibt einigen die belegbare Chance, noch zu den Besseren aufzurücken.

Außerdem ist Schule nicht nur ein Ort, wo ich Mathe, Deutsch und Englisch lerne und Kunst mache, sondern es ist ein Ort der Begegnung. Es ist ein Ort, wo ich sozialisiert werde. Denn wir sehen doch, dass es immer weniger Begegnung gibt dadurch, dass diese Segregation in der Schule stattfindet und immer stärker wird. Das heißt also, die armen Kinder leben in München in bestimmten Vierteln und die Begüterten leben in den anderen Vierteln. Man begegnet sich überhaupt nicht. Das heißt, es gibt auch gar kein Verständnis mehr füreinander. Und gerade Kinder, also darauf müssen wir irgendwie auch mal vertrauen können oder hoffen können, wären ja vielleicht noch in der Lage, sich ganz anders zu begegnen. 

Simone Fleischmann: Da fällt mir noch ein schönes Beispiel ein, was ganzheitliche Bildung eigentlich sein und bedeuten kann. Ich hatte als Schulleiterin eine Freundin als externe Expertin im Ganztag und die war Opernsängerin. Die ist gezielt auf Kinder mit besonderen Herausforderungen zugegangen – hauptsächlich im Bereich der Mittelschule in der achten oder neunten Klasse – denen sie einzeln Gesangsunterricht gegeben hat. Und ganz einfach evidenzbasiert zeigte sich, dass die unsicheren Jugendlichen dann plötzlich wie Mariah Carey auf der Bühne stehen bei Veranstaltungen und ein ganz anderes Selbstbewusstsein bekommen und dann auch bei den schulischen Leistungen plötzlich messbar angezogen haben. Diese Kinder hätten natürlich anders nie die Chance gehabt, so einen Gesangsunterricht zu bekommen. Da waren Mädchen und Jungen dabei, bei denen wir schon kurz davor waren aufzugeben, dass wir die irgendwie weiterbringen – und plötzlich hatten die viel bessere Mathenoten durch das Singen und das veränderte Selbstbewusstsein. Und eine unserer eher schüchternen Schülerinnen, die selbst nie gedacht hätte, dass sie so gut singen kann, hatte eine absolute Glanzstimme. Die ist super ausgebildet worden und die hat dann all unsere „Big Events“ an der Schule eröffnet vor 300 bis 400 Menschen. Deswegen finde ich solche Projekte so schön und wichtig. 

Der 10-Punkte Plan gegen Kinderarmut

(Aus: „Jedes fünfte Kind“ von Catrin Boldebuck/2024; zusammengefasst von Juliane Dahlke, BLLV)

1. Arme Kinder brauchen mehr Sichtbarkeit und Respekt
„Es sollte anerkannt werden, dass der Kampf gegen Kinderarmut eine fundamentale Aufgabe ist, etwas ganz Grundsätzliches, das alle angeht. Eine gemeinsame Pflicht.“

2. Arme Kinder brauchen einen guten Bildungsstart
„Wie ein Kind aufwächst, prägt sein gesamtes Leben. Wer aus einer armen Familie kommt, hat schlechtere Startchancen. Diese wachsen sich nicht von allein aus, sondern die Nachteile potenzieren sich, sie werden in der Schule größer.“

3. Arme Kinder brauchen die beste Schule, die es gibt
„Das gesamte Bildungssystem steckt in einer fundamentalen Krise. Das dreigliedrige Schulsystem ist überholt. Eigentlich bräuchte es eine grundsätzliche Reform. […] Zunächst könnten die Grundschulen gestärkt werden, denn hier sollen alle Kinder die Grundfertigkeiten lernen: Lesen, Schreiben und Rechnen. Dagegen wird es vermutlich keine Vorbehalte geben, schließlich profitieren davon alle. Dafür braucht es jedoch mehr Zeit für gemeinsames Lernen. Die Grundschule sollte zu echten Ganztagsschulen ausgebaut werden […]“

4. Arme Kinder brauchen die besten Pädagogen und Pädagoginnen, die es gibt
„Angehende Pädagoginnen und Pädagogen sollten darin geschult werden, sozial benachteiligte Mädchen und Jungen zu erkennen und zu fördern. Manchen scheint eine armutssensible Haltung zu fehlen.“ 

5. Arme Kinder mit Migrationshintergrund brauchen bessere Chancen
„Und deshalb wäre die bessere Integration von Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund ein Hebel, um mehr Kinder aus Armut und Benachteiligung zu holen. […] Doch die Lehrkräfte an den Schulen werden mit dieser Herkulesaufgabe mehr oder weniger allein gelassen, die ist zu ihren vielfältigen Aufgaben über die Jahre einfach noch obendrauf gekommen.“

