Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht seit 1945
Prof. Dr. Ulrich Baumgärtner
Wie hat sich die schulische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus seit 1945 entwickelt?
Die folgenden Aussagen beruhen auf der Analyse amtlicher Dokumente, da diese für das staatlich beaufsichtigte Schulwesen den normativen Rahmen vorgeben. Damit ist noch nichts darüber gesagt, wie der Geschichtsunterricht tatsächlich vonstattenging. Dies ist auch schwer zu verifizieren, sind die dafür relevanten Quellen – Unterrichtsvorbereitungen, Schülerhefte, Prüfungsunterlagen, Tafelbilder usw. – nicht mehr oder nur sehr punktuell vorhanden. Aber es wird deutlich, wie die schulische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erfolgen sollte, welches Geschichtsbewusstsein staatlicherseits erwünscht war. Die Konzentration auf Bayern trägt der gerade im Bildungswesen ausgeprägten föderalistischen Ordnung Deutschlands Rechnung: Schulgeschichtsschreibung in Deutschland hat sich vornehmlich auf einzelne Länder zu konzentrieren. Gleichwohl ist zu vermuten, dass die folgenden Beobachtungen auf andere Länder übertragbar sind. Dabei zeigen sich idealtypische Muster der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die im Folgenden skizziert werden. Diese können sich mischen und überlagern und lassen sich auch nicht ohne weiteres in eine zeitliche Abfolge bringen.
(1) Eliminierung nationalsozialistischer Spuren aus dem Schulleben. Unmittelbar nach Kriegsende war dies das zentrale Anliegen der amerikanischen Besatzungsmacht, aber auch der bayerischen Bildungsverwaltung. Lehrpläne wurden außer Kraft gesetzt, Schulbücher aus dem Verkehr gezogen, Schulbibliotheken durchforstet. Mit der personellen Säuberung tat man sich in Bayern allerdings wie in den westlichen Zonen überhaupt schwer (Beispiel: Übergangsrichtlinien der bayerischen Volksschulen).
(2) Moralische Besinnung: Die Auseinandersetzung mit der „Schuldfrage“ begegnet bereits vielfach in der unmittelbaren Nachkriegszeit und wurde auch bildungspolitisch gewendet. Dies ist angesichts der Situation bei Kriegsende zwar individuell nachvollziehbar, offenbart jedoch angesichts der Monstrosität der NS-Verbrechen eine ausgeprägte Hilflosigkeit. In der bildungspolitischen Diskussion war es überaus wirkungsvoll, da es die Schulddiskussion individualisierte und pädagogische Konsequenzen pauschal anmahnte, ohne sie zu konkretisieren. Dementsprechend wurden allgemeine Erziehungsziele wie „Verantwortungsbewusstsein“ oder „demokratische Gesinnung“ postuliert.
(3) Vergegenwärtigung durch rituelles Gedenken: Diese Form der Auseinandersetzung setzte schon sehr früh ein und stellt bis heute eine geschichtspädagogische Perspektive dar. Die erwähnten Gedenktage wurden stets auch als pädagogische Veranstaltungen aufgefasst, an denen Lehrer und Schüler teilnehmen und Schulen sich beteiligen sollten (Tag der Opfer des Faschismus in München, 1947).
