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„Die Debatte ist das beste Format für politische Bildung“

„Wie effektiv ist die Verfassungsviertelstunde?“ fragt der Podcast „Fußnoten“ BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Sie stellt klar: Was junge Menschen fit macht, um sich in der politischen Welt zu orientieren, passt nicht in starre Vorgaben.

Der Münchner Radiosender M94.5 hat der Frage nachgespürt, was die fürs laufende Schuljahr neu eingeführte Verfassungsviertelstunde bringt und darüber ausführlich mit BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann gesprochen. Sie stellt klar, dass sich über das schulische Ziel alle einig sind: „Es geht darum, junge Menschen auf die Welt von morgen vorzubereiten, eben auch die politische. In der müssen sie sich orientieren können und wissen: Wie funktioniert die Demokratie und das Miteinander, was bedeutet eine Verfassung und warum ist das alles wichtig?“

Bei der Frage, wie Schülerinnen und Schüler dazu befähigt werden, gibt es allerdings unterschiedliche Ansichten, betont die BLLV-Präsidentin: „Ministerpräsident Söder hat in Bayern ein Machtwort gesprochen, das tut er sehr gerne. Ich finde das schnell und wenig nachhaltig. Er hat aber etwas Richtiges erkannt, nämlich dass die Demokratie kippt. Dass Kids nicht mehr genau wissen, wie Politik geht. Dass sich leider sehr viele – das zeigen alle Studien – ankicken lassen von Rechten und ihren extremen Positionen und dann womöglich vielfach AfD wählen. Dazu muss man wissen: Die politische Bildung in Bayern ist schlecht aufgestellt, die Stundenanzahl ist am unteren Rand. Die Maßnahme mit 15 Minuten ist daher schwierig. Wir haben die Rückmeldung, dass an manchen Gymnasien  der Chemielehrer den Paragraphen sieben vom Grundgesetz macht, der Physiklehrer den Paragraphen acht und der Geografielehrer den Paragraphen neun. Das ist natürlich nicht das Gelbe vom Ei, auch wenn es vielleicht in eine Viertelstunde passt.“

Wenn TV-Nachrichten Extras senden, geht’s in der Schule nicht in 15 Minuten

Wenn man demokratisches Handeln als Bildungsziel wirklich ernst nimmt, braucht es mehr, erläutert Simone Fleischmann: „Reichen 15 Minuten, um Kinder und Jugendliche zu Demokratinnen zu erziehen? Reichen 15 Minuten, um eine wahnsinnig schwierige, plurale, krisenbehaftete Welt zu verstehen? Reichen 15 Minuten, um zu wissen, wen ich wählen soll? Nein, wir müssen stattdessen die Themen der Kinder und Jugendlichen in die Mitte der Diskussion stellen: Am Tag, an dem sich der Bundestag auflöst, stellen sie viele Fragen: ‘Was ist denn der Bundestag? Welche Parteien sind an der Macht? Wie geht eine Auflösung? Können wir jetzt morgen machen, was wir wollen, gibt es morgen keine Gesetze mehr?‘ Wenn wir dafür nur eine Viertelstunde Zeit haben, dann sind die mit diesen vier Fragen schon voll. Ich kann in einer Viertelstunde nicht abfrühstücken, wofür der Bayerische Rundfunk ein Extra bringt und nach den Tagesthemen noch eine Sondersendung kommt. Ich muss mir für aktuelle politische Themen Zeit nehmen. In 15 Minuten kann man etwas anbahnen und Grundlagen legen, als minimale Basis. Aber das reicht in einer globalisierten, krisenbehafteten digitalen Welt nicht. Da braucht es viel mehr an Querschnittskompetenzen und an Zukunftskompetenzen.“

