Zu Beginn der Corona-Pandemie waren öffentliche Debatten geprägt von der Frage, wie das Infektionsgeschehen eingedämmt werden kann. Junge Menschen haben auf vieles verzichten müssen und haben sich überaus solidarisch gezeigt. Fehlende soziale Kontakte, Ausfall von Unterricht, Homeschooling sowie nicht stattfindende Praktika und Klassenfahrten sind nur einige der zahlreichen Maßnahmen, die das (schulische) Leben von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen stark beeinflusst haben. Simone Fleischmann, Präsidentin des BLLV, macht deutlich: „Die Bedürfnisse junger Menschen wurden im Laufe der Pandemie häufig hintenangestellt. Umso wichtiger ist es, nun nach der Pandemie, die Bedarfe und die gesundheitliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen ernst zu nehmen und zur Priorität zu machen!“
Long COVID, Post COVID, Post Vac und ME-CFS
Während die gesundheitlichen Folgen einer Covid-19-Infektion lange Zeit nicht genau abgeschätzt werden konnten, wissen wir heute, dass selbst nach einer unentdeckten Infektion oder einem milden Verlauf ein komplexes Beschwerdebild entstehen, bzw. bestehen bleiben kann. Auch dann, wenn alle Standarduntersuchungen unauffällig sind. Die Symptome sind hierbei sehr vielfältig (siehe Infokasten Long Covid). Das wissen auch die Initiatorinnen von „NichtGenesenKids“, deren Kinder teilweise seit über zwei Jahren stark durch die Folgen einer Coronainfektion beeinträchtigt werden.
„Meine Tochter Kalea ist seit 2021 an der Multisystemerkrankung ME/CFS erkrankt. Eine neuroimmunlogische Erkrankung, bei der Betroffene vordergründig an einer Verschlechterung aller Symptome nach einer – oft schon geringen – körperlichen, als auch geistigen Belastung – (sog. Post Exertional Malaise) leiden. Sie dürfen keinesfalls ihre – krankheitsbedingt stark reduzierten – neuen Belastungsgrenzen überschreiten. Diese Grenzen sind bei allen Betroffenen individuell sehr verschieden. Während einige lediglich keinen Sport mehr machen können, stellt längeres Lesen oder gar Zähneputzen bei anderen bereits ein Problem dar. Jedes Überschreiten dieser Grenzen führt zu einer – im folgenschwersten Fall sogar dauerhaften – Verschlechterung der Erkrankung. Für ME/CFS gibt es keine Behandlung. Ich wollte andere betroffene Familien finden, um gemeinsam mit ihnen für Aufklärung, Forschung und Versorgung der Erkrankten zu kämpfen. Long COVID, Post COVID, Post Vac und ME-CFS- betroffene Familien wird oft mit Unverständnis begegnet und die Erkrankung wird bagatellisiert und psychosomatisiert. Ich wollte Mitstreiterinnen und Mitstreiter finden, um gemeinsam Verbesserungen zu erreichen und vor allem auch das Recht auf Bildung und Teilhabe durchzusetzen.“ Elena Lierck, NichtGenesenKids
Auch Lena Riepl und Soleil Völkl haben Kinder, die an Long-Covid erkrankt sind. Als Teil des Kernteams von NichtGenesenKids berichten sie von ihren Erfahrungen und betreiben wichtige Aufklärungsarbeit.
„Unsere Kinder (inzwischen beide 12 Jahre alt) waren anfangs leicht bis moderat erkrankt. Als der Long COVID-Verdacht aufkam, wurde uns von den Ärzten mitgeteilt, dass es den Kindern mit der Zeit wieder besser gehen wird. Leider trifft das für einen statistisch nicht genau erfassten Teil der Erkrankten nicht zu. Diese entwickeln Post COVID, aber auch ME-CFS. Bei unseren Kindern wiegen diese Folgen der Erkrankung so schwer, dass ein regulärer Schulbesuch inzwischen nicht mehr möglich ist. Rückblickend hätten wir uns gewünscht, dass es eine breite Aufklärung über die Erkrankung gegeben hätte und uns somit die Krankheitsverschlechterungsmechanismen bekannt gewesen wären. Den Kindern wurden und werden nach wie vor zu wenig Optionen angeboten, adäquat unterrichtet zu werden. Hausunterricht, Onlineunterricht oder Teilhabe via Avatar, sind nur wenige Optionen, die zum Standardrepertoire gehören sollten. Als wir mit NichtGenesenKids am 19. April 2023 als Sachverständige im Bundestag zu einer Anhörung geladen waren, wurde durch die kassenärztliche Bundesvereinigung dargelegt, dass die Anzahl der Behandlungsfälle mit ME/CFS- Diagnose in den präpandemischen Jahren 2018 und 2019 zwischen 350.000 und 400.000 lag und ein Anstieg auf knapp unter 500.000 Patienten deutschlandweit für das Jahr 2021 beobachtet werden konnte. Tendenz steigend!“ Lena Riepl und Soleil Völkl, NichtGenesenKids
Long COVID - Was man im Umgang mit erkrankten Kindern wissen sollte:
- Kinder und Jugendliche können auch bei milden oder unerkannten Infektionen von Long COVID betroffen sein.
- Anhaltende oder neu auftretende Beschwerden nach Sars-COV2-Infektion bis 12 Wochen à Long COVID
- Dauer mehr als 12 Wochen à Post COVID
- ME/CFS kann als schwerste Form von Post COVID auch bei Kindern und Jugendlichen auftreten.
