Die ifo-Studie vom Mai 2024 hatte Sprengkraft: Forschungsdesign und Ergebnisse der Studie haben hohe Wellen im bildungspolitischen Diskurs geschlagen. Doch welche Aussagekraft hat die Studie? Kann man die Frage nach der Chancengerechtigkeit stellen, ohne das Leistungsniveau an den Schulen zu berücksichtigen? Braucht es jetzt dringend eine Schulstrukturdebatte? Und ist der Besuch eines Gymnasiums hinreichendes Kriterium für Bildungschancen? Diese und weitere Fragen wurden in der Ausgabe des Live.Briefings von Bildung.Table diskutiert.
Gemeinsam mit Prof. Dr. Ludger Wößmann, Autor der Studie und Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik, und Ties Rabe, Schulsenator Hamburgs von 2011 bis Anfang 2024, stellte sich BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann den Fragen der Redaktion.
Eine fundierte Diskussion – gemeinsam an einem Tisch
Fleischmann macht deutlich, dass es genau diese fundierte Diskussion sei, die es jetzt braucht, um der Frage nach den Bildungschancen begegnen zu können:
„Der Tiefgang in der Diskussion muss her. Wir wollen als BLLV, wir wollen als Lehrerinnen und Lehrer, dass Wissenschaft und Politik uns unterstützen in dem, was wir täglich erleben. Und ich möchte schon mal an der Stelle sagen: Wir haben in Bayern neunjährige Kinder, die keine Unterstützung zu Hause haben, die auch wir nicht entsprechend auffangen können und die uns sehr arg ans Herz gehen.“
Dass kein Kind verloren gehen darf, darauf konnten sich die Diskutanten schnell einigen. Doch hinsichtlich der notwendigen Maßnahmen wurde intensiv diskutiert. In der Studie heißt es, dass „Schulsysteme, in denen die Schulkinder erst später auf weiterführende Schularten aufgeteilt werden, systematisch eine höhere Chancengleichheit aufweisen“. Und auch die BLLV-Präsidentin betont in der Diskussion, wie viel Druck der Übertritt nach der vierten Klasse bei Schülerinnen und Schülern sowie deren Eltern erzeugt.
Individuelle Förderung für ALLE Schülerinnen und Schüler
Klar ist, der Fach- und Lehrkräftemangel verschärft die Situation für die Kinder enorm. Die Herausforderungen sind immens und können nicht mit einer einzelnen Maßnahme bewältigt werden. Vielmehr braucht es ein abgestimmtes Maßnahmenpaket, um die Bildungschancen in Bayern für alle Schülerinnen und Schüler zu erhöhen, unterstreicht Fleischmann und benennt konkrete Ansätze:
- Es braucht eine längere gemeinsame Schulzeit, mit bester individueller Förderung.
- Die Strukturdebatte muss geführt werden. Dabei müssen die Perspektiven aller Bildungsbeteiligten angehört werden. Auch gilt es den Blick auf andere Bundesländer zu richten und von den dort gemachten Erfahrungen zu lernen.
- Es braucht einen zukunftsfähigen Lern- und Leistungsbegriff.
- Die frühkindliche Bildung muss gestärkt werden, denn ohne die frühe individuelle Förderung läuft jede Diagnostik ins Leere.
Bildung mit Blick auf unsere Zukunft
Zwei Punkte waren der BLLV-Präsidentin dabei besonders wichtig. Nämlich zum einen, dass die fatale Selektion der Kinder in ihrer Bildungsbiographie nicht auch noch auf die Frühkindliche Bildung ausgeweitet wird, wenn vor der Einschulung erst einmal Sprachtests bestanden werden müssen. Und dass alle an Bildung und Schule Beteiligten gemeinsam reflektieren, wie eine zukunftsfähige Bildung genau aussieht.
Dazu Simone Fleischmann: „Es kann ja nicht sein, dass wir das jetzt, mit der neuen Sprachstandserhebung in Bayern die Selektion schon auf die Viereinhalbjährigen ausdehnen. Und was mache ich dann mit den Kindern, die die Sprachstand nicht haben? Kann ich sie fördern? Kann ich Ihnen ein Programm anbieten? Kann ich die Eltern mitnehmen und ihnen auch beratend zur Seite stehen, damit das Kind dann in die Schule kann. Oder lasse ich die Kindergärten, die Erzieherinnen, die Eltern und Kinder allein? Genau die Problematik des Übergangs aus dem Kindergarten in die Grundschule, aus der Grundschule, in die weiterführenden Schularten - das sind die Knackpunkte. Und wie gestalten wir die? Also ich wäre sehr interessiert daran, dass wir das in Zukunft anders diskutieren.“
Und zum Thema einer zukunftsfähigen Bildung forderte die BLLV-Präsidentin: „Ich habe noch niemanden getroffen, der nicht will, dass unsere Kinder Rechnen, Schreiben und Lesen lernen. Aber ich kenne zunehmend mehr Menschen, die sich fragen, ob bulimisches Lernen, rein faktenorientiertes Lernen richtig ist – also Lernen, das nicht tief verankert ist, das nicht verständnisintensiv ist, das nicht unbedingt kompetenzorientiert ist und das auch nicht vernetzt ist. Es geht für die Zukunft um ganz andere Kompetenzen. Und deswegen freue ich mich immer, wenn wir uns gemeinsam und quer durch die Gesellschaft fragen, ob nicht Agilität, ob nicht Resilienz, ob nicht Konfliktfähigkeit, ob nicht die demokratische Bildung, ob nicht die mediale Bildung, ob nicht diese Zukunftskompetenzen wichtiger werden müssen, als das Auswendiglernen für eine Schulaufgabe.“