Lernen und verstehen Lernen
Wer den Vorgang des Lernens vom Standpunkt des Kindes aus verstehen will, kommt nicht an den einschlägigen Lerntheorien vorbei: Dem konstruktiven Lernen, dem situierten Lernen, dem Schaffen von Lernarrangements und dem verständnisintensiven Lernen. Versuch über die Frage, inwiefern diese Theorien in die tägliche Praxis eingreifen.
Von Simone Fleischmann
Was unter „Lernen“ überhaupt zu verstehen ist, hängt stets vom vorherrschenden theoretischen Paradigma der Zeit ab. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dies der Behaviorismus. Was zählte, war ausschließlich das direkt beobachtbare menschliche Verhalten, ausgelöst durch spezifische Reizreaktionen. Mit der kognitivistischen Wende in den 60iger Jahren verlagerte sich der Betrachtungsschwerpunkt hin zu den internen Verarbeitungsprozessen der Wissensaufnahme, -speicherung und -verarbeitung. Die Konstruktivisten der 80er betonten vor allem das selbst gesteuerte Lernen. Angesagt war nunmehr Lernen durch Beobachtung und Imitation, das „Modell-Lernen“.
Was der Mensch lernt, hängt von ihm selbst ab
Die Hirnforschung erhellt die Grundbedingungen, auf denen die jeweiligen Theorien zu bewerten sind: Das Gehirn verarbeitet beständig eine unvorstellbare Menge an Informationen, die über Millionen von Nervenfasern ein- und ausgehen. Auf jede dieser Verbindungen mit der Außenwelt kommen Millionen innere Verbindungen. Lernen bedeutet dementsprechend eine Bahnung von Verbindungen (Manfred Spitzer, „Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens“). Können und Wissen einer Person hängen davon ab, wie intensiv die Bahnen genutzt werden. Der Mensch lernt also durch Erfahrungen, die durch den Austausch mit der Außenwelt zustande kommen. Im Kopf des Lernenden entsteht gewissermaßen ein eigenes Bild der Welt, sie wird (re)konstruiert. Kinder brauchen demzufolge vielseitige Anregungen und wiederkehrende Übungen.
Diese nicht wirklich überraschenden Erkenntnisse der Gehirnforschung stützen eine konstruktivistische Sicht vom Lernen, wie sie die neuere Didaktik präferiert. Für die schulische Realität bedeutet das: Nicht der Stoff steht im Zentrum, sondern die lernende Person. Die wichtigste Konsequenz daraus: Nur durch Kommunikation kann gemeinsames Wissen hergestellt werden. Lernen heißt demzufolge: Erfahrungen werden eingeordnet, verarbeitet und im Austausch mit anderen an das allgemeine Wissen angeschlossen.
Die Klassische Schüler-Lehrer-Rolle ist passé
Die wichtigste Aufgabe des Lehrenden ist demnach, die Kommunikation so zu gestalten, dass die Lernenden in ihren individuellen Lernprozessen unterstützt werden. Das Lernen können sie ihnen nicht abnehmen, aber sie können sie anregen. Und: sie können die Kontexte, in denen Lernerfahrungen gesammelt werden, beeinflussen. Die klassische Schüler-Lehrer-Rolle hat ausgedient. Der moderne Lehrer folgt in seinen Lehrbemühungen den individuellen Lernprozessen der Kinder und zwingt sie nicht dazu, sich exakt nach Einheitsprogrammen zu richten.
Lernumgebungen werden gestaltet und so Lernprozesse initiiert. Erfolgreiches Lernen wird durch Lernumgebungen gefördert, welche die kindliche Neugier herausfordern, problemorientiert sind, mehrere Perspektiven eröffnen, unterschiedliche Lerntypen ansprechen, mehrere Lern- oder Lösungswege zulassen und verschiedene Schwierigkeitsgrade enthalten. Diese Lernumgebungen müssen komplex genug sein, damit sie der Vielfalt der individuellen Lernwege gerecht werden. Die Lernenden müssen sich in diesen Lernarrangements zurecht finden und sich selbst die Orientierung verschaffen können. Dies erhöht die Bereitschaft, sich auf neue Erfahrungen einzulassen.
Die Autorin war zum Zeitpunkt des Verfassens Leiterin der Abteilung Berufswissenschaft im BLLV.
Der Text ist der Bayerischen Schule, Ausgabe 10/2009 entnommen.
Lernen ist …
...ein individueller Prozess. Jeder Lerner verarbeitet die Erfahrungen mit der Umwelt auf seine Weise. Eine Erfahrung trifft bei verschiedenen Personen auf unterschiedliche Vorerfahrungen, auf unterschiedliche Empfindungen und auf unterschiedliche Strategien der Verarbeitung. Dies erfahren Lehrer in der schulischen Realität täglich: Lernwege und auch Lernergebnisse sind nicht gleich.
… ein aktiver Prozess. Wissen erwirbt sich ein Mensch in tätiger Auseinandersetzung mit der Umwelt beziehungsweise dem Lerngegenstand. Manuelles Handeln, aktives Zuhören oder gedankliches Schlussfolgern bestimmen diesen Prozess. Gabriele Faust-Siehl erklärt in ihrem Buch „Mit Kindern Stille entdecken: Bausteine zur Veränderung der Schule“: „Die Gründlichkeit einer Begegnung mit den Inhalten hängt in hohem Maße ab von einer Gesprächsleitung, die die Vorstellungsbildung und das abwägende Nachdenken der Kinder anregt. In von der Pädagogin moderierten Klassengesprächen, offen und nachdenklich werdend, sich austauschen und in die Gehalte bedeutsamer Lerngegenstände einzutauchen, hat zentrale Bedeutung für Bildung und Erziehung." (Faust-Siehl G., 1995)
… ein konstruktiver Prozess. Neue Informationen werden auf der Basis vorhandener Schemata oder Strukturen verarbeitet. Im Kopf des Lernenden baut sich die Welt auf. Sie wird rekonstruiert. Aufgrund von Erfahrungen und vorhandener Werkzeuge zur Verarbeitung werden Theorien entwickelt, geprüft, verworfen oder bestätigt.
… ein kumulativer Prozess. Neue Erfahrungen werden in vorhandenes Wissen integriert. Neues Wissen dockt an vorhandenem an. Dabei spielt das Vorwissen eine entscheidende Rolle. Je sicherer ein Kind darauf bauen kann, desto bessere Voraussetzungen sind gegeben für weitere Differenzierungen und Vertiefungen. ... selbstregulierender Prozess: Lernende sind keine einfachen Maschinen. Sie sind Akteure ihrer eigenen Lernprozesse. Sie gehen ihre eigenen Wege der Verarbeitung und die Autonomie der Lernenden muss einkalkuliert werden. Manchmal steht diese der Absicht des Lehrenden diametral gegenüber.
… ein sozialer und situativer Prozess. Lernen findet in realen Situationen statt. Die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, sind immer komplex. Sie bewirken mehr als nur den Aufbau kognitiver Strukturen. Die sozialen und situativen Kontexte beeinflussen die Verarbeitung und Verwertung von Informationen mit. Dies wirkt sich entscheidend auf die Motivation der Lernenden aus. Angenehme soziale und situative Bedingungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass erfolgreich gelernt wird. Unter Druck lernt niemand gut.