Simone Fleischmann im Wortlaut zum Thema mangelnde Bildungsgerechtigkeit:
"Ein zentrales Ergebnis in vielen Studien, und eben auch in dieser, ist: Die Kinder, deren Eltern benachteiligt sind, sind auch bei den Bildungschancen benachteiligt. Das heißt, Kinder aus sozioökonomisch schwachen Elternhäusern haben auch schwache Lernergebnisse, sind benachteiligt gegenüber denen, deren Eltern sich Bildung leisten können, Nachhilfe leisten können oder die Kinder selbst ganz anders betreuen können. Das ist deswegen so schlimm, weil wir an den Schulen nicht die Ressourcen haben, um individuell zu fördern und das auszugleichen. Das ist leider schon seit Jahrzehnten so. Da ist Deutschland Schlusslicht, da ist Bayern Schlusslicht. Wir schaffen es nicht, die sozialen Ungleichheiten auszugleichen. Warum nicht? Dazu bräuchte es viele Lehrerinnen und Lehrer. Wenn wir die nicht haben, um individuell zu fördern, um sehr sensibel mit Stärken und Schwächen der Kinder umzugehen, dann werden wir das nie ausgleichen können."
Zukunftsaussichten beim Lehrermangel:
"Die Kultusministerkonferenz hat 20 Jahre Lehrermangel in den unterschiedlichen Schularten prognostiziert, unterschiedlich schlimm zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Wir versuchen zwar immer wieder, die Kinder individuell abzuholen, aber der große Schlüssel zum Erfolg wären dafür kleine Gruppen und viele Förderlehrer. Leider sind die Förderlehrer zurzeit meist zweckentfremdet im Klassenleiterunterricht und stopfen da die Löcher, weil wir eben insgesamt zu wenige sind. Das individuelle Lernen fällt hinten runter, wenn man zu wenig Lehrer hat."
Schulische Voraussetzungen für individuelle Förderung:
"Um die soziale Schere bei der Bildungsbenachteiligung der Kinder zu schließen, müsste man überlegen, was es personell braucht, strukturell, aber eben auch vom Verständnis von Schule her. Personell ist ganz klar: Kinder individuell fördern kann man im individuellen Setting. Aber bei 27 in einer Klasse, in der sehr viele zusätzliche Herausforderungen da sind, liegt es auf der Hand, dass das nicht geht.
Strukturell müssen wir überlegen, ob die Dreigliedrigkeit hier in Bayern, dass nach der vierten Klasse Kinder aufgrund von drei Noten auf drei Schularten verteilt werden, diesen Kindern gerecht wird. Das ist aber ein harter Kampf, weil es da auch um Verteilungskämpfe und den Erhalt von Strukturen geht. Da gibt es viele, die sagen: Nein, wir wollen keine andere Struktur, nur wegen dieser Kinder. Wir im BLLV glauben aber, dass die sozial schwächeren Kinder durch eine Heterogenität auch ab der vierten Klasse hinauf bis in die zehnte Klasse sehr gut partizipieren und profitieren könnten.
Außerdem muss man halt schauen, wie viel Bildung insgesamt wert ist. Wenn man jetzt nicht die Lehrer hat, die Schulstruktur nicht ändern will, dann muss man halt Geld in dieses System stecken, um zumindest zusätzliches Personal zu akquirieren. Das geschieht bereits. Die Frage ist nur, wo das Personal herkommen soll bei einer Situation des übergreifenden Fachkräftemangels."
