Lehrerinnen und Lehrer wollen jedes Kind bestmöglich fördern. Zum Ethos des Berufsstandes gehört es, Ungerechtigkeiten auszugleichen, gleiche Startchancen zu garantieren. Aber wollen das wirklich alle? Regiert nicht in Wirklichkeit allenthalben das elitäre Motto: Wer’s nicht schafft, hat Pech gehabt?
Ach, was ist schon gerecht im Leben? Offensichtlich wenig. Ist es gerecht, wenn ausländische Mitbewohner die Drecksarbeit machen? Wenn die Schichtarbeiterin im Krankenhaus deutlich weniger verdient als die Lehrerin? Wenn ältere Menschen, die Jahrzehnte gearbeitet haben, zur Tafel müssen? Oder auch: Wenn das aufgeweckte Kind von Einwanderern, das mit acht Jahren schon drei Sprachen spricht, dann doch nicht aufs Gymnasium darf?
Wenn die Lebenschancen in der Gesellschaft nicht gerecht verteilt sind, dann sind es die Zuweisungen durch Noten auf unterschiedliche Schularten erst recht nicht. Und wie gerecht sind denn Noten grundsätzlich? Jeder bringt seine eigenen Voraussetzungen mit und trotzdem schreiben alle am selben Tag dieselbe Schulaufgabe mit denselben Kriterien in derselben Zeit mit demselben Bewertungsmaßstab.
Und wenn schon die Noten nicht gerecht sind, wie können dann die Bildungschancen gerecht sein? Wenn die 2,33 den Kindern in prekären Verhältnissen im Münchener Norden etwas ganz anderes abverlangt als den Kindern im super reichen Starnberg? Der Bildungserfolg hängt in Bayern nun einmal nachweislich so stark wie in keinem anderen Bundesland vom sozioökonomischen Hintergrund des Elternhauses ab.
Wenn das alles so ist: Warum haben wir es nicht schon längst geändert? Vielleicht, weil es ja gar nicht alle ändern wollen? Oder wenn, dann höchstens für sich selbst? Wird vielleicht nur dann laut nach Gerechtigkeit gerufen, wenn die eigenen Kinder die 2,33 gerade nicht geschafft haben? Und sind die Kinder erst mal aus dem Gröbsten raus, dann scheint es vielen egal zu sein ob das Schulsystem gerecht ist oder nicht. Da höre ich dann Leute sagen: Mal eine schlechte Note – da muss man sich halt auf den Hosenboden setzen. Eine Ehrenrunde drehen, das hilft doch nur. Und hat noch niemandem geschadet. Schlechte Noten muss es geben, sonst tut die neue Generation ja nichts.
All diese Mythen und wirren Äußerungen tragen dazu bei, dass die Diskussion um grundsätzliche Gerechtigkeit eben nicht vorankommt. Nicht in der Gesellschaft. Und eben auch nicht in der Schule. Es ist ein Teufelskreis: Die Kompetenz der Praxis und die Professionalität der Lehrerinnen und Lehrer scheint gesellschaftlich einfach nicht gefragt zu sein. So stabilisiert sich eine auf scharfe Konkurrenz ausgelegte Leistungskultur in unserer Gesellschaft – was wiederum eine Veränderung dieser Leistungskultur im Sinne von fairen Lernbedingungen und Prüfungsarrangements an unseren Schulen verhindert. Und dann heißt es wieder: Die einen sind halt intelligenter und schreiben dann eben auch bessere Noten. Es können nicht alle die gleichen Chancen haben.
Traurige Sätze, die mir in unterschiedlichen Diskussionsrunden begegnen, leider auch im Bekannten- und Familienkreis. Manchmal denke ich mir, das sagen diese Menschen nur, weil sie sich selber nicht fair und gerecht behandelt gefühlt haben und anderen den Erfolg nicht gönnen. So nach dem Motto: Wo kommen wir hin, wenn den Kindern die Noten hinterher geschmissen werden? Selber schuld, wenn sich die Eltern nicht um die Kinder kümmern. Warum sollen denn immer nur die Migrationskinder zusätzliche Förderung haben und dann womöglich auch noch eine Zwei in Mathematik schaffen? Meine Tochter hat Legasthenie und braucht dringend eine differenzierte Leistungserhebung, das Kind mit Inklusionsförderbedarf kann ja damit eh nichts anfangen. Das kann ja ins Förderzentrum gehen.
Wo bei all dem eigentlich die Gerechtigkeit bleibt, das habe ich mich schon als Studentin gefragt, dann als junge Lehrerin in einer Hauptschule und später permanent als Rektorin einer Grund- und Mittelschule. Als Präsidentin des BLLV frage ich mich manchmal, ob es nur wir sind, wir Lehrerinnen und Lehrer, die sich darüber Gedanken machen und ob sich die Gesellschaft mit den Zuständen abgefunden hat.
Wir versuchen der Ungerechtigkeit täglich pädagogische und psychologische Angebote entgegenzusetzen. Wir geben alles, um alle Kinder mitzunehmen, um höchst unterschiedliche Voraussetzungen auszugleichen. Aber je mehr wir um jedes bisschen Gerechtigkeit kämpfen, desto mehr beschleicht viele von uns das Gefühl, dass die Gesellschaft diese krassen Unterschiede einfach will: Der eine soll ruhig der Bessere sein, den angesehenen Beruf haben, der andere darf gerne den minderwertigen Beruf ausüben.
So viel ist inzwischen klar: Wir können den Gerechtigkeitsbegriff nur gesamtgesellschaftlich diskutieren. Und dann müssen wir reflektieren, was „gerecht“ im Zusammenhang mit Schule bedeutet. Sofern das gewünscht ist.