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Stellungnahme der Landesfachgruppe Sozial- und Erziehungsdienst des BLLV Startseite Topmeldung
Frühkindliche Bildung Kita Individuelle Förderung Verbindliche Sprachtests

Gesetzentwurf zu verbindlichen Sprachtests: Neue Probleme statt praktikable Lösungen

"Der vorliegende Entwurf weist erhebliche Schwächen auf, die nach unserer Einschätzung den pädagogischen Grundsätzen widersprechen und bestehende Ungleichheiten sogar verschärfen könnten," so Sarah Heße, Leiterin BLLV-Fachgruppe Sozial- und Erziehungsdienste.

Die Landesfachgruppe Sozial- und Erziehungsdienst des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) sieht den Gesetzentwurf der Staatsregierung zur Einführung verbindlicher Sprachstandserhebungen und Sprachfördermaßnahmen vor der Einschulung in vielerlei Hinsicht kritisch. Wir unterstützen das Ziel, die sprachliche Förderung von Kindern vor der Einschulung zu verbessern und Chancengleichheit im Bildungssystem zu gewährleisten. Der vorliegende Entwurf weist jedoch erhebliche Schwächen auf, die nach unserer Einschätzung den pädagogischen Grundsätzen widersprechen und bestehende Ungleichheiten sogar verschärfen könnten.

1. Defizitäre Schwerpunktsetzung und fehlender ganzheitlicher Blick auf Sprachentwicklung

Sprachentwicklung ist ein komplexer, vielschichtiger Prozess, der von Geburt an beginnt und in mehreren Phasen verläuft. Diese Entwicklung wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, darunter das soziale Umfeld, familiäre Interaktionen und die frühkindliche Bildung. Der Gesetzentwurf setzt jedoch einseitig auf die Erhebung von Sprachdefiziten und schafft dadurch potenziell zusätzliche Hürden für Kinder, anstatt ihnen gute Übergänge in die schulische Bildung zu ermöglichen. Ein ganzheitlicher Ansatz, der die natürlichen Entwicklungsprozesse und die individuellen Bedürfnisse der Kinder berücksichtigt, wäre hier dringend erforderlich.

2. Verzerrung der Realität: Vorhandene Sprachstandserhebungen in bayerischen Kitas

Die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Maßnahmen ignorieren, dass bayerische Kindertagesstätten bereits seit 2005 verpflichtet sind, den Sprachstand der Kinder zu erheben, wie es im Bayerischen Gesetz zur Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern in Kindergärten, anderen Kindertageseinrichtungen und in Tagespflege (Bayerisches Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz – BayKiBiG) vom 8. Juli 2005 und der Ausführungsverordnung zum Bayerischen Kinderbildungs- und Betreuungsgesetz (AVBayKiBiG) verankert ist. Der Gesetzesentwurf vermittelt den Eindruck, als ob hier eine neue, notwendige Maßnahme eingeführt würde, während in der Praxis die Sprachstandserhebung seit langem bereits Teil und gängige Praxis der frühkindlichen Bildung ist.

3. Probleme bei der Umsetzung des „Vorkurs Deutsch 240“

Das Sprachförderprogramm „Vorkurs Deutsch 240“ ist in vielen Einrichtungen und Schulen aufgrund von Personalmangel nur unzureichend umgesetzt oder wird gar nicht erst angeboten. Dies zeigt, dass bereits bestehende Sprachfördermaßnahmen an den realen Gegebenheiten scheitern. Anstatt verbindliche Maßnahmen vorzuschreiben, die kaum durchführbar sind, sollte der Fokus auf einer bedarfsgerechten, individuellen Förderung der Kinder liegen, die auf die tatsächlichen Ressourcen und Kapazitäten der Einrichtungen abgestimmt ist.

4. Zurückstellung von Kindern mit unzureichendem Sprachstand und fehlende Ausrichtung auf die Zielgruppe des Gesetzesentwurfs

Der Gesetzentwurf sieht vor, Kinder mit unzureichendem Sprachstand zurückzustellen, was zu einer Verlagerung der Problematik führt. Ein zurückgestelltes Kind wird weiterhin einen Kindergartenplatz benötigen, wodurch ein "Stau" entsteht, der anderen Kindern den Zugang zu frühkindlicher Bildung erschwert. Denn für die etwa 7% der bayerischen Kinder, die keinen Kindergarten besuchen, gibt es schlichtweg nicht genug Betreuungsplätze, um den eigentlichen Bedarf zu decken. Der Gesetzentwurf zielt insbesondere auf Kinder, die keinen Kindergarten besuchen. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, dass viele dieser Kinder aufgrund der bestehenden Platzknappheit oder des Fachkräftemangels gar keine Möglichkeit haben, einen Kindergarten zu besuchen. Bei den Fünfjährigen liegt der Wert zum 1. März 2022 bei nahezu 95 %; damit nutzen fast alle Kinder ein solches Angebot, bevor sie in die Schule kommen. Das Gesetz setzt an einer falschen Stelle an, wenn es auf Sanktionen statt auf die Schaffung der notwendigen Betreuungsinfrastruktur setzt. Denn im Jahr 2023 fehlten in Bayern beispielsweise rund 22.700 Kita-Plätze aufgrund des Fachkräftemangels (Quelle: Bertelsmannstiftung 2022 -20102022_PM_Ländermonitor_BY (bertelsmann-stiftung.de)).