6. Arme Kinder brauchen Kümmerer, Vorbilder, Unterstützer
„Arme Kinder haben seltener Mütter und Väter, die mit ihnen für die Schule lernen, Vokabeln abfragen, sich im Elternrat der Schule engagieren, beim Formulieren des Lebenslaufs helfen. Diese Kinder brauchen in der Schule nicht nur zugewandte Lehrer, sondern zusätzliche Mentoren, Unterstützer – Menschen, die sich langfristig um sie kümmern, sie beim Aufwachsen begleiten und ermutigen.“

7. Arme Kinder brauchen Geld
„Die Kindergrundsicherung wäre gut für die Wirtschaft, den Staat, die Eltern, aber vor allem für die Kinder. Eine Win-win-Situation. Die Experten haben ausgerechnet, dass sich die Einführung nach 18 Jahren rechnen wird, dann übersteigen die Einnahmen die Ausgaben.“

8. Arme Kinder brauchen Rechte – und alle anderen Kinder auch
„Aus diesem Grund gehören Kinderrechte ins Grundgesetz. Bislang werden Kinder dort lediglich als Objekte, nicht als Subjekte gehandelt.“

9. Arme Kinder brauchen Sport, Musik, Theater – und ein warmes Mittagessen
„Damit sie sich nicht schämen müssen, wenig Geld zu haben, brauchen arme Kinder und Jugendliche geschützte öffentliche Spielplätze, außerdem vergünstigte oder kostenlose Sport- und Kulturangebote. All das könnte in einer guten Ganztagsschule stattfinden […]“

10. Arme Kinder brauchen ihre Eltern
„Mütter und Väter, die ihre Kinder nicht ausreichend versorgen und unterstützen können, brauchen den Wohlfahrtsstaat und die Unterstützung der Gemeinschaft.“

Simone Fleischmann: Sie haben in Ihrem Buch einen 10-Punkte Plan gegen Kinderarmut beschrieben. Was sagen Sie denn einem älteren konservativen Mann in Bayern, der wenig über Armut weiß, dass es nicht schlecht wäre, wenn er sich dafür auch engagiert? 

Catrin Boldebuck: Ich würde ihm sagen, dass es in seinem ureigenen Interesse ist, weil irgendjemand ja, wie gesagt, seine Rente finanzieren soll, jemand informiert wählen gehen soll und so weiter. Da muss er also ein Interesse daran haben, dass alle mitgenommen werden. Und auch Bayern wird diverser. Auch Bayern ist bunter geworden und nicht mehr so klassisch homogen, wie es mal früher war. Und wir können als Gesellschaft kein Interesse daran haben, dass wir so viele Leute zurücklassen, weil es uns am Ende viel teurer kommt und auch ihn und wie er das eigentlich politisch verantworten kann. 

Und da möchte ich auch nochmal auf konkrete Zahlen verweisen, beispielsweise auf Ludger Wößmann vom ifo Institut, den Bildungsökonomen aus München. Der beschäftigt sich ja sehr viel mit Bildungschancen? Sie können es nachlesen im ifo Schnelldienst 05/2024 im Aufsatz“ Ungleiche Bildungschancen: Ein Blick in die Bundesländer.“ Aus den einfachen Fakten geht ganz klar hervor, dass Deutschland insgesamt vergleichsweise ungerecht ist bei der Verteilung von Bildungschancen und dass Bayern zu den Schlusslichtern gehört, wenn wir auf die Bildungsgerechtigkeit kucken. Und ganz offensichtlich ist es so, dass eine längere gemeinsame Schulzeit zu mehr Chancen führt.  

Und wenn ich die bayerische Politik sehe und auch Herrn Söder, der sich ja auch gerne einmischt in das Thema Bildung und der sich dann hinstellt und sagt: „Also wir hier in Bayern mit unserem Schulsystem, das ist doch alles großartig. Wir sind hier die Leistungselite“, dann muss ich sagen unter dem Gesichtspunkt der Bildungsgerechtigkeit ist das alles eine glatte fünf!

Zuhören und Wertschätzung zeigen

Juliane Dahlke, Wissenschaftliche Mitarbeiterin BLLV: Ich habe Ihr Buch mit Begeisterung gelesen. Neben all den Fakten und Ihrer ganzen Recherche haben Sie auch ganz viel mit Betroffenen gesprochen, also mit Menschen die es aus unterschiedlichsten Gründen nicht leicht hatten in der Schule. Wie war denn da die Rückmeldung? Wie ist denn deren Blick heute?

