Ein Beitrag von Julia Schuck, Schulleiterin der Grundschule Schöllkrippen, Trainerin für ViL und Bezirksreferentin der Abteilung Berufswissenschaft im BLLV. Erschienen in der Impulse-Broschüre "Lernen und Leistung im 21. Jahrhundert" 2022.
Die wichtige Rolle der Eltern für den Lernprozess
Lernen und Leistung, das betrifft doch nur die Schule, die Schüler, die Lehrer – so die landläufige Meinung. Doch häufig, vor allem in der Grundschule, spielen die Eltern dabei eine Rolle, die vielfach unterschätzt wird.
afrikanisches SprichwortUm ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.
Die Erwartungshaltung der Schule
Schule erwartet von den Eltern Hilfe und Unterstützung bei den Hausaufgaben, bei der Entwicklung von Arbeitshaltung, Frustrationstoleranz, Ehrgeiz, Motivation, Anstrengungsbereitschaft u.v.m. Eigentlich sollten Lehrkräfte und Eltern am gleichen Strang ziehen, die gleichen Ziele verfolgen, die gleiche Einstellung zu Leistung haben.
Aber wie findet eigentlich die Kommunikation über diese Ziele statt? Schule setzt bei den Eltern oft voraus, dass man sich
darüber blind einig ist. Nicht selten entstehen jedoch genau beim Thema „Leistung in der Schule“ Reibungspunkte – und man macht sich viel zu selten Gedanken darüber, woher der Sand im Getriebe kommt.
Die Rolle der eigenen Lernbiografie
Was ist eigentlich Leistung? Was wird erwartet, was und wie wird benotet, was sagt eine Note aus? Jeder definiert „Leistung“ anders. Als die jetzige Elterngeneration selbst Schüler war, hatte man davon eine andere Vorstellung als heute. Die eigene Lernbiografie spielt beim Thema „Lernen und Leisten“ eine große Rolle, die viel zu oft nicht in den Blick genommen wird.
Eltern waren alle mal selbst in der Schule, haben Erfahrungen mit dem „althergebrachten“ Lern- und Leistungsbegriff gemacht. Diese Erfahrungen prägen und haben daher Einfluss auf den Umgang mit dem Thema. Aus dieser Spirale aus Erfahrungen kommt man schwer heraus und das erschwert es, eine veränderte Sicht aufs Kind, auf Fähigkeiten, auf Leistung zu etablieren. Die Fixierung auf die Ziffernoten im aktuellen Schulsystem stützt das noch. Die Noten sind in vielen Fällen eine „Zugangsbe-
rechtigung“ – und oft zählt nur das.
Offenheit, Vertrauen, Kommunikation, Perspektivwechsel
Da es letztendlich um die Zukunft des Kindes geht, ist ein Vertrauensverhältnis zwischen Elternhaus und Schule die Basis für eine gewinnbringende Zusammenarbeit. Dieses Vertrauen erlangt man durch offene Kommunikation, Empathie und gegenseitigen Perspektivwechsel. Transparenz schafft Vertrauen.
Der Wert des Fehlers – eine veränderte Fehlerkultur
Für alle fordert eine veränderte Fehlerkultur ein Umdenken: Es ist viel wichtiger, den Lernenden die Freiheit zu geben, Fehler zu machen, als von vorneherein eine fehlerfreie Arbeit zu verlangen. Sie müssen ermutigt werden, eigene Ideen und Innovationen zu verfolgen. Nur mit der Erlaubnis zum Fehlermachen können sie den eigenen Lernprozess mitgestalten und einen Bezug zu ihrer eigenen Leistung aufbauen.
Transparenz über Lernen und Leistung von Anfang an
Natürlich muss sich das Kollegium einig sein über die Grundzüge des schulinternen Lern- und Leistungsbegriffs. Was ist uns wichtig? Welche Bedeutung messen wir den Ziffernoten zu? Welche Rolle spielen Lernbeobachtungen? Wie gelangen wir zur Ziffernote im Zeugnis? Wie gehen wir mit Grenzfällen um? ...
Diese Gedanken müssen den Eltern von Beginn der 1. Jahrgangsstufe an transparent gemacht und mit ihnen diskutiert werden. Austausch fördert Perspektivenvielfalt und führt dazu, dass möglichst viele Beteiligte sich im Ergebnis wiederfinden können. Eltern müssen von Anfang an in diesen Prozess miteingebunden werden, damit sie ebenso lernen, die Leistung ihres Kindes gewinnbringend einzuschätzen.
Regelmäßiges Feedback
Ein kurzes Telefonat, eine Notiz im Hausaufgabenheft, eine Rückmeldung zu vereinbarten Zielen – das alles kann helfen, im Gespräch zu bleiben und gemeinsame Schwerpunkte zu bearbeiten.
Erfolge feiern!
Positive Rückmeldungen außerhalb der punktuellen Noten und auch außerhalb der Unterrichtsinhalte (Sozialverhalten, Arbeitshaltung, Engagement, ...) motivieren zum Weitermachen. Das Aufzeigen von Schwächen macht nur Sinn, wenn es dazu eine Hilfestellung gibt, wie aus den Fehlern gelernt werden kann. Die Note 3 kann auch ein großer Erfolg sein – die erbrachte Leistung ist der Erfolg, nicht die Note.
