Jungen lesen anders
Das Verb "lesen" duldet keinen Imperativ. Eine Abneigung, die es mit ein paar anderen teilt: dem Verb "lieben", dem Verb "träumen". Man kann es natürlich trotzdem versuchen. Probieren Sie es mal: "Liebe mich!" "Träume!" "Lies! Jetzt lies doch, zum Teufel, ich befehle dir zu lesen!" "Geh in dein Zimmer und lies" Ergebnis? - Null.
So hat es der französische Autor Daniel Pennac formuliert, der auch als Lehrer arbeitet, in einem der nachdenklichsten Bücher über das Lesen: "Wie ein Roman" (Köln 1994, Kiepenheuer & Witsch, TB bei dtv). Bücher müssen gelesen werden wollen . Und das fällt Mädchen offenbar wesentlich leichter als Jungen.
In einem schwachen Augenblick vor einigen Wochen habe ich Frau Lucic auf ihre Frage, wie denn mein Beitrag heißen solle, als Überschrift genannt: "Jungen lesen anders". Als ich an den ersten Januartagen darüber nachgedacht habe, was ich als Verlags-Praktiker, der nicht Lehrer, nicht Politiker, nicht Forscher, nicht Autor ist, zum Tagungsthema beitragen kann, hat mich erst ein tiefer Zweifel gepackt: Was hat mich da geritten, das so klug formulierte Tagungsmotto "Jungen lesen? Anders!" in eine apodiktisch-kühne These zu verwandeln?
Janosch für Jungs, Lindgren für Mädchen?
Janosch für Jungs, Lindgren für Mädchen? Für wen schreiben bitte Kirsten Boie, Andreas Steinhöfel, Marie Aude-Murail oder Paula Fox? Schiller für Jungs, Novalis für Mädchen? Soll etwa nach dem für mein Verständnis grauenhaften Begriff vom "kindgerechten" Buch jetzt das "jungengerechte" Buch entdeckt, eingeführt, gefördert werden? Versuch einer Relativierung: Jedes Individuum ist anders - eine Binsenweisheit. Wieso operieren wir dann mit der Vorstellung, es gäbe "die Mädchen" und "die Jungen"?
Was kann ich anderes tun, als Sie in die Gedankenwelt von uns Verlagsleuten blicken zu lassen? Lassen Sie mich dazu kurz ausholen. Zuvor sollte ich mich vorstellen: Ich spreche heute als Vorsitzender der avj; wenn Sie so wollen, als Lobbyist des Verbands der deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchverlage, die praktisch alle vertreten sind - egal ob Teil eines internationalen Konzerns, ein deutscher Mittelständler oder ein 1-Personen-Betrieb.
Die avj ist ein selbstständiger eingetragener Verein mit einer hauptamtlichen Geschäftsführerin in Frankfurt am Main, im Haus des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, mit dem wir kollegial eng zusammenarbeiten. Ich übe dieses Wahlamt allerdings wie meine Vorstands- und Beirats-Kolleginnen und -Kollegen ehrenamtlich aus, hauptberuflich bin ich Verlagsleiter eines mittelgroßen Kinder- und Jugendbuchverlags, des 1993 in München gegründeten Hanser Kinderbuchs, Teil des Carl Hanser Verlags, einem der wenigen noch selbstständigen mittelständischen Verlagsgruppen.
Die Erfindung der Zielgruppe
Zurück zum klassischen Gegensatz von Kunst und Kommerz. Wir versuchen, uns vor diesem unauflösbaren Widerspruch mit einem Trick zu retten: der Trick heißt Marketing. Seit das Marketing auch in das deutsche Verlagswesen eingezogen ist, definieren wir Zielgruppen für jedes Buch: Alter, Bildung, soziales Milieu – und natürlich Geschlecht. Das richtige Buch für den richtigen Leser. Marketing heißt: Für jedes Buch musst du eine Zielgruppe benennen können – sonst erscheint es zwar, kommt aber nicht an.
Man kann sich mit diesem Denken arrangieren. Wenn viele Buchhandlungen zunehmend wie Kaufhäuser eingerichtet sind, werden viele Verlage der Zukunft eben wie Fabriken arbeiten: der 87. Band der »Drei???« oder die 118. Variante der »Ponyhofgeschichten«. Ja, dieses Geschäft gibt es, und es ist auch nichts Ehrenrühriges, Serien- und Konzeptbücher zu schreiben und zu verlegen. Aber so wie Sie im Kunstunterricht nicht röhrende Hirsche, in der Musik nicht Roy Black und im Sport nicht Minigolf zum Maßstab nehmen, sollten Sie bei der Lektüre auf das riesige Angebot guter Autoren und Illustratoren zugreifen, das die Verlage über die Buchhandlungen anbieten.
