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Auftakt zur Veranstaltungsreihe „Bildung gerecht gestalten“ am 12. Oktober 2024 Startseite Topmeldung
Bildungsgerechtigkeit Bildungsqualität

Endlich den Kindern gerecht werden!

Bildungserfolg hängt hierzulande noch immer stark vom Zufall ab. Genauer: Vom Geldbeutel der Eltern. Doch Potentiale verkümmern zu lassen, rächt sich doppelt: Für die Menschen mit dem Stempel „Bildungsverlierer“ - und für die Gesellschaft. Das alles ist längst bekannt, doch gebessert hat sich nichts, im Gegenteil. Daher hat der BLLV mit seiner Abteilung Schul- und Bildungspolitik im Oktober eine mehrjährige Dialogreihe zum Thema Bildungsgerechtigkeit gestartet. Schulpraxis, Wissenschaft, Ministerium und Parteien kommen miteinander ins Gespräch – handlungsorientiert, lösungsorientiert.

Dieser Artikel erscheint im BLLV-Magazin "bayerische Schule" in der kommenden Ausgabe #06 2024. Hier lesen Sie den Artikel jetzt schon vorab.

Immer mehr Kinder erfüllen nicht einmal mehr die Mindestanforderungen in den Basiskompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen, das ist statistisch belegt und Allgemeinplatz in jeglicher bildungspolitischer Diskussion. Ebenfalls statistisch belegt - aber weit weniger beachtet - ist der Trend im Trend: Es sind überdurchschnittlich viele Kinder aus Haushalten mit prekärem Hintergrund, die hinterherhinken. Bei nahezu jedem zweiten von ihnen beträgt der Rückstand am Ende der Grundschulzeit eineinhalb Jahre. Eineinhalb von vier Jahren! Und ausgerechnet jene Schulen, an denen sich das Drama des benachteiligten Kindes vorwiegend abspielt, sind häufig die am schlechtesten ausgestatteten mit zu wenig Ressourcen.

Diese Befunde präsentierte und belegte Prof. Dr. Nina Bremm in ihrer Keynote-Rede bei der BLLV-Tagung „Bildung gerecht gestalten“ Die Inhaberin des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der FAU Erlangen-Nürnberg referierte Mitte Oktober in der Landesgeschäftsstelle des Verbandes vor einem Expertenpublikum. Gekommen waren die bildungspolitischen Sprecherinnen und Sprecher der demokratischen Landtagsfraktionen, Ministerialdirektor Martin Wunsch, sowie die Fachleute für Schul- und Bildungspolitik des BLLV aus ganz Bayern. Doch selbst vor diesem kundigen Auditorium blickte die Bildungsforscherin in betroffene Gesichter.

Jeder hier konnte die nackten Zahlen zur sozialen Benachteiligung mit konkreten Namen eigener Schülerinnen und Schüler verbinden. Jedem hier war klar, was wachsende Segregation, vulgo: die Trennung von Arm und Reich, für diese Gesellschaft bedeutet. Dass es da um Menschen geht, die aufgrund ihres frühen Scheiterns das Vertrauen in Institutionen und Demokratie verloren oder nie gewonnen haben. Und um Menschen, denen das alles vermeintlich egal sein kann.

Warum aber ist Bayern dasjenige Bundesland, in dem Bildungsgerechtigkeit der Bildungsforscherin zufolge am wenigsten von allen realisiert ist? Wo jedes zweite Kind aus wohlhabenden Haushalten das Gymnasium besucht, aber nur jedes fünfte aus ärmeren Verhältnissen? Wissen um die Zusammenhänge wäre ja ausreichend vorhanden. Warum also diese Armutserklärung des reichen Freistaats? Prof. Bremms Einschätzung: „Die Kinder aus dem sozial benachteiligten Milieu haben einfach keine Lobby.“ Im Klartext: Mit denen kann man's halt machen. Der BLLV nimmt das nicht hin. Er sieht sich - als der einzige Verband für alle Schularten-  sehr wohl als „die Lobby für diese Kinder“, wie Präsidentin Simone Fleischmann einmal mehr betonte.

 

Sabine Bösl, Leiterin der Abteilung Schul- und Bildungspolitik, initiierte die Tagung und lud nach München, um das Thema „Bildung gerecht gestalten“ auf die Agenda zu bringen. Sie will mehr Aufmerksamkeit auf dieses wichtige Thema lenken. Nicht für diesen einen Tag, sondern für die nächsten drei Jahre, als zentrales bildungspolitisches Anliegen des BLLV. Bildung ist der entscheidende Schlüssel für die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und nicht zuletzt politische Teilhabe in der Gesellschaft. Jedes Kind soll die gleichen Chancen auf eine erfolgreiche Zukunft haben. „Sollte das nicht eine Selbstverständlichkeit sein?“, fragte Bösl in ihrer Einführung. Chancengerechtigkeit müsse auch in Bayern engagierter verfolgt werden.

