Die Zunahme von psychischen Belastungen und sogar Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen ist erschreckend. Laut der HBSC-Studie (Health Behaviour in School-aged Children), deren Ergebnisse im März 2024 vorgestellt wurden, konnte im Zeitraum zwischen 2010 und 2022 bei Kindern von 11 bis 15 Jahren ein kontinuierlicher Anstieg von vielfältigen psychosomatischen Beschwerden, wie beispielsweise Bauch- oder Kopfschmerzen, Einschlafproblemen oder Gereiztheit, beobachtet werden. Die Schulen werden einerseits als Ursache des Problems gesehen, sollen andererseits aber auch die Lösungen dafür parat haben. Doch ist diese Forderung unter den momentanen Bedingungen umsetzbar?
Der Beruf der Lehrkraft hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert und ist heute wesentlich komplexer. Die Aufgaben der Lehrerinnen und Lehrer sind vielfältig: unterrichten, erziehen, beurteilen und innovieren. Diese werden noch herausfordernder, wenn Krisen und gesellschaftliche Veränderungen hinzukommen.
Heterogenität, Integration und Inklusion
Die Schülerschaft in den Regelschulen wird immer heterogener. In ein und derselben Klasse mit 27 Kindern gehen dann beispielsweise der hochbegabte Filip, der sich langweilt und unterfordert ist, die autistische Mila, die von einer Schulbegleitung unterstützt wird, Thomas, der ADHS und ständige motorische Unruhe hat, Sarah, die zuhause vernachlässigt wird und sich immer mehr in sich selbst zurückzieht, und Ibrahim, der Diabetes hat und immer wieder ans Essen erinnert werden muss. Und mitten im Schuljahr steht dann auch noch Maksim vor der Tür, der kein Wort Deutsch spricht. Lehrkräfte möchten all diesen Kindern gerecht werden, können das aber ohne Unterstützung nicht leisten. Allein die Zunahme der Ansprechpartner und die Zusammenarbeit mit vielen außerschulischen Stellen wie etwa dem Jugendamt, den Schulbegleitungen usw. erfordert viel Zeit.
Inklusion und Integration stellen Mammutaufgaben für die Schulen dar. Immer mehr Kinder und Jugendliche mit speziellen Bedarfen besuchen die Regelschulen und benötigen dafür Unterstützung, von der es viel zu wenig gibt. In Bayern hatten im Schuljahr 2022/23 etwa ein Viertel der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund. Etwa derselbe Anteil entfiel auf die Schülerinnen und Schülern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Im selben Jahr besuchten ca. 25.000 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Bayern eine Regelschule. Die Schulen bräuchten viel mehr qualifiziertes Personal, z. B. für die Sprachförderung, Jugendsozialarbeit u. v. m.
Corona und Polykrise
Auch die Nachwirkungen der Corona-Pandemie machen sich an den Schulen bemerkbar. Den Kindern und Jugendlichen fehlten in dieser Zeit durch die Schul- und Kita-Schließungen soziale Kontakte, was eine Zunahme von Verhaltensauffälligkeiten und einen raueren Umgang miteinander zur Folge hat. Diverse Studien, wie die COPSY-Längsschnittstudie oder die Studie „Kindergesundheit in Deutschland aktuell“ (KIDA) des Robert Koch-Instituts belegen dies. Gerade Letztere verdeutlicht, dass die COVID-19-Pandemie erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen hatte, insbesondere für diejenigen mit chronischen gesundheitlichen Problemen oder erhöhtem psychosozialem Unterstützungsbedarf.
Die vielen Krisen, die auf Kinder und Jugendliche einprasseln, wie etwa der Ukraine-Krieg, der Konflikt zwischen Israel und Palästina oder die Klimakrise sorgen für eine zunehmende Unsicherheit, die sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche stark belastet. Auch gesellschaftliche Spannungen werden in die Schulen getragen und müssen dort aufgearbeitet werden. Die Vermittlung einer demokratischen Grundhaltung, Toleranz und Empathiefähigkeit stellt eine weitere Herausforderung für die Lehrkräfte dar. Dabei ist leider eine Zunahme von Gewalt zu beobachten, auch gegen Lehrkräfte.
Personalmangel und bauliche Defizite
Der geplante Ganztagsausbau, die Digitalisierung, die Vermittlung von Medienkompetenz für den richtigen Umgang mit KI, die ständige Erreichbarkeit – die Liste der Belastungen an den Schulen ist lang. Die großen Erwartungen der Eltern und der Gesellschaft stehen dem gegenüber.