5. Arten der Sprachförderung: Bedarfsgerechte und flexible Ansätze statt Standardlösungen

Sprachförderung muss sich stets am individuellen Förderbedarf des einzelnen Kindes orientieren. Im Kita-Alltag ist die alltagsintegrierte Sprachförderung, die im täglichen Miteinander, wie beim Essen oder im Freispiel, stattfindet, von zentraler Bedeutung. Sie ist das Herzstück der pädagogischen Arbeit und erfordert ausreichend qualifiziertes Personal. Ergänzend dazu sind additive und kompensatorische Sprachfördermaßnahmen für Kinder mit besonderem Förderbedarf notwendig, die durch multiprofessionelle Teams oder spezialisierte Frühförderstellen umgesetzt werden sollten. Diese Vielfalt an Fördermethoden muss in einem integrativen, flexiblen Konzept verankert werden, anstatt starr an Standardlösungen festzuhalten.

6. Reduzierter Blickwinkel auf den Bildungserfolg und gesellschaftliche Teilhabe

Der Gesetzentwurf beginnt mit der Aussage „Problem: Sprache ist der Schlüssel für Bildungserfolg und gesellschaftliche Teilhabe.“ Diese Reduzierung auf Sprache als alleinigen Schlüsselfaktor greift jedoch zu kurz. Bildungserfolg und gesellschaftliche Teilhabe sind von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, darunter auch soziale, emotionale und kognitive Entwicklungsaspekte. Ein solch eindimensionaler Blick verkennt die Komplexität kindlicher Entwicklung und die Notwendigkeit, eine ganzheitliche Bildung zu fördern, die über den reinen Spracherwerb hinausgeht.

7. Frühzeitige Stigmatisierung und Druck auf Kinder und Familien

Verbindliche Sprachstandserhebungen, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen sind, bergen das Risiko, Kinder bereits im frühen Alter zu stigmatisieren. Der Fokus auf Defizite statt auf Potenziale könnte zu einer negativen Etikettierung führen, die sowohl das Selbstwertgefühl der Kinder als auch die Motivation der Eltern, aktiv an der Sprachförderung mitzuwirken, beeinträchtigt. Besonders Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder mit Migrationshintergrund könnten durch diese Maßnahmen stärker unter Druck geraten und anstelle von Unterstützung eine zusätzliche Belastung erfahren.

8. Unzureichende Berücksichtigung der individuellen Entwicklung der Kinder

Kinder entwickeln sich unterschiedlich, und gerade in den frühen Lebensjahren verlaufen Lernprozesse nicht linear. Der Gesetzentwurf berücksichtigt diese individuelle Variabilität zu wenig und setzt starre Maßstäbe für den Zeitpunkt und die Art der Sprachstandserhebung. Eine verpflichtende Sprachförderung, die auf standardisierten Testergebnissen basiert, lässt wenig Raum für die Berücksichtigung individueller Entwicklungsverläufe und könnte dazu führen, dass Kinder, die sich langsamer entwickeln, unnötig unter Druck gesetzt werden.

9. Personelle und finanzielle Ressourcen

Die Umsetzung der vorgesehenen Maßnahmen erfordert erhebliche personelle und finanzielle Ressourcen. Schon jetzt ist der Personalmangel im Erziehungsdienst und an den Schulen ein gravierendes Problem. Die Umsetzung des Gesetzes wird Druck auf das vorhandene Personal weiter erhöhen, ohne dass im Gesetzentwurf konkrete Maßnahmen zur Schaffung zusätzlicher Stellen oder zur Qualifizierung des Personals vorgesehen sind. Ohne eine deutliche Aufstockung der Ressourcen besteht die Gefahr, dass die Qualität der Sprachförderung oder sogar des gesamtes Kita-Alltags leidet und die Ziele des Gesetzes nicht erreicht werden können.

Fazit

Der Gesetzentwurf weist in seiner aktuellen Form erhebliche Mängel auf und könnte mehr Probleme schaffen als lösen. Ein Fokus auf flexible, individuelle Förderkonzepte, die die bestehenden Ressourcen und die realen Gegebenheiten in den Einrichtungen berücksichtigen, wäre zielführender. Zudem ist eine Reform notwendig, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basiert, die individuellen Entwicklungsverläufe der Kinder respektiert und die personellen und finanziellen Ressourcen stärkt. Nur so kann eine Sprachförderung gelingen, die allen Kindern die bestmöglichen Startchancen ins Schulleben bietet.


<< Sarah Hesse, Leiterin der Fachgruppe Sozial- und Erziehungsdienst im BLLV