„Alles was wir in jungen Jahren versäumen, können wir meist nicht mehr aufholen.“ Zum Auftakt der Veranstaltungsreihe, moderiert von Sybille Giel vom Bayerischen Rundfunk, legte die Grundschulrektorin natürlich keine unterschriftsreife Lösung für einen der hartleibigsten gesellschaftlichen Missstände vor, aber sieben Thesen zur Orientierung für einen Dialog. Wir sollten alles dafür tun, damit uns kein Kind verloren geht“, appellierte die Abteilungsleiterin.

 

Wie das gelingen kann, darüber diskutierten die Gäste. Da wurde trotz unterschiedlicher Parteizugehörigkeiten oder Weltanschauungen nicht debattiert, man tauschte sich aus. Über eine längere gemeinsame Schulzeit; mehr Lehrkräfte und multiprofessionelle Teams; intensivere frühkindliche Bildung; wirksame Unterstützungsprogramme für Schulen in besonders herausfordernden Lagen; den Abbau von selektiven institutionellen Bildungsbarrieren; sozialpolitische Reformen; einen Ausbau des Ganztags durch ein fundiertes pädagogisches Konzept.

Martin Wunsch als Amtschef im Kultusministerium, der bei der Veranstaltung die Staatsministerin vertrat, betonte: „Für Frau Staatsministerin Stolz ist Chancengerechtigkeit an Bayerns Schulen und Bildungsgerechtigkeit ein ganz zentrales Anliegen.“ Alle Kinder hätten ein Recht auf bestmögliche, qualitätsvolle Bildung, auf Förderung ihrer individuellen Begabungen und auf Entfaltung des eigenen Potenzials. Als geeignete Mittel gegen die vorhandenen Missstände zählte er eine ganze Reihe bekannter Maßnahmen auf: Das Startchancenprogramm, die kommenden Sprachstandserhebungen bei 4,5-Jährigen, die PISA-Offensive an den Grundschulen mit „einem Plus an Zeit für die Basiskompetenzen“, die Entbürokratisierungsoffensive, die Investitionen in Ganztag und Schulentwicklung, die Lehrkräftegewinnung und -ausbildung.

 

Als nicht geeignete Maßnahmen betrachtete Wunsch eine längere gemeinsame Grundschulzeit und den Abbau der Selektion. „Das gegliederte System ist das richtige, um jedem einzelnen Schüler, jeder Schülerin gerecht zu werden“, betonte er. Und Bildungsgerechtigkeit wolle er nicht am Gymnasialbesuch festmachen. In Bayern gelte: „Kein Abschluss ohne Anschluss.“ Und man habe hier „immer noch den niedrigsten Anteil an Menschen ohne anerkannten Bildungsabschluss“. Abgesehen davon sei eine grundlegende Reform der Schulstruktur aus der Perspektive des verantwortlichen Ministeriums „pädagogisch und politisch“ kaum verantwortbar. Sich auf eine verlängerte gemeinsame Grundschulzeit einzulassen, würde nämlich „Kraft und Ressourcen binden“, wäre „ein Experiment mit ungewissem Ausgang“. Ohnehin würden solche Reformen ja „eine breite Akzeptanz und parlamentarische Mehrheiten voraussetzen“. Sprich: Sowieso scheitern.

Abgeordneter Michael Koller, MdL, im Bildungsausschuss für die Freien Wähler, warb aus seiner Sicht als Fachlehrer mit Erfahrung an Mittel- und Realschule für das mehrgliedrige System, das den Kindern einfach entspreche. Man müsste sonst ja auch „intern differenzieren“. Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen stärken, sei in den Schulen wichtig. Und Dr. Ute Eiling-Hütig (CSU), MdL, Vorsitzende des Bildungsausschusses, verwies auf ihr Herkunftsland NRW, wo man die Orientierungsstufe „aus gutem Grund“ wieder abgeschafft habe. Der Druck werde nur von der 4. auf die 6. Klasse übertragen, bleibe aber der gleiche. Grundschullehrkräfte seien in den ersten vier Jahren sehr wohl in der Lage richtig einzuschätzen, wie es für wen weitergehen könnte. „Dass die Entscheidung zwei Jahre später anders ausfallen würde, glaubt kein Mensch.“ Und berufliche Bildung gehöre ebenfalls wertgeschätzt. Am Schluss solle jeder mit der Berufswahl glücklich sein können.