All diese Herausforderungen treffen nun auf einen eklatanten Lehrkräftemangel. Viele Lehrkräfte schleppen sich krank in die Schule, da sonst niemand für ihre Klasse da ist. Hinzu kommt die Einarbeitung von Quereinsteigern, die meist ohne pädagogische Vorbildung sind und zusätzliche Unterstützung benötigen. Ein hoher Lärmpegel im Klassenzimmer, wenige Pausen, das ständige „gefordert-Sein“ belasten zusätzlich. Die Arbeitsumgebung in Schulen kann ebenfalls zu einer gesundheitlichen Belastung für Lehrkräfte werden. Oftmals sind Schulgebäude alt und architektonisch nicht darauf ausgelegt, ein angenehmes Lernumfeld zu schaffen. Überfüllte und schlecht gestaltete Klassenräume können das Wohlbefinden von Lehrkräften und Lernenden beeinträchtigen, was den Stress am Arbeitsplatz zusätzlich erhöht.
Stimmbelastung
Ein Faktor zur Lehrkräftegesundheit, der häufig übersehen wird, ist die hohe Stimmbelastung. Lehrende sind auf eine gesunde und leistungsfähige Stimme zur Ausübung ihres Berufes angewiesen. Tagtäglich laut und viel sprechen und sich auch im Zweifel stimmlich gegenüber einer Klasse behaupten können, strapaziert die Stimme allerdings enorm. Zahlreiche Studien zeigen, dass Stimmprobleme und sogar Stimmstörungen, die auch zu Berufsausfällen führen, im Lehrberuf häufig vorkommen. Etwa 30 Prozent der Lehrkräfte leiden unter funktionellen Stimmstörungen. Diese Störungen können langfristig dazu führen, dass Lehrkräfte ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Das Risiko, eine solche Stimmstörung zu entwickeln, steigt um das 1,6-Fache, wenn während des Lehramtsstudiums keine Stimm- und Sprechausbildung erfolgt.
All dies führt dazu, dass die Krankheitszahlen bei den Lehrkräften steigen. Laut einer forsa-Umfrage im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung e.V. (VBE) vom November 2023 meinen 57 Prozent der Schulleitungen, dass es in den letzten Jahren zu einem Anstieg der längerfristigen Ausfälle durch physische und psychische Erkrankungen im Kollegium gekommen ist.
Dienstunfähigkeit und Vorruhestand
Gegenüber vielen anderen Berufsgruppen leiden Lehrkräfte häufiger unter psychischen Erkrankungen und Erschöpfung, bis hin zum Burnout. Verschiedene Studien zeigen, dass 10 bis 30 Prozent der Lehrkräfte unter einer Erschöpfungssymptomatik leiden. Sogenannte Notmaßnahmen, um den Lehrkräftemangel aufzufangen, wie etwa ein verpflichtendes Arbeitszeitkonto, stark eingeschränkte Teilzeitmöglichkeiten und Einschränkungen bei der Altersteilzeit tun ihr Übriges. Viele Kolleginnen und Kollegen sind am Ende ihrer Kräfte.
Die Zahlen der Langzeiterkrankten unter den Lehrkräften steigen, begrenzte Dienstfähigkeit oder gar Dienstunfähigkeit sind, wie eine Antwort auf eine schriftliche Anfrage im Bayerischen Landtag der SPD vom Mai 2024 belegt, seit dem Schuljahr 2013/2014 konstant hoch. Konkret gab es in diesem Zeitraum in Bayern über alle Schularten hinweg 6.023 Fälle von Dienstunfähigkeit. Das Durchschnittsalter lag dabei bei etwa 56 Jahren. Basierend auf den vorliegenden Daten lässt sich schätzen, dass der Anteil der Lehrkräfte, die aufgrund von Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand gehen, im Verhältnis zu denen, die regulär mit Erreichen der Altersgrenze in den Ruhestand treten, bei etwa 15–20 Prozent liegt.
Leistungsdruck
Auch Kinder und Jugendliche sind in Schulen diversen Belastungen ausgesetzt, die gesundheitliche Auswirkungen haben können. Schon mit Einführung der Noten in der zweiten Klasse bekommen viele Kinder einen enormen Leistungsdruck zu spüren. Eltern üben unbewusst sehr viel Druck sowohl auf die Lehrkräfte als auch auf ihr Kind aus, damit es den Übertritt auf das Gymnasium schafft.
Dabei sind auf Seiten der Eltern zahlreiche Ängste vorhanden und auch der gesellschaftliche Druck ist groß. Die Auswirkungen dieses Übertrittsdrucks beim Übergang in die Sekundarstufe (Auflösung von Freundschaften, Versagensängste, Lernhemmungen) auf die soziale und emotionale Stabilität, auf das Selbstwertgefühl und auf die Lernmotivation der Kinder sind oft dramatisch. Experten aus der Kinderpsychiatrie bestätigen dies. Berichte über stressbedingte psychische Symptome häufen sich, und das schon bei Grundschulkindern. Kinder, die nach dem Übertritt auf der Mittelschule landen, müssen emotional aufgebaut und stabilisiert werden, damit sie sich wieder etwas zutrauen und wertvoll fühlen.