Rassismus in der Klasse klären ist besonders zeitintensiv

Das gilt für die BLLV-Präsidentin erst Recht für Themen, die den schulischen Alltag von Kindern und Jugendlichen prägen: “Wenn ich Antisemitismus und Rassismus in der Klasse habe, dann muss ich etwas dagegen tun und beispielsweise fragen: ‘Leute, was hat denn das mit dem Zusammenleben in unserem Land zu tun? Warum ist so eine Stimmung gegen Migration? Was steckt denn dahinter? Warum erzählst du denn so einen Mist, dass dein Opa am Stammtisch gesagt hat, die Oma kriegt keine Rente mehr, weil jetzt Asylanten in einer tollen Wohnung leben können und Geld nachgeschmissen kriegen? Was stimmt denn da eigentlich?‘ Wir müssen uns also als Lehrerinnen und Lehrer auf die Fragen, die diese Jugendlichen haben, einstellen und sie pädagogisch aufarbeiten.“

Einfache Scheinlösungen entlarven braucht hohe politische Kompetenz

Generell stellt der gesellschaftliche Rechtsruck die Schulen vor große Herausforderungen, warnt Simone Fleischmann: „Wir können Jugendlichen kaum ankreiden, dass sie AfD oder andere Parteien am politischen Rand wählen, denn die bieten scheinbar einfache Lösungen. Die Konsequenz kann nur lauten: Wenn Jugendliche hoch gefährdet sind, überproportional am Rand zu wählen, dann brauchen sie mehr politische Bildung. Es geht also nicht, zu sagen: Zu viele Migrationskinder in einer Klasse, das schadet der Klasse. Punkt‘ Denn wir wollen diese Kinder, wir wollen die Integration, wir brauchen diese Menschen und wir haben sie an den Schulen. Also kann ich nicht den Punkt machen, sondern muss das Komma setzen und sagen: ‘Dazu braucht es folgende Unterstützungssysteme. Dazu braucht es folgende politische Einstellungen. Dazu brauchen wir zusätzliche Unterstützungskurse, damit diese Kinder Deutsch lernen und und und. Wenn die einfachen Antworten und die Ränder für viele Jugendliche wählbar sind, dann müssen wir eine komplexe politische Bildung, die mehr Stunden braucht als bisher, dagegensetzen!“

Verfassungsfeindlichkeit ist keine Meinung

In diesem Zusammenhang kommt oft der Hinweis auf das Neutralitätsgebot von Lehrkräften. Dabei wird aber besonders vom politischen Randspektrum gerne, und teils auch bewusst, übersehen, dass Lehrkräfte als Mitarbeitende im öffentlichen Dienst der Verfassung verpflichtet sind und verfassungsfeindliche Aussagen und Bestrebungen als solche zu benennen haben. Das ist keine Frage der eigenen Meinung einer Lehrkraft, sondern Dienstauftrag. Der Umgang mit einer tatsächlichen Meinung ist differenzierter zu sehen, stellt Simone Fleischmann klar: „Du darfst als Lehrkraft eine Meinung haben und du darfst deine Meinung auch sagen. Du musst sie aber ganz klar etikettieren als deine eigene und als eine von vielen. Es gibt das Verbot, Schülerinnen und Schüler mit unserer eigenen politischen Meinung zu überwältigen und zu sagen: ‘Pass mal auf, du wählst die Grünen, weil ich die Grünen wähle‘ Und dann halte ich da eine Stunde lang eine Rede, warum die Grünen cool sind. No way! Ich kann schon sagen, warum ich eine Partei persönlich gut finde, was ich an dieser Partei gut finde, was ich an welcher Einstellung gut finde – muss aber auch die andere Meinung gelten lassen!“

