Prof. Dr. Heiner Böttger im Interview mit Manuela Rosner, der stellvertretenden Leiterin der Fachgruppe Fremdsprachen im BLLV.
Prof. Dr. Heiner Böttger im Interview mit Manuela Rosner, der stellvertretenden Leiterin der Fachgruppe Fremdsprachen im BLLV.
Sprachbildung Lehrkräftemangel

Interview mit Prof. Dr. Heiner Böttger zum Englischunterricht in der Grundschule

Fremdsprachenunterricht an der Grundschule wird immer wieder in Frage gestellt. Warum? Ein Interview von Manuela Rosner, stellvertretende Leiterin der Fachgruppe Fremdsprachen.

Fremdsprachenunterricht an der Grundschule wird in regelmäßigen Abständen von Vertretern weiterführender Schulen in Frage gestellt, obwohl es schon lange ein Gesamtkonzept Fremdsprachen – auch für Bayern – gibt.

In der wieder aktuellen Situation wollte Manuela Rosner, die stellvertretende Leiterin der Fachgruppe Fremdsprachen, anlässlich eines Grundsatzreferats von Prof. Dr. Heiner Böttger am 10.07.2023 in Nürnberg, mit ihm anschließend ein Interview führen. Wegen Terminüberschneidungen konnte sie ihre diesbezüglichen Fragen nur schriftlich vorlegen, sodass das geplante Gespräch in Textform wiedergegeben werden kann.

Heiner Böttger ist seit 2007 Leiter der Professur für die Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt und Vorsitzender des BIG-Kreises in der Stiftung Lernen mit Schwerpunkt Früher Fremdsprachenunterricht in der Grundschule. Weiterhin ist er als Berater von Lehrwerken für verschiedene Schularten sowie als Autor bedeutender fachdidaktischer Werke bekannt.

 

Was halten Sie von aktuellen Tendenzen, den Englischunterricht in der Grundschule wieder abzuschaffen und dafür mehr Lesen und Schreiben im Deutschunterricht zu schulen?
Nichts. Ich bin nicht mal mehr über die fachliche Ignoranz verwundert, mit der Grundschul-Englischunterricht in regelmäßigen Abständen seit seiner Einführung immer wieder in Frage gestellt wird. Große empirische Untersuchungen wie die EVENING-Studie 2009, die BIG-Studie 2014 oder aktuell die Bilinguale Grundschule Bayern Englisch von 2020 zeigen eigentlich bereits deutlich ohne Interpretationsspielraum die großartigen fremdsprachlichen Lernerfolge unsere Kinder – und damit auch der beteiligten Lehrkräfte – auf. Solche wissenschaftlichen Belege bewusst oder unbewusst zu ignorieren, disqualifiziert die entsprechenden Personen ganz von selbst.

Die Rechnung ist eine völlig falsche: Weniger Englischunterricht führt nicht zu besserem Deutsch, das kann man z. B. ganz einfach bei den Befunden der genannten bayerischen Forschung von 2020 nachlesen. Das Problem einer erfolgreichen, auch mehrsprachigen Alphabetisierung ist ganz anders gelagert und viel komplexer. Ein Summenspiel wird dem überhaupt nicht gerecht, obwohl es populistisch einfach und nachvollziehbar erscheint. So können sich Quasi-Bildungsexperten immer wieder durch didaktisches und pädagogisches Halbwissen hervortun, anstatt auf der Basis von wissenschaftlichen Evidenzen zu argumentieren. Ganz gefährlich: Solche Tendenzen tragen erheblich dazu bei, Lehrkräfte, die sich tagtäglich erfolgreich um die fremdsprachliche Bildung unserer Kinder bemühen, weiter zu demotivieren, bzw. mögliche künftige von einer entsprechenden Berufswahl abhalten.

Wie kann eine Kampagne entstehen, die den zweijährigen Englischunterricht in der Grundschule für wertlos erachtet?
Da gibt es zunächst einige fragwürdige Studien, die die englischsprachigen Leistungen der Jugendlichen in der Unterstufe weiterführender Schulen mit teils hohem zeitlichen Abstand zur Grundschulzeit messen und dann Rückschlüsse bezüglich der lange zurückliegenden Lehr-/Lernprozesse ziehen. Das ist unwissenschaftlich, unredlich und unfair. Die „Ergebnisse“ werden dann nach bildungspolitischem Bedarf instrumentalisiert und für die entsprechenden kontraproduktiven sprachenbildungspolitischen Zwecke verkürzt wiedergegeben.

Die erstaunliche Unkenntnis von für die Sekundarstufe Verantwortlichen darüber, dass die Erfolge des Grundschul-Englischunterrichts im Hörverstehen, elementaren Sprechen und im interkulturellen Lernen liegen, und auch wegen der kurzen Unterrichtszeit nur dort liegen können, ist ein zweiter Punkt. Wird z. B. von Meta-Grammatikkenntnissen, einem gefestigten Schriftbild oder gar einem umfassenden, aktiven Wortschatz ausgegangen, entstehen zu Beginn der Sekundarstufe Missverständnisse und in der Folge Spannungen zwischen den Schulformen.