- Über 200 Symptome sind bekannt: Anzeichen reichen von Erschöpfung, Konzentrations- und Wortfindungsstörungen, Herzrasen, schwankender Belastbarkeit, Übelkeit, Geräusch- und Lichtempfindlichkeit, nicht regenerativem Schlaf bis zu Atembeschwerden
- Long COVID Betroffene sind oft nicht mehr in der Lage in gewohntem Umfang ihren Berufs-, Schul- und Alltagstätigkeiten nachzugehen, ohne dass sich ihr Gesundheitszustand dadurch teilweise langfristig verschlechtert
- Laut einer ersten Studie sind 45% der Long COVID-Erkrankten nach über 6 Monaten nicht in der Lage Vollzeit zu arbeiten, 20% sind arbeitsunfähig. 80% der Betroffenen, die nach 6 Monaten noch Beschwerden haben, leiden auch nach mehr als einem Jahr an Symptomen.
Gesundes Aufwachsen zur Priorität machen!
„NichtGenesenKids“ ist ein Zusammenschluss von Eltern, deren Kinder und Jugendliche von Long Covid, Post Covid, Post Vac oder ME/CFS betroffen sind. Ihr Ziel ist es, ein Netzwerk für Eltern betroffener Kinder zu schaffen, um sich gegenseitig in dieser neuen, schwierigen Situation zu unterstützen – etwa bei der Arztsuche oder beim Austausch und der Kommunikation mit Ärzten, Ämtern, Schulen oder Krankenkassen. Das Angebot soll für jedes Bundesland etabliert werden, so dass Betroffene direkt vor Ort individuelle Hilfe und Informationen erhalten. Bayern soll hierbei als Leuchtturmprojekt insbesondere bei der Vernetzung der ärztlichen Versorgung, Aufklärung über vorhandene Strukturen und einem intensiven Kontakt mit allen Beteiligten zur Schaffung besserer Bildungschancen betroffener Kinder vorangehen. Die Mitinitiatorinnen Lena Riepl und Soleil Völkl stellen hierbei immer wieder fest, dass bereits vorhandene Hilfestrukturen vielen Beteiligten nicht bekannt sind. Betroffene Kinder und Jugendliche, die krankheitsbedingt längere Zeit nicht oder nur sporadisch die Schule besuchen können, erhalten daher oft über einen langen Zeitraum hinweg kein adäquates Bildungsangebot. In Zusammenarbeit mit NichtGenesenKids möchte der BLLV auf die Situation betroffener Kinder und Jugendlicher aufmerksam machen und eine breite Öffentlichkeit für die Erkrankung und einen angemessen Umgang mit ihr sensibilisieren.
„Dass Kinder und Jugendliche über Monate hinweg nicht beschult werden, dürfen wir so nicht hinnehmen. Wir müssen Bildung, Schule und Unterricht vom Kind aus denken. Es ist Aufgabe der Politik, auch in Zeiten des Lehrermangels ausreichende personelle Ressourcen und die notwendigen Infrastrukturen zur Verfügung zu stellen, damit individuelle Förderung unter der Berücksichtigung der gesundheitlichen Belastungsgrenzen betroffener Kinder und Jugendlicher endlich flächendeckend möglich wird. Wir dürfen kein Kind zurücklassen!“ Simone Fleischmann, BLLV-Präsidentin
Daher setzen sich die Eltern der Initiative dafür ein, betroffenen Familien die bestehenden Hilfestrukturen aufzuzeigen und die Beteiligten zu verknüpfen. Ziel ist es, eine Teilhabe zu ermöglichen - sei es durch Nachteilsausgleiche oder Schulbeförderung ggf. auch durch die digitale Teilnahme am Unterricht oder den Einsatz von Avataren.
„Im BLLV machen wir uns stark für multiprofessionelle Teams, die Lehrkräfte entlasten und Kindern und Jugendlichen bei ihrer Entwicklung zusätzlich zur Seite stehen. Eine flächendeckende Versorgung der Schulen mit Schulgesundheitsfachkräften, also medizinisch sowie pädagogisch geschultem Personal, würde das gesunde Aufwachsen junger Menschen fördern und Diagnoseverfahren beschleunigen. Bis dahin müssen Professionen, die tagtäglich im Kontakt mit jungen Menschen sind, umfassend hinsichtlich der Krankheitssymptome und Unterstützungsangeboten aufgeklärt werden, sodass bei Bedarf schnell gehandelt und geholfen werden kann.“ Simone Fleischmann, BLLV-Präsidentin
Die engagierten Eltern wollen ein Bewusstsein für das Thema Long COVID schaffen. Sie suchen den ständigen Dialog mit politischen Entscheidungsträgern, um die Finanzierung und Förderung von Studien und Grundlagenforschung anzustoßen. Sie setzen sich dafür ein, dass ein behördliches Meldesystem für Post Covid und ME/CFS eingeführt wird, um einen genaueren Überblick zu erhalten. Unter anderem wirkte die Initiative bei der neuen S1 Patientenleitlinie Long COVID Post COVID mit und wurde als Sachverständige zur Anhörung zu ME/CFS in den Gesundheitsausschuss des Bundestages geladen.
Wer mehr über die Arbeit der Initiative erfahren möchte oder mit betroffenen Eltern in Austausch kommen möchte, findet die Kontaktdaten auf der Website: www.nichtgenesenkids.de
https://register.awmf.org/assets/guidelines/020-027p_S1_Post_COVID_Long_COVID_2023-02.pdf
https://www.bundestag.de/ausschuesse/a14_gesundheit/oeffentliche_anhoerungen/936116-936116
https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/
https://longcoviddeutschland.org
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-long-covid-jugendliche-kinder-virus-100.html