Die Veränderungen der Gesellschaft - die wir nicht erst seit Corona sehen – und damit auch unserer Lebensweisen, werfen viele Fragen auf. Was bedeuten diese Veränderungen für Schulen, für Lehrerinnen und Lehrer, für Familien und Eltern? Was erwartet der Arbeitsmarkt von den jungen Menschen? Ist das, was wir in der Schule lernen, noch zeitgemäß? Entspricht unser Unterrichten den Prinzipien modernen Lernens, wie sie die neuen Forschungsergebnisse der Psychologie und der Hirnforschung definieren? Wie sichern wir, dass der Bedeutung einer stabilen sozialen Gruppe für effizientes Lernen in der Schule Rechnung getragen wird? Welche Rolle spielen Gefühle wie Freude, Lust und Motivation für erfolgreiches, nachhaltiges Lernen? Und wie können wir sie in der Schule verstärken?
Corona-Pandemie stellt Altbekanntes in Frage
Die jüngsten Herausforderungen in Schule und Gesellschaft in Zeiten der Corona-Pandemie zeichnen ein modifiziertes Bild vom Leistungsgedanken. Jetzt zeigt sich: Es geht auch anders. Vieles, was vorher als unmöglich oder unveränderbar galt, relativiert sich plötzlich. Die Persönlichkeits- und Sozialkompetenzentwicklung bekommt einen ganz anderen Stellenwert, Noten und Prüfungskultur werden überdacht.
Genauso werden aber auch soziale Selektion und Benachteiligung deutlich. Die Situation hat Viele zum Nachdenken gebracht, auch die Teilnehmer der Diskussionsrunde zum Thema "Leistung in Corona-Zeiten“ – ein Gedankenaustausch": BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann, Dr. Fritz Schäffer (BLLV-Abteilungsleiter Schul- und Bildungspolitik), Birgit Dittmer-Glaubig (BLLV-Abteilungsleiterin Berufswissenschaft), Sylvia Beutel (Professorin für Schulpädagogik und Didaktik an der TU Dortmund) und Hans Anand Pant (Professor für Erziehungswissenschaftliche Methodenlehre an der Humboldt-Universität Berlin). Sylvia Beutel sowie Hans Anand Pant sind Mitglieder des Programmteams der Deutschen Schulakademie und wie Simone Fleischmann Mitglieder der Jury des Deutschen Schulpreises.
Selbstständigkeit ist eine wichtige Fähigkeit
Den Teilnehmern der Diskussionsrunde wurde schnell deutlich, dass die Coronakrise zeigt: Die Gesellschaft ist ein soziales Gefüge, das nur gemeinsam funktionieren kann. Denn Leistung bedeutet eigentlich: Kooperation statt Individualisierung. Und: Selbstständigkeit und Selbstorganisation sind Leistungen, die Schülerinnen und Schüler beim Lernen daheim unter Beweis stellen.
Lernen funktioniert auch ohne hohe Kontrolldichte
Es zeigt sich gerade mehr denn je, dass angehäuftes Wissen in vielen Fällen jetzt für die aktuelle Situation gar nichts oder wenig nützt. Es ist sogar aktuell zu beobachten: Bei Manchen funktioniert Lernen und somit Leisten, auch ohne eine hohe Kontrolldichte. Schule geht also auch anders!
Negative Aspekte wie zum Beispiel das Erbringen von Leistungsnachweisen rücken in den Hintergrund. Aufgabenstellungen müssen neu gedacht und überdacht werden. Laut einer Forsa-Umfrage vom April diesen Jahres wollen rund 2/3 der befragten Lehrerinnen und Lehrer in Zukunft unbedingt höhere Eigenverantwortung ihrer Schülerinnen und Schüler fördern.
Eine Interpretation von Professor Pant gibt hier Anlass zum Nachdenken: Er weist darauf hin, dass „Noten als Sicherheitsfunktion in der Angsthierarchie nun von Corona überholt wurden.“ Psychologisch solle festgehalten werden: „Schaut her, es gibt ganz viel wichtigere Dinge, als die Frage, ob eine Übertrittsmöglichkeit auf der Basis von Noten existiert!“ Auch die Kultusministerinnen und Kultusminister sowie Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten reden aktuell häufig über modifizierte Lehrpläne: Sie sollen gekürzt werden, Fächer sollen gestrichen werden und es soll auch kein Kind sitzenbleiben.
Es gilt: Lernplan statt Lehrplan!
Sylvia Beutel ist der Meinung, dass jetzt das Motto laute: Lernplan vor Lehrplan: "Aktuell zählt die individuelle Sinnhaftigkeit, aber in einem schulischen Sozialisationskontext, der eigentlich gar nicht darauf Rücksicht nahm. Man wird zurückgeworfen auf die eigene Kreativität."
Empirisch betrachtet sind Noten für Pant "relativ ungerechte und untaugliche Instrumente zur Messung von Kompetenzen. Andererseits gibt es eine Verharrungstendenz.“ Zentral dabei ist für ihn, dass auf breiter Ebene verstanden wird, dass es verschiedene Leistungsinhalte gibt, die wertvoll sind. Im Klartext: Weg von der reinen Kernfachlogik. Sein Ziel: Den Leistungsbegriff ausweiten!
Freiheit und Flexibilität statt zurück zu alten und überholten Traditionen!
Kinder machen in ihrem jetzigen Alltag wertvolle Erfahrungen. Gut durch die Pandemie kommen Schulkinder, die selbstständig, resilient, initiativ und kreativ sind. Im Alltag wird außerdem deutlich: Kinder und Jugendliche sehnen sich nach Beziehung. Sie sehnen sich nach Angeboten, die auch etwas für das innere Befinden tun.
Für die Zukunft müssen wir Leistung im Kontext eines ganzheitlichen Bildungsbegriffs denken. Zu vorderst müssen inhaltliche Diskussionen zu den einzelnen Fächern zugunsten eines breit angelegten Kanons an sozialen Kompetenzen überdacht werden. Freiheit und Flexibilität statt zurück zu alten und überholten Traditionen!
Die Diskussionsrunde war sich einig: Die für uns alle herausfordernde Situation hat Schwachstellen aufgezeigt - eröffnet aber auch große Chancen. Der BLLV wird hier genau schauen: Was hat gut funktioniert und was eher nicht?
Philosoph Richard David Precht sagte: "Das Fenster, in Alternativen zu denken, steht sperrangelweit offen.“ Der BLLV muss es nun offen halten, damit die erzielten Errungenschaften und Erkenntnisse nicht wieder verloren gehen! Auch der Bayerische Ministerpräsident betonte, dass jetzt das Erlernte nicht wieder verlernt werden dürfe. Der BLLV wird seine Vision eines ganzheitlichen, auf Individualität und Selbstkompetenz basierenden modernen Leistungsbegriff zielstrebig verfolgen. Er wird sich dafür einsetzen, dass dieser nachhaltig gelebt wird!
>> Autorin: Birgit Dittmer-Glaubig