Einfach selbst debattieren lassen

Tatsächlich wollen Kinder und Jugendliche aber oft auch explizit wissen, was ihre Lehrerin denkt, berichtet die BLLV-Präsidentin und sieht das als gute Chance, politische Bildung zu vermitteln: „Jugendliche stellen die Fragen: ‘Wen wählen sie denn eigentlich? Wo stehen Sie? Finden Sie das jetzt gut, was Lindner da gemacht hat? Sagen sie, Scholz war schuld oder Lindner war schuld?‘ Die Fragen, die wir uns als Menschen stellen, werden also in der Klasse an den Lehrer gestellt. Wir dürfen damit politische Bildung machen, wir dürfen nur nicht einseitig politisieren. Ich kann zum Beispiel den Kids sagen: ‘Passt auf, ich glaube in dem Fall war Scholz schuld. Ich begründe wie folgt. Könntest du jetzt bitte begründen, warum du glaubst, dass Lindner schuld war? Bitte begründe mit sieben Punkten und dann machen wir eine Pro-Contra-Debatte unter Schülern. Der eine ist für Scholz, der andere ist für Lindner.‘ Und die Debatte ist dabei das beste politische Bildungsformat überhaupt!“

Was würde eine Vier in der Demokratie-Schulaufgabe bedeuten?

Das widerspricht allerdings dem erwähnten Schnellschuss des Ministerpräsidenten dann doch deutlich, denn solche lebendigen Debatten sind natürlich nicht in einer Viertelstunde abgehandelt. Die ursprünglichen Pläne von ganz oben gingen indes sogar noch weiter, wie Simone Fleischmann berichtet: „Wir wissen, dass der Ministerpräsident durchaus daran gedacht hatte, es solle einen Lehrplan und dann Schulaufgaben und Noten geben. Das konnten wir verhindern. Denn es geht ja nicht um eine vier in Demokratie. Was hieße es denn, wenn ich in der Demokratie-Schulaufgabe eine Vier habe? Wähle ich dann nicht AfD oder weiß ich dann alles oder ist eine Vier ausreichend politische Bildung? Reicht uns das? Nein! Wir brauchen Haltungen bei den Kindern. Und Haltungen erzeugst du, indem du reale Erlebnisse aus der Welt da draußen ins Klassenzimmer reinholst.“

Auswendiglernen ist keine Zukunftskompetenz

Die zusätzliche Zeit fehlt dann allerdings an anderen Stellen. Darum regt BLLV-Präsidentin Fleischmann eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über die zentralen Aufgaben schulischer Bildung an: „Wir müssten mal kritisch überlegen: Sind uns Demokratiebildung und politische Bildung wichtiger als die 27. Schulaufgabe mit irgendwie ziemlich dämlichen Fragen, in der man dann einen Einser kriegt fürs Auswendiglernen? Und wenn ich dann zwei Wochen später frage: ‘Wie war das jetzt noch mal mit dem Periodensystem?‘, die Antwort dann lautet: ‘Welches Periodensystem?‘ Wir haben einen tradierten alten Leistungsbegriff. Der muss weg. Es braucht einen modernen, agilen, ganzheitlichen Lernbegriff, eine andere Leistungskultur. Dann können wir Aufgaben wie politische Bildung besser umsetzen.“

Im Podcast wurde die BLLV-Präsidentin abschließend auch gefragt, wie sie sich persönlich die Bildung der Zukunft vorstellt: „Ich würde Schule neu aufstellen und Zukunftsskills und Zukunftskompetenzen in die Mitte packen. Und dann die Kernkompetenzen darum herum: Lesen, Rechnen, Schreiben. Grundlegende Kenntnisse in allen Fächern wie Physik, Chemie, Geschichte, Religion, Musik, Sport, Kunst – alles. Im Kern aber eben Zukunftskompetenzen wie Digitalkompetenz, Demokratiekompetenz, Agilität, Umgang mit Krisen, Umgang mit Heterogenität, Umgang mit Vielfalt, Diversität. Alle Themen, die die Gesellschaft jetzt stellt, müssen in die Mitte gestellt werden. Ich stellt mir also eine Schulwelt vor, die mehr der Welt draußen entspricht.“

» ganzen Podcast hören: „Fußnoten: Demokratie im Klassenzimmer – Wie effektiv ist die Verfassungsviertelstunde?“

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