Perspektivenwechsel und „Verständnis zweiter Ordnung“:
- Woher kommt der Fehler? Welche Schritte haben schon gut funktioniert? Wo war der Denkknoten? Hat das Kind nicht genug geübt, oder hat es nicht verstanden? Welche Hürden gibt es? Welche Hilfen sind nötig und passend?
- Leistung: War die Tagesform nicht gut? Gab es parallel zur Notenerhebung ein anderes Problem, welches das Kind gedanklich belastet hat? Wie waren die Rahmenbedingungen? Lag es an der Konzentration? ...
- Lernen: Welcher Lernweg ist der individuell passende? Was braucht das Kind, um Hilfen anzunehmen? Wurde nur auswendig gelernt oder tatsächlich verstanden? ...
Schwerpunkte setzen
Wenn die Arbeitshaltung nicht stimmt oder die Basics fehlen, hat es keinen Zweck, an Inhalten auf hohem Niveau zu arbeiten. Manchmal muss man einen Schritt (oder mehrere) zurückgehen, um die Grundlage zu schaffen, gut weiterarbeiten zu können. Sonst verpufft viel Energie. Vielleicht müssen Lehrkräfte und Eltern sich das häufiger bewusst machen.
Individuelle Ziele festlegen und individuelle Fortschritte planen
Muss wirklich jeder im gleichen Tempo zur gleichen Zeit mit den gleichen Mitteln die gleichen Ziele erreichen? Was ist mein Ziel? Was ist mein nächster Schritt? Woran erkenne ich, dass ich mein Ziel erreicht habe? Wessen Ziel ist das überhaupt: das Ziel des Kindes oder das der Eltern?
Lernentwicklungsgespräche statt reiner Zeugnisse in Papierform
Im Gespräch kann man viele Dinge verständlicher erklären, direkt nachfragen, Missverständnisse vermeiden, Schwerpunkte setzen. Nicht jeder versteht unter einem Wort oder unter einem Satz dasselbe. Es kommt auch hier auf die eigene Interpretation an, die auf der eigenen Erfahrung fußt.
Lernbeobachtung statt reine Leistungserhebung
Ziffernoten haben ihre Berechtigung darin, dass man vermeintlich auf den ersten Blick erkennen kann, „wo man steht“. Wichtig ist jedoch der Bezugspunkt. Welche Skala liegt dieser Einschätzung zugrunde? Womit vergleiche ich mich? Bedeutet eine Note 4, dass ich im Vergleich zu den anderen Lernenden der Klasse schlechter bin als der Durchschnitt? Dass ich den Anforderungen der gestellten Aufgaben „nur“ ausreichend gewachsen bin? Oder dass ich nicht schnell genug war – Leistung wird eben oft de-
finiert als „Arbeit pro Zeit“? Dafür war ich aber vielleicht sehr genau, sehr ordentlich – wo wird das gewürdigt? Die Bewertungsmaßstäbe müssen transparent gemacht werden. Dann kann eine punktuelle Leistungserhebung eine sinnvolle Ergänzung zu einer kontinuierlichen Lernbeobachtung sein.
Alle diese Denkanstöße betreffen nicht nur die Lernenden, sondern auch die Eltern. Vielleicht ist im Familienalltag gerade etwas Anderes viel wichtiger als die Schule (z. B. Krankheits-, Todes-, Pflegefälle, Trennung, ...)? Verständnis von Seiten der Lehrkraft kann hier helfen, keine Negativspirale in Gang zu setzen. Dazu bedarf es aber der regelmäßigen und offenen Kommunikation, die nur auf einer stabilen Vertrauensbasis gelingen kann. Und nur dann kann Lernen und Leistung mit passenden Maßnahmen unterstützt und gefördert werden.
Das bedeutet nicht, dass Leistung nicht gefordert oder nicht bewertet wird. Wenn man aber eine solche Kommunikationskultur mit Eltern und Schülern vom ersten Schultag an pflegt, gibt es weniger Sprengstoff bzgl. der Noten. Die Energie der Lehrkräfte, der Eltern und nicht zuletzt der Lernenden kann dorthin fließen, das Kind als Ganzes in den Mittelpunkt zu stellen und in seiner gesamten Persönlichkeit zu fördern. Dann ziehen alle am gleichen Strang, verfolgen das gleiche Ziel und das Kind erfährt, dass es für sich selbst lernt.
Schule alleine wird den Lern- und Leistungsbegriff nicht verändern können. „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Das gelingt, wenn alle im Dorf sich einig sind, wenn sie gleiche oder zumindest ähnliche Wertvorstellungen haben. Dann formt jeder das Kind aus seinem Blickwinkel und mit seinen Schwerpunkten. So kann am Ende ein stimmiges Ergebnis entstehen. Mit dieser Haltung findet sich leichter ein guter Weg für das Kind, z. B. in der Übertrittsphase
von der Grund- in die weiterführende Schule.
Was Kinder – und Eltern – am nötigsten brauchen, ist das Gefühl, dass sich jemand wirklich für sie interessiert und dass sich ihr Wert nicht an einem halben Punkt in einer Probearbeit bemisst.