Ich kenne keinen seriösen Schriftsteller, keinen Autor von Kinder- und Jugendbüchern, der sein Schaffen so versteht, dass er für eine bestimmte Zielgruppe schreibt. Der Schriftsteller Burkhard Spinnen, der seit vielen Jahren seine Familie durch das Schreiben (auch von Kinderbüchern) ernährt, hat sich, zwischen Sarkasmus, echter Sorge und Heiterkeit oszillierend, vor den am 1. Advent 2011 festlich versammelten bayerischen Buchverlegern damit auseinandergesetzt, was ihm durch den Kopf ging, als ihn ein befreundeter Unternehmer fragte, was denn sein »Geschäftsmodell« als Autor sei. Der Schriftsteller als homo oeconomicus, und der Leser als Konsument. Nein, das ist es nicht.
Mädchen-, Jungen- oder kindgerecht?
Autoren arbeiten nicht marketing-getrieben. Exemplarisch sei hier der Norweger Jo Nesbø, sehr erfolgreicher Autor von Büchern für Erwachsene wie für Kinder mit seiner Antwort auf die Frage zitiert, ob er seine Arbeitsweise an der Leserschaft ausrichte und ob er sich auf seine jungen Leser einlasse: »Nein, ich überlege mir eb en nicht: Kapieren das die Kinder überhaupt? Soll ich es einfacher schreiben? Ich versuche eher so zu schreiben, wie ich mit ihnen spreche. ... Kinder erleben einen Alltag, in dem es normal ist, nicht alles zu verstehen. Sie lernen, sich durch diese Welt zu navigieren.« (Süddeutsche Zeitung 07.01.2012).
Unter dem schönen Titel »Bücherglück – was wirklich wirkt« hat der SZ-Redakteur und Autor Werner Bartens in der SZ vom 05.01.2012 sich dankbar daran erinnert, dass seine Eltern ihm keinen »Frühförderquatsch« schenkten. Er schildert, wie er von Atlanten, vom Fischer Weltalmanach und später von Romanen des 19. Jahrhunderts fasziniert war; erst nach solchen Genüssen erkannte er, »dass sich nicht nur in Atlanten, sondern auch in Romanen die Welt entdecken ließ«.
Jungs lieben Sachbücher
Das ist ein brauchbarer Hinweis: Viele Jungen lieben Sachbücher, sie schätzen Bilder, Fakten, Zusammenhänge, Erklärungen, Entdeckungen. Das gilt im Vorschul-, im Kindergarten- und im Grundschulalter. Für die älteren kommt heute das Internet hinzu. Sachbücher sind getreue Begleiter durch die Kindheit, und sie vermitteln sowohl die Faszination der Sache als auch die Faszination des Lesens von Büchern.
Zurück zum Ringen zwischen Kunst und Kommerz: Auf der Jahres-Bestsellerliste 2011 Belletristik von Media Control (Börsenblatt Nr. 1/2012) sind 10 der 25 Top-Titel Kinder- und Jugendbücher (schon das ist eine Sensation). Davon sind 6 aus Jeff Kinneys Serie "Gregs Tagebuch", 4 "Greg"-Titel sind sogar unter den ersten 10. Da mag mancher Elterteil die Nase rümpfen, mancher Pädagoge mit der Schulter zucken: "Umzingelt von Idioten" - das ist doch absurd! Ja, das ist es, und es geht auch manchmal zu weit, und es ist viel zu amerikanisch, völlig überzogen und flach und überhaupt.
Jungs lesen diesen - Quatsch
Da haben wir ́s: Jungen lesen anders! Sie lesen diesen - Quatsch. Und sie lesen ihn offenbar mehr als je zuvor. Das hat wohl ganz entscheidend damit zu tun, das sie darin keinen gutgemeinten, aber letztlich als anbiedernd empfundenen "Förderquatsch" erkennen, sondern Bücher, die ihnen Spaß machen, die sie lesen wollen. Und wenn man mal durch den aufgewirbelten Quatsch hindurchschaut, entdeckt man doch bei Greg eine ganze Menge psychologischen Feingefühls für die Befindlichkeit von jungen Männern um die 11 Jahre.
Diskriminierende Alterskategorisierung...
Als ich anfing, in dieser Branche zu arbeiten, gab es auf den Buchrücken der Ravensburger Taschenbücher (und vieler anderer Kinder- und Jugendbücher) die Bezeichnung "J (für Jungen) ab 12" oder "M (für Mädchen) ab 10" oder "JM ab 8". Spätestens Ende der siebziger Jahre wurde das als diskriminierend empfunden und überall abgeschafft.
In dem dann einsetzenden Qualitätsschub setzte sich das Verständnis durch, dass Kinder- und Jugendlitatur ein Teil der Literatur ist (und nicht der Pädagogik), wunderbare Verlage und Programme entstanden, große Autoren wie Peter Härtling schrieben ihre großen Bücher. Kaum hatte die geniale Joanne K. Rowling mit ihren "Harry Potter"-Büchern einige Grunddogmen in Bezug auf das Lesen von Jungen außer Kraft gesetzt, kamen Anfang der 2000er Jahre die "frechen Mädchen" und die Bücher "nicht für Jungs" auf den Markt.