Diskussion um Schwerpunkte schulischer Bildung:
"Die PISA-Ergebnisse und die Studien zum Tag der Bildung und auch unsere Erfahrungen als Lehrerinnen und Lehrer zeigen, dass die Kinder die Grundlagen-Kompetenzen nicht mehr so drauf haben wie früher. Lesen, Rechnen und Schreiben sind die grundlegenden Kompetenzen. Mit der deutschen Sprache umgehen, sie verstehen, sie anwenden können, sie auch reflektieren können: Das sind Grundkompetenzen. Wir sehen jetzt, dass ein Viertel der Kinder in der vierten Klasse nicht mal mehr über die Basiskompetenzen verfügen, das zeigt ein eklatantes Problem. Jetzt reagiert die Politik, indem sie sagt, na gut, dann müssen wir halt in der Grundschule nur noch lesen, rechnen, schreiben. Das ist aber fatal, denn es gibt schon auch noch andere Fächer wie Sport, Kunst, Musik, Handarbeiten: Es gibt eben die ganzheitliche Bildung, die aus Sicht von Wissenschaft und BLLV essenziell ist für nachhaltige Bildungserfolge. Früher gab es auch noch Arbeitsgemeinschaften an den Schulen und so etwas ist sehr förderlich, auch fürs Lesen, Rechnen, Schreiben. Deswegen ist die große Frage: Auf was fokussiert Schule? Der Herr Ministerpräsident hat in seiner Regierungserklärung hier in Bayern gesagt: Auf die richtigen Schwerpunkte in der Grundschule kommt es an. Die Diskussion müssen wir jetzt mal führen. Was sind denn die richtigen Schwerpunkte?"
Bereitschaft der Politik und darüberhinaus:
"Wie bereit die Politik ist, das finde ich eine sehr spannende Frage. Ich glaube, sie muss einerseits bereit sein, neu zu denken, damit wir endlich damit aufhören, dass wir Kinder im auswendig lernen trainieren, denn das hat mit Zukunftskompetenzen nichts zu tun. Es gibt es leider immer noch viele, die das sagen, teils auch in der Politik. Andererseits gibt es Kampagnen, Bildungsrevolutionen, die sagen, es muss sich grundlegend etwas ändern. Es ist aber nicht die Politik alleine, die etwas ändern kann, sondern wir Lehrerinnen und Lehrer müssen mitgenommen werden, und letztendlich muss die ganze Gesellschaft diesen Turnaround leisten. Ich glaube, dass die Zeit dafür reif ist. Viele Mamas und Papas sagen: Es kann doch so nicht weitergehen! In der Politik erkennen viele: Wir sind jetzt irgendwie mit der Karre an die Wand gefahren, wir haben zu wenig Lehrer, wir haben zu wenig Kompetenzen bei den Kindern. Und wir Lehrerinnen und Lehrer sagen schon lange, dass sich unsere Lern- und Leistungskultur ändern muss. Von daher befinden wir uns schon in einer sehr fruchtbaren Zeit, in der ich glaube, dass diese Diskussion über mit allen Beteiligten funktionieren kann."
Nötige Veränderungen gemeinsam auf den Weg bringen:
"Analysiert wird schon seit Jahrzehnten. Jetzt kommt noch der Lehrermangel dazu. Das leugnet auch kein Politiker mehr, denn es fällt Unterricht aus, Kinder kommen früher nach Hause und in der Schule arbeiten Menschen, die keine Lehrer sind. Jetzt ist Handeln gefragt. Man darf jetzt aber auch nicht den Fehler machen – und das ist unser Blick im BLLV – einfach ein Schalter umzulegen und irgendwie mal von heute auf morgen etwas anders machen, oder gleich morgen die Schulstruktur ändern. Nein, das muss schon mit der Gesellschaft zusammen passieren. Es braucht die Bereitschaft der Lehrerinnen und Lehrer, es braucht die Offenheit der Gesellschaft und auch die Politik muss mitgenommen werden. Denn eine Revolution brauchen wir nicht, sondern wir brauchen evolutionäre Veränderungen, da, wo sie möglich sind, und da, wo wir längerfristig hinwollen, in kleinen Schritten zu Beginn. Aber klar ist: Alle müssen jetzt rauskommen aus dem Analysemodus und reinkommen ins Handeln!"