Wenn das Geld an jeder Ecke fehlt
Simone Fleischmann: Vielen Dank. Das, was Sie jetzt am Schluss gesagt haben, das ist dieser Vertrauensverlust den wir überall bemerken und der ja seine Ursachen hat. Und dann beklagen wir diesen Vertrauensverlust der Menschen, die selbst so enttäuscht wurden. Ich verstehe sehr gut den Bogen, den Sie gemacht haben. Sie sprechen in Ihrem Buch auch viel über Kinderarmut. Wie ist Ihre Definition und wie haben Sie das Thema in ihren Recherchen wahrgenommen?
Catrin Boldebuck: Kinderarmut bedeutet, dass eine Familie unter einem bestimmten, von uns definierten Versorgungsniveau oder Einkommensniveau leben muss. Es gibt verschiedenste Armutsdefinitionen. Es gibt die extreme Armut, die sich zum Beispiel in Obdachlosigkeit zeigen würde. Aber davon reden wir nicht. Wenn wir davon reden, dass jedes fünfte Kind arm ist, dann bedeutet das, dass die Familie weniger als 60 Prozent eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens hat. Das bedeutet zum Beispiel bei einer vierköpfigen Familie, die zwei Kinder unter 14 hat, dass sie so circa 2.500 € pro Monat hat oder bei einer Alleinerziehenden mit Kind unter 14 circa 1.500 €.
Dabei gibt es übrigens aus verschiedenen Gründen eine große Dunkelziffer und außerdem viele weitere Kinder, die in halb prekären Verhältnissen leben und wo sich diese dieser Mangel trotzdem durch das ganze Leben zieht. Die Leute können nicht in den Urlaub fahren, sie sind teilweise nicht in der Lage, sich ein neues Paar Schuhe zu leisten, sie haben kein Auto, sie können sich teilweise auch keine Mahlzeiten leisten, in der bestimmte Dinge drin sind, wie Fleisch oder so was.
In der Schule - und das fällt dann ja auch auf - sind diese Kinder schlechter ausgestattet, was das ganze Equipment angeht. Das ist ja sehr teuer, wenn man so eine Erstausstattung anguckt. Da gibt es dann die Kinder mit den schlechteren Federmäppchen oder mit den fehlenden Stiften. Dann gibt es die Kinder, die kein Frühstück zu Hause bekommen oder die kein Pausenbrot dabeihaben.
Deshalb habe ich für mein Buch sehr viel mit jungen Erwachsenen geredet, weil die sehr gut in der Rückschau erklären können, wie sie das empfunden haben. Und die sagen zum Beispiel immer wieder: Mir ist erst in der Schule klar geworden, dass ich weniger habe als andere – von den Klamotten angefangen bis hin zur schicken Brotdose. Und die einen haben gar kein Brot dabei und die anderen nur einen labbrigen Toast. Und wieder andere haben eine schöne dunkle Scheibe Brot, die gut belegt ist und da liegt auch noch was daneben. Da ist klein geschnittenes Gemüse, Apfel und so weiter. Das sehen Kinder und das sehen übrigens auch Lehrer.
Es gibt ein Schulbarometer von 2022, das belegt wie die Lehrer sehr genau beobachten, dass sich da die soziale Schere immer weiter auftut – übrigens natürlich eher in Grund-, Mittel- und Realschulen als am Gymnasium. Die betroffenen Kinder können häufig nicht mit auf Klassenreisen oder zum Ausflug gehen, weil das Geld zu Hause fehlt. Natürlich gibt es Unterstützungen, aber das reicht oft nicht und viele Eltern schämen sich oder wissen gar nicht, wie sie Hilfe bekommen. Deswegen fallen häufig Kinder plötzlich kurz vor dem Schulausflug aus.
Oft haben diese Kinder auch ein viel engeres Umfeld, in dem sie sich bewegen als andere Gleichaltrige, die ganz selbstverständlich Ausflüge und Urlaube machen, neue Erfahrungen machen und lernen, sich zu bewegen in der Welt und irgendwie auch in ihrem sozialen Umfeld. Und davon betroffen ist etwa jedes fünfte Kind – 3 Millionen in Deutschland.
