"Wir müssen einsehen, dass unser Leistungssystem oldschool ist“, sagt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk mit Blick auf die aktuelle Debatte um Betrugsversuche bei Abiturprüfungen in Hamburg mithilfe der KI-Anwendung ChatGPT. Wissenschaftlich ist ohnehin seit Langem Konsens, dass Leistungsrückmeldung individuelle Lernprozesse in den Blick nehmen muss, um Lernentwicklung tatsächlich zu unterstützen: “Wir müssen künftig die Prozesse beurteilen und nicht das Ergebnis", stellt die BLLV-Präsidentin im Gespräch mit dem ZDF klar.
Betrug mit KI: Lernprozesse differenziert bewerten, statt nur das Ergebnis
Die Debatte um Betrugsversuche mit KI zeigt, wie überholt und verengt die klassische Notengebung ist: BLLV-Präsidentin Fleischmann fordert, endlich Lernprozesse in den Mittelpunkt zu stellen und Leistung zeitgemäß mit pädagogischem Fokus rückzumelden.
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Prinzipiell sei der Wissenserwerb aus Drittquellen ja nichts Neues, so Fleischmann: “Früher hat man den Opa gefragt, jetzt fragt man ChatGPT.“ Angesichts neuer medialer Möglichkeiten greift eine Verbotsdebatte jetzt deutlich zu kurz. Vielmehr geht es darum, die daraus entstehenden Möglichkeiten pädagogisch sinnvoll zu integrieren, analysiert Fleischmann: "Wir dürfen das nicht negieren. Wenn die Kinder ihr Wissen woanders herkriegen, dann müssen wir uns überlegen, ob wir den Prozess stärker bewerten“, sagt sie dem Bayerischen Rundfunk. Denn: “Die Note sollte nicht nur fürs Auswendiglernen gegeben werden, sondern den Lernprozess beurteilen – egal, ob das Kind den Stoff allein erarbeitet oder Hilfe von einer künstlichen Intelligenz gehabt hat“, so Fleischmann gegenüber der Bild-Zeitung.
Wie hast du gelernt, was hast du verstanden?
Entscheidend ist dabei vor allem, WIE Schülerinnen und Schüler Tools wie ChatGPT für Lernprozesse nutzen. Oberstes Bildungsziel muss dabei die kritisch reflektierte und reflektierende Nutzung sein. Ob das von Schülerinnen und Schüler erreicht wird, lässt sich keinesfalls mit einem verengten Blick ausschließlich auf das Ergebnis des Lernprozesses bewerten. “Wir wissen ganz genau, wie man KI in ein gutes Bildungssystem integrieren kann“, sagt BLLV-Präsidentin Fleischmann und fordert: "Aber die Leistungsmessung muss sich ändern.“
Dazu braucht es allerdings ein gesamtgesellschaftliches Umdenken. Eine simple Ziffer kann komplexe Prozesse nur unzureichend abbilden. Doch diese Ziffer verlangt das jetzige System, kritisiert Fleischmann: "Wir sollen immer noch selektieren, aussortieren, Noten geben“, schildert sie im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung den Schulalltag, in dem Leistungsrückmeldung eben nicht individuell prozessorientiert, pädagogisch und motivierend stattfinden darf, sondern rechtlich unanfechtbar Zukunftschancen zuweisen muss. Die mitunter aufgeregte Kritik, dass es durchaus aufs Ergebnis ankomme, hält Fleischmann für verkürzt: „Es kann doch beides sein: Wie hast du gelernt? Und was hast du verstanden?“ Denn Letzteres sei am Ende doch entscheidend: "Die Schüler sollten verstanden haben, worum es geht und kompetent und kritisch mit neuen Medien umgehen können“, forderte die BLLV-Präsidentin gegenüber der Bild-Zeitung.
Schule jetzt neu denken!
Aus Sicht des BLLV ist dabei nun Eile geboten. "Die Art und Weise unseres Schulsystems, die Systemlogik, stößt inzwischen an ihre Grenze – das hat damit zu tun, dass wir einfach stehen geblieben sind", sagt Präsidentin Fleischmann dem ZDF. Man dürfe "Entwicklungen in diesem zukunftsträchtigen Bereich nicht negieren“. Hier ist sofortiges Handeln gefragt, “und nicht erst in 20 Jahren“. Denn: “Die KI wartet nicht, bis wir krisenfest und innovationsbereit sind und der Lehrermangel in Deutschland beseitigt ist“, sagt Simone Fleischmann der Bild-Zeitung.
Ein zeitgemäßes Verständnis von Lernen und Leistung – und in der Folge auch von Leistungsrückmeldung – hat der BLLV kürzlich auch in den Mittelpunkt bildungspolitischer Diskussionen auf seiner Landesdelegiertenversammlung gerückt. Insbesondere im Rahmen einer Festveranstaltung, an der unter anderem Ministerpräsident Söder, Kultusminister Piazolo und Bildungsexperten aller demokratischer Parteien des Landtags teilnahmen. Dort war es breiter Konsens, dass Schule schülerzentriert und individuell neu gedacht werden sollte. Ein Bekenntnis, für das der BLLV weiter mit Nachdruck eintreten wird.
