Die Verwunderung ist groß: Obwohl die Schulen eineinhalb Jahren unter der Geißel Corona litten, melden die Gymnasien nun überaus erfolgreiche Abiturergebnisse. Es gibt wohl so viele Einserabiture wie selten oder noch nie zuvor. Allein an meiner Schule erreichen beispielsweise annähernd 10 % die Traumnote 1,0! Auch der Gesamtdurchschnitt liegt im obersten Bereich.
Außergewöhnlich hohe Zahlen von Durchfallern
Allerdings hat diese Medaille eine Kehrseite: Den vielen überdurchschnittlich guten Ergebnissen stehen nämlich, zumindest nach den bisher bekannten Ergebnissen, außergewöhnlich hohe Zahlen von Durchfallern gegenüber.
Wie ist das zu erklären? Zum einen setzt sich die Abiturnote zu zwei Dritteln aus den in den beiden Jahren der Oberstufe erbrachten Leistungen zusammen. Diese waren in diesem Jahr aufgrund unterschiedlicher Sonderregelungen, die zum Ausgleich zahlreicher Corona bedingter Sonderfälle geschaffen wurden, deutlich besser als in den Vorjahren. So flossen deutlich weniger schriftliche als mündliche Noten mit ein, da häufig Klausuren nicht geschrieben werden konnten.
Im Zweifel haben sich Lehrkräfte für die Schülerinnen und Schüler entschieden und wollten verhindern, dass sie die problematischen Umstände ausbaden müssen
Zum anderen kann man davon ausgehen, dass die allermeisten Lehrkräfte in den vergangenen eineinhalb Jahren eher wohlwollend und schülerfreundlich korrigiert und benotet haben. Die pädagogische Verantwortung hat sie dazu gebracht, im Zweifel für die Schülerinnen und Schüler zu entscheiden und zu verhindern, dass sie die problematischen Umstände ausbaden müssen.
Unterschied zwischen vorher erbrachten Leistungen und denen in der Abiturprüfung
All dies führte dazu, dass die allermeisten Schülerinnen und Schüler tendenziell bessere Halbjahresleistungen einbringen konnten, als dies in Zeiten ohne Pandemie der Fall gewesen wäre.
Anders verhält es sich dagegen bei den eigentlichen Abiturprüfungen aus. Für Schülerinnen und Schüler, die gut mit der Herausforderung des Distanzunterrichts klargekommen sind, die gelernt haben, eigenverantwortlich zu lernen, die von zu Hause Unterstützung erfahren haben und die aufgrund ihres sozialen Hintergrundes über günstige räumliche und technische Voraussetzungen für digitalen Unterricht verfügen, gingen gut vorbereitet und fit ins Abitur.
Anders sieht es jedoch mit denen aus, die sich weniger gut selbst motivieren können, die über keine geeigneten technischen Geräte verfügen und nicht über Örtlichkeiten, in denen sie Ruhe und Konzentration arbeiten können. Schließlich macht es auch einen großen Unterschied aus, wie gut die Resilienz ausgebildet ist. Manche blühten während des Distanzunterrichts auf, andere mussten mit schweren psychischen Belastungen fertig werden.
Trugschluss: "Gerecht" war Abitur noch nie
Gerecht ist das nicht! Doch wer ehrlich ist, muss einräumen, dass das Abitur noch nie so gerecht gewesen ist, wie sein Anspruch behauptet. Oder ist es ohne Corona gerecht, wenn die einen in kleinen Lerngruppen sitzen, die anderen in großen, die einen eine Lehrkraft haben, die sehr gut erklärt und einen motivierenden Unterricht hält, die anderen nicht, die einen eine Lehrkraft haben, die faire Klausuren stellt und fair benotet, die anderen nicht, die einen über die zwei Jahre der Oberstufe die gleiche Lehrkraft haben, die anderen zwei oder sogar drei Lehrerwechsel erleiden, die einen kontinuierlich unterrichtet werden, bei den anderen der Unterricht häufig ausfällt. Diese Aufzählung ließe sich noch lange weiterführen.
Durch die Pandemie ist die Schere zwischen priviligierten und weniger priviligierten Schülerinnen und Schülern noch größer geworden, als sie es ohnehin schon war
Mit dem Corona-Abitur ist es wie mit der ganzen Schule: Die Schere zwischen Guten und Schlechten, zwischen Privilegierten und Benachteiligten, zwischen Starken und Schwachen ist durch die Pandemie nur größer geworden. Doch neu sind die Unterschiede nicht. Sie treten nur noch deutlicher zutage.
Es wird Zeit, dass wir dieses Thema endlich entschlossen angehen und uns vom Mythos der Vergleichbarkeit von Leistungen verabschieden!
>> Kommentar von Fritz Schäffer, Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik im BLLV