... und politisch korrekte "Unisex"-Bücher
Nicht zu vergessen, dass inzwischen hemmungslos das Mädchen-Bedürfnis nach Prinzessinnen und das Jungen-Bedürfnis nach Piraten bedient wurde. Waren unisex-ausgerichtete Bücher zunächst als Befreiung, lange Zeit als angemessen und dann als politisch korrekt verstanden worden, konnte man sich plötzlich wieder für »Mädchenbücher« und »Bücher für Jungs« aussprechen.
Und dann wurde der weiblich dominierte Vermittlungszusammenhang von Kinderbüchern entdeckt: die Mutter, die Erzieherin, die Grundschullehrerin, die Buchhändlerin, die Bibliothekarin, die Lektorin. Papa liest nicht, nix und nie (denn er hat Wichtigeres und Schöneres zu tun und er hat vor allem keine Zeit), aber Mama und alle diese netten Frauen wollen mir erzählen, ich könnte mit Büchern etwas Tolles erleben?
Für eine Männerquote - in der Schule wie in der Buchbranche
Man ist fast versucht, eine Männerquote zu fordern. Der Mann (hier: der Junge) in der Opferrolle, das ist doch wohl ein schlechter Scherz – nein, Scherz beiseite. Die Frauen in unserer Branche sind viel zu klug, um sich nicht in die Bedürfnisse und Seelenlagen von Jungen einfühlen zu können.
Alle großen Bucherfolge sind von begeisterten Lesern gemacht worden. Entgegen immer wieder zu hörenden Missverständnissen war das auch beim legendären »Harry Potter« so. Was aber richtig ist: Seit die Leser solche Bücher zu au ßerordentlichen Verkaufserfolgen gemacht haben, gibt es in vielen Kinder- und Jugendbuchverlagen professionelles Marketing.
Konfektionierte Lesestufen-Literatur gefährlicher als Digitalisierung
Seit Jahren, seit Jahrzehnten ist die vom gedruckten Buch gepägte Kultur bedroht. Stets haben sich beredte Apokalyptiker gefunden, die – beim Auftreten neuer Medien – den Untergang der literarischen Kultur prognostiziert haben. Dass dieser Untergang bisher keineswegs eingetreten ist, beweist allerdings nicht, dass keine Gefahr im Verzug ist. Die Gefahr sehe ich allerdings weniger darin, dass neue, geschmeidige Medien wie das iPad und fortgeschrittene E-Reader auf den Markt kommen, sondern darin, dass konfektionierte Lesestufen-»Literatur« das ästhetische Empfinden junger Leser auf ähnliche Weise einschränkt, wie es das für den Massenmarkt vorgekochte convenience food mit den Geschmacksnerven der Kinder tut.
Ich habe Ihnen einige Statistiken zur Attraktivität des Lesens im Vergleich mit anderen Freizeitaktivitäten und im Vergleich mit anderen Medien zusammengestellt. Das Bücherlesen kommt da gar nicht so schlecht weg. Während 2011 die Zahl der Vielleser auf über die Hälfte bei den Mädchen und über ein Drittel bei den Jungen zugenommen hat, sind die Nichtleser stabil geblieben: etwa jedes zehnte Mädchen und jeder fünfte Junge liest nie ein Buch.
Internet steht für Austausch, Bücher stehen für Alleinsein
Aber es hat sich in jüngster Zeit doch sehr viel verändert. »Zwei Drittel der Jugendlichen gehen jeden Tag ins Netz. Die tägliche Onlinezeit liegt bei durchschnittlich 134 Minuten. Die meiste Zeit verbringen Jugendliche dabei mit Kommunikation.« ( JIM-Studie 2011 S. 67). Lesen aber ist nicht Kommunikation, beim Lesen ist man für sich und man kommt zu sich selbst. Ganz grob gesagt: Fernsehen verliert – Internet gewinnt – Bücherlesen bleibt.
Sorgen wir gemeinsam dafür, dass Lesen ein Ausdruck von Lebensfreude und Neugier bleibt. Geben wir den Jungen, was die Jungen wollen, aber überraschen sie zugleich, indem wir ihnen etwas anbieten, von dessen Existenz sie gar nichts geahnt haben. Unterfordern wir die jungen Leser nicht, denn Langeweile tötet die Neugier. Probieren wir Neues aus, lasst uns nicht in der wiederholten Exegese des Bewährten ersticken. Nicht ein Kanon, sondern Offenheit für die Angebote der Autoren von gestern, heute und morgen ist die Voraussetzung für eine lebendige Lesekultur.
Jede Art von Literatur ist erlaubt, nur nicht die langweilige.
Fazit: Wer es für sich einfach machen will (indem er die Lektürempfehlungen von gestern perpetuiert), macht es für seine Schüler schwierig. Jede Art von Literatur ist erlaubt, nur nicht die langweilige. Diesen Satz von Voltaire hat Daniel Keel immer wieder als sein verlegerisches Credo für seinen Diogenes Verlag vor unser aller Augen geführt. Auch für das Lektüreangebot an unseren Schulen gibt er ein gutes Motto ab.
Mehr zum Autor
Ulrich Störiko-Blum, war damals Vorsitzender des Verbands der deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchverlag (avj) und Leiter des Hanser Kinder- und Jugendbuchverlags München