Globales Lernen in einer kulturellen Vielfalt hat auch im Englischunterricht der Grundschule einen hohen Stellenwert. Wie interpretieren Sie diese Aussage?
Die Aussage bedeutet zunächst richtigerweise, dass im Englischunterricht an Grundschulen besonderer Wert auf die Förderung globaler Perspektiven und interkultureller Kompetenzen gelegt wird. Das ist tatsächlich ein unverzichtbarer Mehrwert und Kompetenzgewinn, der gar nicht später als in der Grundschulzeit erfolgen darf. Die kulturellen Unterschiede und Vielfalt der Welt früh zu betonen und als eine wichtige Ressource zu betrachten, um das eigene Verständnis und die eigene Wertschätzung für andere Kulturen zu fördern, gelingt besonders gut über die englische Sprache als akzeptierte Kinder- und Jugendkultur. Kleine Lernerfolge führen hier zu größeren – peacekeeping at its very best.

Hier werden im Englischunterricht Wertehaltungen grundgelegt und Persönlichkeiten entwickelt: Es entsteht über die Beschäftigung mit einer lingua franca, einer globalen Sprache also, zunächst ein Bewusstsein für globale Themen, die über die unmittelbare Umgebung der Kinder hinausgehen, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Umwelt zum Beispiel. So wird ihnen deutlich, dass es verschiedene Kulturen auf der Welt gibt, die ihre ganz eigenen Traditionen, Sprachen, Bräuche und Werte haben. Durch das Kennenlernen und die Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt wird Vorurteilen und Stereotypen entgegengewirkt. Eine ganz besondere Kompetenz kann wachsen – sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen und deren Perspektiven zu verstehen ist die Grundlage für respektvollen und einfühlsamen Umgang miteinander. Überall und in jeder Situation.

Birgt der Fremdsprachenunterricht nicht unübersehbare Vorteile für das weitere Fremdsprachenlernen?
Es sind so viele Vorteile, dass es für jemanden wie mich extrem schwierig ist, unverdaute anderslautende Bewertungen zu tolerieren und zu akzeptieren. Wer die Vorteile negiert, verhält sich unseren Kindern gegenüber unfair und deckelt mögliche enorme sprachliche Entwicklungen – aller Kinder, mit und ohne Migrationshintergrund, mit und ohne Förderungsbedarf.

Gerade im Grundschulalter – und davor – befindet sich das kindliche Gehirn noch in der sprachlich sensiblen und entwicklungsstärksten Phase. Sprachen werden schnell, effizient, intuitiv und spielerisch aufgenommen und verarbeitet. Die jeweilige Muttersprache profitiert vom meist unbewussten Vergleich mit dem fremdsprachlichen Input – eine frühe autonome Lernstrategie, die später automatisch für das Erlernen weiterer Sprachen verwendet wird. Das betrifft beispielsweise die Aussprache oder grundlegende Grammatik- und Strukturkenntnisse, die für das Verständnis anderer Sprachen von Vorteil sind.

Das wachsende kulturelle Bewusstsein hatte ich ja schon genannt, hinzu kommt noch das sich langsam aufbauende Selbstbewusstsein im Umgang mit Sprachen. Das Kommunikationsverhalten wird differenzierter – und ganz wichtig: Fehler werden von den Kindern als notwendiger Teil des Sprachlernprozesses erkannt und in Kauf genommen. Dahin muss sich der Englischunterricht noch entwickeln und Aufgabenformate schaffen, die Selbstbewusstsein fördernde, nichtrestriktive Sprachverwendung möglich machen. Der Grundschulenglischunterricht tut dies weitgehend, da er unbenotet bleibt. Die Notendiskussion ist jedoch nicht Teil der Frage gewesen.

Welche Vorteile haben SchülerInnen in anderen Bundesländern (z. B. Rheinland-Pfalz), wenn sie bereits ab der ersten Klasse bilingual in Englisch oder Französisch unterrichtet werden?
Die Vorteile sind dieselben, wie bereits beim Forschungsprojekt der Bilingualen Grundschule Bayern Englisch vorgestellt und durch das Folgeprojekt in Französisch gerade bestätigt: Die deutsche Sprache wird durch den Sprachvergleich erheblich gefördert, Fremdsprachen entwickeln sich mit hoher Geschwindigkeit und kognitive Anforderungen wie beispielsweise mathematische Aufgaben, werden effizienter und erfolgreicher gelöst. Wer möchte das denn nicht für seine bzw. unsere Kinder?

 

Herzlichen Dank an Prof. Dr. Böttger für die fachlich und pädagogisch tiefgründig formulierten Antworten!

Manuela Rosner, BLLV Fachgruppe Fremdsprachen

Medienschau

Das Bildungsmagazin News4teachers berichtet über die Debatte. BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann betont in dem Artikel: "Grundschule ist mehr als nur Lesen, Rechnen, Schreiben!" Sie spricht sich für eine ganzheitliche Bildung aus, damit die Kinder "als selbstbewusste Menschen mit ihren Stärken und Schwächen an den weiterführenden Schulen bestehen zu können". Dazu gehöre in einer globalisierten Welt neben Musik, Kunst und Sport auch Englisch. Deswegen müsste man den Lehrkräftemangel beheben, um gute Lernergebnisse zu erzielen.

Zum Artikel auf news4teachers.de: Wenn es am Lesen und Schreiben krankt: Englisch an der Grundschule streichen?



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