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Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts: "Zeugnisvermerk bei Legasthenie" Startseite

BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann: "Individuelle Leistungsformate wären gefragt"

Drei Abiturienten sahen sich durch ihre Zeugnisvermerke diskriminiert. Dagegen reichten sie Verfassungsbeschwerde ein - zu Recht, wie das Urteil zeigt. BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann bewertet das Urteil in der Abendzeitung dennoch auch kritisch.

"Auf die Bewertung von Rechtschreibung wurde verzichtet." Ein solcher Satz im Abiturzeugnis kann Schülerinnen und Schüler mit Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) benachteiligen. Er legt behinderungsbedingte Leistungsdefizite offen. Das beeinträchtigt grundgesetzlich geschützte Persönlichkeitsrechte und kann Erfolgschancen bei Bewerbungen verschlechtern.

Und doch erklärte das Bundesverfassungsgericht, Zeugnisvermerke dieser Art könnten verfassungskonform und im Sinne einer Chancengleichheit sogar geboten sein. Allerdings hielten die Karlsruher Richterinnen und Richter auch fest, dass Zeugnisvermerke dann nicht nur auf Legasthenikerinnen und Legastheniker begrenzt werden dürften. Im konkreten Fall dreier ehemaliger Abiturienten aus Bayern war das jedoch so.

BLLV sieht das Urteil kritisch

Die Tageschau, die Deutsche Presseagentur (dpa) und zahlreiche Medien berichten über das Verfassungsurteil. Der Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie, erklärte, wie Eltern und Betroffene sich oft aus Angst vor den Folgen nicht trauten, eine Diagnose stellen zu lassen. Doch das Verfassungsgericht bestätigte im Grunde das Festhalten an Zeugnisvermerken - nur im konkreten Fall seien die Zeugnisvermerke in Bayern ausschließlich bei Legasthenikern gemacht worden und daher diskriminierend.

"Kinder nicht nur im Ergebnis bewerten"

Eine Folge des Urteils dürfte sein, dass künftig auch andere Gruppen einen solchen Zusatz ins Zeugnis bekommen. Daher bewertet auch Simone Fleischmann das Urteil kritisch. „Das Urteil zeigt vor allem, wie wir weiterhin in dieser tradierten Leistungskultur leben“, sagte sie der Münchner Abendzeitung. In ihrer Zeit als Schulpsychologin habe sie erlebt, dass Kinder mit Beeinträchtigungen durch den besonderen Umgang mit Stigmatisierungen leben mussten. Der Verband fordere daher ein Umdenken in der Bewertungsweise.

„Wir wollen, dass Kinder in Zukunft nicht nur im Ergebnis, sondern individuell im Prozess bewertet werden. So können Stärken und Schwächen direkt an die Kinder zurückgemeldet werden“, so Fleischmann. Zeugnisvermerke würden dann überflüssig. „Die Kinder tragen dann kein Schild mehr um sich, und es wird sich um jedes individuell gekümmert.“
 

Medienberichte

BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Wortlaut:

„Wir brauchen nicht für jede Schwäche ein Etikett und einen Vermerk im Zeugnis. Jedes Kind ist individuell und bringt Stärken und Schwächen mit. Es ist nicht nur eine gute Leistung, wenn eine Schülerin eine Note 2 auf ihre Rechtschreibung bekommt. Es ist auch eine gute Leistung, wenn ein Schüler trotz Legasthenie sich sprachlich gewandt ausdrücken kann. Wir sollten die Kinder ganzheitlich annehmen und nicht das Leistungsprinzip über alles stellen.“

Zum Fakt, dass die Gesetzeslage in Bayern inzwischen zwar einen klaren Rahmen vorgibt, bundesweit aber große Unterschiede herrschen:

„Das ist skurril und für Schüler, die das Bundesland wechseln, ein zusätzlicher Stolperstein.“