Catrin Boldebuck: Ich habe mit vielen jungen Menschen gesprochen über dieses teils schwierige und für viele auch schambehaftete Thema und da hat es mich wirklich berührt, dass viele einfach sagten: „Danke, dass du fragst. Danke, dass mir mal einer zuhört und ich bin froh, wenn du das aufschreibst“. Und ich habe allen Befragten auch alles gezeigt, was ich über sie veröffentlicht habe – und das ist nicht selbstverständlich, aber dieser Respekt war mir bei diesem Thema wichtig. Und ich habe immer die Namen geändert – außer bei einzelnen Zitaten. Ich habe mit allen viel darüber diskutiert, was sich ändern müsste und was die richtigen Maßnahmen wären. Und das ist natürlich auch alles in mein Buch eingeflossen, aber bei den meisten wurde klar: Ja man braucht Hilfe und man braucht Unterstützung und da kommt einfach der Punkt wo man jemanden braucht der an einen glaubt, damit man einen Hebel findet wie man vorankommt.

Robert Schwarzenböck, Teamleiter Kommunikation BLLV: Gelang es denn den Schulen früher besser, Bildungschancen auszugleichen. Und wenn ja, warum? Haben wir zu wenig Geld im System? Haben wir zu wenig Lehrkräfte? Brauchen wir eine andere Lehrkräftebildung?

Catrin Boldebuck: Ja, Geld spielt eine Rolle. Aber ich glaube, mehr Geld allein ist es nicht, sondern es ist die Frage der Verteilung. Also es wird mehr Geld fürs Gymnasium ausgegeben als für die Grundschule und man müsste es genau umgekehrt machen. Und man sollte Bildung konsequenter zusammendenken. Beispielsweise ist die Kita für sich ja fast immer noch ein eigenständiger Bereich. Warum packt man, denkt man das nicht viel stärker zusammen? 

Man müsste auch viel mehr Geld in die in die Kita stecken, um dort zu versuchen Nachteile auszugleichen, alle Kinder auf den fast gleichen bestmöglichen Stand zu bringen, damit sie dann die gleichen Startchancen in der Schule haben. Da müsste noch mehr passieren. Schön, dass es da jetzt wieder ein paar Milliarden extra gibt. Aber das reicht nicht. Und weil sie nach der Veränderung im Vergleich zu früher fragen: Also diese Zahl, jedes fünfte Kind, die bleibt weitestgehend gleich, wenn Sie sich beispielsweise die Zeitreihen vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ansehen. 

Aber früher waren die Herausforderungen in der Gesellschaft andere. Da hat man dann eben gesagt: „Na gut, es kommen eben nicht alle mit“. Aber die soziale Schere geht weiter auf und es ist schon so, dass wir immer mehr verlieren die nicht mehr mitkommen. Das hat teilweise auch mit Zuwanderung und Sprache zu tun. Aber das kann uns ja nicht egal sein. Da müssen wir doch was tun. Wir sind doch ein Einwanderungsland, da kommen wir doch gar nicht dran vorbei. Und auch Bayern hat ja nun viele Geflüchtete aufgenommen. Haben wir aus 2015 irgendwas gelernt? Ich fürchte nein. Die Schule und die meisten Lehrer, das finde ich wichtig, machen das so gut, wie sie können. Ich glaube, da fühlen sich aber viele wirklich im Stich gelassen, allein gelassen. Und ein weiteres Problem ist natürlich, dass auch oft die diagnostischen Tools fehlen um den Förderbedarf genau zu erkennen.

Simone Fleischmann: Ja da gibt es einige System-immanente Fallen. Wir müssen aber auch aufpassen, dass wir dann nach Analyse und Diagnostik auch die Möglichkeiten und die Ressourcen haben, entsprechend fördern zu können und das ist etwas, was wir immer wieder anmahnen: Diagnostik braucht auch die Möglichkeit dann entsprechend reagieren zu können und da sind wire natürlich dann bei den Menschen die es umsetzen müssen. Und es bräuchte den Mut der Politik, um aus den Analysen dann auch ins Handeln zu kommen. Und es liegt natürlich hauptsächlich an der Politik – manchmal an den Köpfen und manchmal am System. Jetzt vor der Wahl ist vieles offen – wir schweben irgendwie im luftleeren Raum, beispielsweise beim Digitalpakt 2 oder beim Startchancen-Programm. Jetzt lägen mal die Programme da und jetzt haben wir da keinen, der anzieht. Aber leider scheint das Thema keines zu sein, mit dem man die Wählerinnen bei der Wahl für sich begeistern kann.