Gesundheit ist Bildungsvoraussetzung
Kinder und Jugendliche haben unterschiedliche Ressourcen, um mit Herausforderungen umzugehen und sind unterschiedlich resilient. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die einen starken Rückhalt durch ihr Elternhaus erfahren, andere leiden unter Vernachlässigung. Wieder andere werden „überbehütet“, ihnen wird alles abgenommen und nichts zugetraut. Durch den Lehrkräftemangel ist es nicht immer möglich, allen Bedürfnissen gerecht zu werden und die Kinder und Jugendlichen gegebenenfalls aufzufangen.
Für den Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnen Verband (BLLV) ist Gesundheit eine unerlässliche Voraussetzung des Lernens. Ein gesundes Schulleben zu schaffen ist ein wichtiger Beitrag für den Zugang zu bestmöglicher Bildung für Schülerinnen und Schüler in Bayern. Die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen zu verbessern ist somit auch eine Frage höherer Bildungschancen für jede und jeden. Gerade der weitere Ausbau des Ganztagsbereichs verstärkt diesen Zusammenhang: Junge Menschen verbringen mehr Zeit in den Schulen, somit nimmt auch die Bedeutung der Schule als Lebensraum zu, die Tätigkeiten in der Schule werden diverser, der Bedarf für eine umfassende Betreuung und gute Versorgung größer.
Es braucht Schulgesundheitsfachkräfte
Daher setzt sich der BLLV für den Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften an Schulen ein. Diese Fachkräfte können Lehrkräfte und Schulleitungen enorm entlasten und dabei helfen, dass sich diese stärker auf ihre pädagogischen Kernaufgaben konzentrieren können. Gleichzeitig leisten sie wichtige Aufklärungs- und Präventionsarbeit, die die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler nachhaltig verbessert.
Darüber hinaus können sie für wertvolle emotionale Hilfe sorgen. Oft reicht schon eine Tasse Tee, ein nettes Wort und ein bisschen Aufmerksamkeit, damit sich Kinder und Jugendliche wieder stark genug fühlen, um weiter am Unterricht teilzunehmen. Dies entlastet wiederum die Eltern und letztendlich auch die Wirtschaft, denn gerade Grundschulkinder müssen in diesem Fall nicht von der Schule abgeholt und beaufsichtigt werden.
Gesellschaftlicher Gewinn rechtfertigt Finanzierung
Auch die medizinische Unterstützung im Fall von chronischen Erkrankungen, wie etwa Diabetes mellitus, und für die Gesundheit der Lehrkräfte selbst ist nicht zu unterschätzen. All diese Faktoren kommen dem ganzen Kollegium, den Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern zugute.
Es gibt vielfältige Finanzierungsmöglichkeiten für Schulgesundheitsfachkräfte, die über staatliche und kommunale Budgets hinausgehen. Unfallversicherungen könnten aufgrund der präventiven Maßnahmen und schnellen Erstversorgung, die Schulgesundheitsfachkräfte leisten, erhebliche Kosten einsparen und daher finanziell beitragen. Auch Krankenkassen könnten sich aufgrund der langfristig positiven Effekte auf die Gesundheit der Schülerinnen und Schüler an den Kosten beteiligen, da präventive Maßnahmen die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen reduzieren.
Voll ins Schulteam integriert
Die Entlohnung der Schulgesundheitsfachkräfte sollte mindestens auf der Ebene der Entgeltgruppe E9b liegen, um der Komplexität und den Anforderungen ihrer Tätigkeit gerecht zu werden und qualifiziertes Personal anzuziehen. Schätzungen aus Brandenburg gehen von etwa 4.100 € für die sachliche Ausstattung pro Schule aus, plus jährliche Ausgaben von 1.200 – 2.400 €, je nach Schule.
Es ist unerlässlich, dass Schulgesundheitsfachkräfte während der gesamten Schulzeit anwesend sind. Dies gewährleistet nicht nur eine ständige Verfügbarkeit im Fall von gesundheitlichen Notfällen, sondern die konstante Präsenz ist auch die Grundlage dafür, dass sie nicht nur als medizinische Fachkräfte, sondern auch als vollwertige Mitglieder des Schulteams wahrgenommen werden. Dieses Vertrauensverhältnis ist grundlegend, damit sich Schülerinnen und Schüler bei gesundheitlichen Problemen offen an sie wenden können.
Am Ende profitieren alle
Die Erfahrungen aus Brandenburg zeigen, dass datenschutzrechtliche Herausforderungen eine effektive Einbindung dieser Fachkräfte behindern können. Daher ist es wichtig, dass Schulgesundheitsfachkräfte als festes Mitglied des Schulpersonals eingeplant werden. Dies ermöglicht, dass Informationen zwischen Lehrkräften, Kindern und Eltern der Sache angemessen ausgetauscht werden können.
Wenn diese Gelingensbedingungen umgesetzt werden, sieht der BLLV in den Schulgesundheitsfachkräften eine sinnvolle Ergänzung der Professionen in den bayerischen Schulen zum Wohle der Lehrkräfte, Kinder und Jugendlichen.
<< Antje Radetzky, Leiterin der Abteilung Berufswissenschaft im BLLV