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Simone Fleischmann im Wortlaut bei SWR3:
- "Früher haben Schüler halt alle Zahlen, die sie auswendig gelernt haben, hingeschrieben, haben das Periodensystem hingepinselt, haben auswendig hingeschrieben, was vorher gelernt wurde. Diese Kinder hatten dann Einser und Zweier und die, die nicht auswendig lernen konnten, hatten Fünfer. Das ist doch heute nicht gefragt."
- "Wenn ein Schüler mit KI eine Aufgabe bearbeitet, dann muss er lernen: Habe ich das richtige Tool genutzt, ist die Antwort in irgendeiner Weise nachvollziehbar, könnte ich noch ein anderes Tool verwenden oder eine andere Quelle hinzuziehen? Ich muss medienkompetent sein, um die Antwort von ChatGPT oder Ähnlichem zu werten."
- "Ich weiß, dass in der Wirtschaft viele Menschen sehr sensibel hinschauen und sich fragen, ob es in der Schule immer so weiter geht, dass immer nur blankes Wissen geprüft wird. Wir brauchen Menschen, die Demokraten sind, die kritisch sind, die sich einbringen, die dialogfähig sind. Jeder sagt, dass wir in der Schule etwas anders machen müssen, aber die Schule bleibt immer so, wie sie ist. Das kann ja wohl nicht sein. Deshalb freut mich der Dialog mit allen Menschen über diese Themen und so kommt man irgendwann auch weiter, Lehrer trauen sich, anders zu bewerten, und das ist genau der Weg, den es gehen soll."
Simone Fleischmann im Wortlaut
Zum Verhältnis zwischen Schulnoten und Lernerfolg
“Wir wollen nicht gleich das Ende der Schulnote haben, sondern wir wollen eine Reflexion darüber, was Leistung eigentlich ist in der Schule. Was bringt es denn, wenn ein Kind auswendig Gelerntes hinschreibt und dafür eine Zwei bekommt? Viele Eltern und auch viele Schüler stellen sich immer schon die Frage: Ja was habe ich denn jetzt eigentlich gelernt? Wenn der Opa 14 Tage später frägt, was das Periodensystem in Chemie eigentlich war, die Antwort ist: „Äh, Periodensystem? Haben wir das eigentlich gemacht?!?“ Darüber müssen wir diskutieren. Wenn man nach 14 Tagen gar nicht mehr so recht weiß, was dran war, dann nennt man das auch bulimisches Lernen. Wir sind der Meinung, es braucht elaboriertes, ganzheitliches Lernen. Und da geht’s eben nicht nur drum, dass ich auswendig Wissen wiedergebe, sondern, dass ich Wissen anwenden kann.“
Über echtes Verständnis statt bloßer Wiedergabe
“Eine Note kann man schon geben. Die Frage ist, für was man die Note gibt. Wenn sich ein Kind eine Antwort aus der KI zieht, was mache ich dann mit der Antwort, wenn ich erkenne, es ist nicht die Antwort des Kindes? Dann frage ich nach: Woher hast du die Information? Wie bist du zu diesem Ergebnis gekommen? Kannst du mir mal erklären, was du mir hier abgegeben hast? Hast du verstanden, was da steht? Es geht also um eine andere Form des Feedbacks. Ich will nicht nur etwas hingeschrieben haben, ich will nicht nur irgendetwas abgegeben haben und dann eine Vier darauf geben, sondern ich will wissen, was sich das Kind angeeignet hat, und wie es das anwenden kann. Das nennt man Kompetenz. Und alle Lehrpläne in ganz Deutschland sind kompetenzorientiert. Es geht um angewandtes Wissen.“
Welche Leistungsrückmeldung kann den nächsten Lernschritt verbessern?
“Wir wollen als BLLV keine Revolution ausrufen. Sondern wir wollen ein Darüber nachdenken: Wie wird gelernt? Wie wird Leistung rückgemeldet, wie geben wir Feedback? Selbstverständlich wollen Kinder sich einschätzen. Wenn ein Kind eine Vier bekommt, was sagt das über die Kompetenz des Kindes aus? Was kannst du jetzt, was kannst du nicht, wo willst du weiterarbeiten? Was ist eigentlich dein nächstes Ziel? Wie kann ich dir helfen, anstatt einer vier eine zwei zu bekommen? Oder ist es egal, weil wir die vier abheften und weil bei einer fünf der Papa schimpft, und man dann mehr lernt?“
Pädagogischer Auftrag in Sachen KI ist kritische reflektierende Medienkompetenz
“Ich will, dass man über das, was wir seit Jahrzehnten tun, nachdenkt, und dass wir uns weiterentwickeln. Die KI überholt uns gerade rasant links. Wir Lehrerinnen und Lehrer wollen mitspielen und den Kindern Tools an die Hand geben und sie elaboriert lernen lassen. Sie sollen medienkompetent werden und beurteilen können, ob ChatGPT die richtige Antwort gegeben hat oder der Opa.“