Über Schulstruktur und Bildungsgerechtigkeit
Simone Fleischmann: Vielen Dank auch für den Bogen. Ich würde gerne ein Beispiel selbst schnell erzählen. Ich habe auch als Schulleiterin immer noch gerne Kunst gegeben. Da habe ich oft erlebt, dass – wenn wir am Ende die Bilder von den Kindern selbst haben bewerten haben lassen – wir dann mit der Bewertung aufgehört haben. Warum? Weil man die hochwertigen Farbkästen und die Farben natürlich nicht mit denen vom Grabbeltisch vergleichen kann. Das ist dann schon spannend auch bei Diskussionen über Leistung. Bei den Billigfarben kann man machen was man will und rühren wie man will, wenn die Qualität der Farbpigmente nicht stimmt. Das eine Bild hat leuchtende Farben und das andere sieht aus wie ein Putzlappen. Und am Ende hatten viele mit den tollen Farbkästen zwar weniger Kompetenz aber bessere Noten. Das finde ich beim Kunstunterricht immer total sinnbildlich.
Catrin Boldebuck: Da haben Sie völlig recht – ein gutes Beispiel.
Und das nächste ist, finde ich, dass auch oft die Schulen in benachteiligten Vierteln oft mehr Schüler mit Herausforderungen haben und mit einem schlechteren Leistungsniveau und dass dort dann auch noch die Schulen oft schlechter ausgestattet sind – da kommt dann alles zusammen.
Und da sind wir auch schon bei der anderen ewigen Debatte: Wäre es nicht besser, man hätte ein anderes Schulsystem – vor allem für Bayern? Es gibt ja immer wieder Hinweise aus großen Studien, dass beispielsweise die Zweigliedrigkeit gut wäre. Also die Kinder nicht so früh trennen und länger gemeinsam lernen lassen. Es schadet den Besseren Schülerinnen und Schülern nicht, aber es nützt den Schlechteren und gibt einigen die belegbare Chance, noch zu den Besseren aufzurücken.
Außerdem ist Schule nicht nur ein Ort, wo ich Mathe, Deutsch und Englisch lerne und Kunst mache, sondern es ist ein Ort der Begegnung. Es ist ein Ort, wo ich sozialisiert werde. Denn wir sehen doch, dass es immer weniger Begegnung gibt dadurch, dass diese Segregation in der Schule stattfindet und immer stärker wird. Das heißt also, die armen Kinder leben in München in bestimmten Vierteln und die Begüterten leben in den anderen Vierteln. Man begegnet sich überhaupt nicht. Das heißt, es gibt auch gar kein Verständnis mehr füreinander. Und gerade Kinder, also darauf müssen wir irgendwie auch mal vertrauen können oder hoffen können, wären ja vielleicht noch in der Lage, sich ganz anders zu begegnen.
Simone Fleischmann: Da fällt mir noch ein schönes Beispiel ein, was ganzheitliche Bildung eigentlich sein und bedeuten kann. Ich hatte als Schulleiterin eine Freundin als externe Expertin im Ganztag und die war Opernsängerin. Die ist gezielt auf Kinder mit besonderen Herausforderungen zugegangen – hauptsächlich im Bereich der Mittelschule in der achten oder neunten Klasse – denen sie einzeln Gesangsunterricht gegeben hat. Und ganz einfach evidenzbasiert zeigte sich, dass die unsicheren Jugendlichen dann plötzlich wie Mariah Carey auf der Bühne stehen bei Veranstaltungen und ein ganz anderes Selbstbewusstsein bekommen und dann auch bei den schulischen Leistungen plötzlich messbar angezogen haben. Diese Kinder hätten natürlich anders nie die Chance gehabt, so einen Gesangsunterricht zu bekommen. Da waren Mädchen und Jungen dabei, bei denen wir schon kurz davor waren aufzugeben, dass wir die irgendwie weiterbringen – und plötzlich hatten die viel bessere Mathenoten durch das Singen und das veränderte Selbstbewusstsein. Und eine unserer eher schüchternen Schülerinnen, die selbst nie gedacht hätte, dass sie so gut singen kann, hatte eine absolute Glanzstimme. Die ist super ausgebildet worden und die hat dann all unsere „Big Events“ an der Schule eröffnet vor 300 bis 400 Menschen. Deswegen finde ich solche Projekte so schön und wichtig.