 

Abgeordnete Gabriele Triebel (Grüne), MdL, die stellvertretende Vorsitzende des Bildungsausschusses, äußerte sich enttäuscht darüber, dass der Vertreter des Ministeriums die Diskussion über eine längere gemeinsame Schulzeit kategorisch ausgeschlossen habe. Doch statt auf Maximalforderungen zu beharren, schlug sie einen Mittelweg vor, eine „Öffnungsklausel“ für Gemeinden mit zu wenigen Kindern für mehrere Schultypen, die dann etwa bis zur zehnten Klasse eine Schule gemeinsam besuchen können sollten. Ansonsten gelte es, die „Autonomie bei Prüfungsformaten“, Wellbeing und die Eigenverantwortung der Schulen zu stärken. Zugleich soll man den Sozialindex „noch besser anwenden“.  Eine längere gemeinsame Schulzeit befürwortete auch Abgeordnete Nicole Bäumler, MdL, im Bildungsausschuss für die SPD: Schon aus dem Grund, weil dann „weniger die Entscheidung der Eltern“ ins Gewicht falle, sondern das eigene Interesse der dann reiferen Jugendlichen. Talente entdecken und fördern sei in den Schulen sehr wichtig.

Dem „Roulette der Geburt“, wie der Soziologe Pierre Bourdieu die ungerechte Verteilung von Chancen bezeichnete, sei jedenfalls nicht schlicht durch eine Reform der Schulstruktur beizukommen, erläuterte Prof. Bremm. Es komme auch auf eine bewusste Haltung der Lehrkräfte an, um systemische Ungerechtigkeit zu vermeiden. Zahlreiche Studien hätten gezeigt, dass Kinder selbst bei gleicher Leistung in standardisierten Tests je nach sozialer Herkunft unterschiedliche Noten und auch unterschiedliche Übertrittsempfehlungen bekommen. Dahinter stecke die paternalistische Sorge, diese Kinder könnten später nicht bestehen. Bei Kindern aus privilegierten Schichten würden Lehrkräfte dagegen eher Beschwerden der Eltern antizipieren.

 

Es sei jedoch nicht damit getan, einfach mehr Lehrkräfte auszubilden und einzustellen, die selbst aus schwierigen Verhältnissen kommen. Die würden sich schon im Referendariat im Nu an das anpassen, was sie an ihrer Schule vorfinden. Was es Prof. Bremm zufolge braucht, ist ein „habitus-sensibles Bewusstsein“. Das Wissen, dass Eltern aus ärmeren und bildungsfernen Schichten sich nun mal „risikoavers“ verhalten. Wo das Geld kaum fürs Leben reicht, gehen sie ungern das Risiko eines Scheiterns auf dem Bildungsweg ihrer Kinder ein. Eltern der höheren und bildungsnahen Schichten dagegen seien auf Statuserhalt bedacht, koste es, was es wolle. Und die Kinder der Eltern aus bildungsfernen Schichten erlebten sich selbst als nicht passend im System, ihnen fehlten die bildungssprachlichen Kompetenzen, welche die anderen „schon mit der Muttermilch aufsaugen“.  

Verstehen heißt freilich nicht, alles entschuldigen und jedem jede Bürde abnehmen. Simone Fleischmann beugte Missverständnissen vor: Der BLLV stehe nicht für Kuschelpädagogik und sinkende Leistungsstandards, wenn er nach Möglichkeiten der Förderung und einem Ausgleich für Benachteiligung eintrete. So nämlich hätte man Martin Wunsch verstehen können, als er davor gewarnt hatte, schulische Leistungsmaßstäbe „blind abzusenken“, wo doch die Anforderungen in einer komplexen digitalisierten Gesellschaft stiegen.

Die Präsidentin lobte am Ende den offenen Austausch dieses Auftaktes zu einem tieferen Verständnis dafür, was Bildungsgerechtigkeit überhaupt bedeutet. Um das auszuloten, müsse man die Standpunkte des jeweiligen Gegenübers verstehen. Strukturelle Rahmenbedingungen, die Systemlogik zu hinterfragen, ebenso aber die eigene Rolle als Lehrerin und Lehrer. Kurz: Das tun, was man beim Verständnisintensiven Lernen (ViL) tue: Sich die eigene Haltung bewusst machen, das Lernen des anderen verstehen, statt auf schnelle Schwarz-Weiß-Lösungen und maximale Konfrontation zu setzen. Fleischmann versicherte: „Wir arbeiten immer an unserem Habitus.“ Vielleicht macht das ja Schule. 


Die nächsten Veranstaltungen

20. Februar 2025, Vilshofen, Keynote-Speaker Volker Schenk zum Thema:

„Bildung gerecht gestalten: Systemische Hindernisse und Gelingensfaktoren“

Verantwortlich: Yvonne Kirschner, Leiterin der Abteilung Schul- und Bildungspolitik des Bezirks Niederbayern.

2. April 2025, Würzburg, Keynote-Speaker Prof. Thomas Rauschenbach zum Thema:

„Bildung gerecht gestalten im Ganztag. Chancen, die im Ganztag stecken (könnten)

Verantwortlich: Christoph Rüttiger, Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik des Bezirks Unterfranken.