(4) Entlastung durch Normalisierung des Nationalsozialismus: Im Hinblick auf das Unterrichtsfach Geschichte war nach 1945 ein inhaltlicher Neuanfang unvermeidlich, war Geschichte doch eines der bevorzugten Fächer im Nationalsozialismus und ideologisch entsprechend aufgeladen. Die Durchsicht der frühen Lehrpläne ergibt dabei kein eindeutiges Bild. Zum einen wurde das historische Lernen in der Schule auf Prinzipien wie Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung verpflichtet. Auch wurde der Nationalsozialismus schnell ein wichtiger, ja unverzichtbarer Inhalt des Geschichtsunterrichts. Zum anderen wird die „Diktatur Hitlers“ nun im chronologischen Durchgang durch die Geschichte vornehmlich als Teilaspekt des Zweiten Weltkriegs betrachtet. Allerdings ist zu bedenken, dass die damals üblichen Stofflehrpläne die Inhalte nur auflisteten. So lässt sich nicht erkennen, welche Deutung mit der Thematisierung des Nationalsozialismus verbunden werden sollte – unabhängig davon, wie die einzelne Lehrkraft im Klassenzimmer damit umging. Es lässt sich aber gegenüber manchem vorschnell formulierten Verdikt behaupten, dass der Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht der 1950er-Jahre explizit nicht verschwiegen werden sollte: Er war vielmehr ein verbindlicher Lehrplaninhalt. Allerdings lassen sich aus heutiger Sicht diese Vorgaben aus fachlicher und politisch-moralischer Perspektive durchaus kritisch beurteilen.
In den Schulbüchern der 1950er-Jahre dominierte gemäß den Vorgaben der Lehrpläne eine an den außenpolitischen Entwicklungen orientierte Darstellung, in der der Nationalsozialismus einerseits als politisches Herrschaftssystem der Zwischenkriegszeit und andererseits im Rahmen des Zweiten Weltkriegs thematisiert wird. Im Hinblick auf die innere Entwicklung dominiert das Deutungsmuster einer autokratischen Diktatur Hitlers; im Hinblick auf die die äußere Entwicklung folgt die Darstellung der Abfolge von Konsultationen und Verträgen, dann von Bündnissen und Kriegshandlungen. In diese Leiterzählung werden die anderen Aspekte eingefügt, sei es die Verfolgung und Ermordung der Juden, sei es der Widerstand. Nationalsozialismus ist im Schulbuch der 1950er-Jahre mithin „Diktatur Hitlers“ und „Zweiter Weltkrieg“. Dies ermöglichte eine Ausblendung beunruhigender Aspekte wie die Mittäterschaft der Deutschen.
(5) Prävention durch historisches Wissen: Ein grundsätzlicher Wandel ergab sich in der Bundesrepublik Anfang der 1960-er Jahre. An Weihnachten 1959 hatten Jugendliche die neu geweihte Synagoge in Köln mit antisemitischen Parolen beschmiert und damit eine Welle von ähnlichen Taten ausgelöst. Die öffentliche Diskussion konzentrierte sich schnell auf den schulischen Unterricht und veranlasste die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) zu einigen wegweisenden Beschlüssen. In der öffentlichen Diskussion führte man nämlich die Taten auf mangelhafte Kenntnisse über den Nationalsozialismus zurück. Nun ging es darum, die Schülerinnen und Schüler durch eine genaue Unterrichtung über die Zeit des Nationalsozialismus zu loyalen Staatsbürgern der Bundesrepublik zu erziehen. Es lässt sich mithin feststellen, dass sich in der Folge das Unterrichtsfach Geschichte in allen Schularten normativ und inhaltlich deutlich veränderte: Geschichte wurde in der Oberstufe des Gymnasiums Teil des Faches Gemeinschaftskunde; die Neueste Geschichte seit 1800 und insbesondere der Nationalsozialismus gewannen an Gewicht; der Auftrag der politischen Bildung wurde forciert. Dabei setzte die KMK im Sinne der Totalitarismustheorie Nationalsozialismus und Bolschewismus gleich; dies war die bildungspolitische Ausformulierung des antitotalitären Konsenses der frühen Bundesrepublik. Diese geschichtspädagogische Perspektive ist nach vor virulent und wird immer dann aktualisiert, wenn es zu rechtsradikalen Aktionen von Jugendlichen kommt. Doch bleibt zu fragen, ob historisches Wissen tatsächlich eine solch nachhaltige Wirkung auf persönliches und politisches Handeln haben kann – oder umgekehrt, ob demokratisches Handeln historisches Wissen voraussetzt. Gleichwohl hat historisches Lernen nur dann Sinn, wenn es auf die Gegenwart bezogen ist und Perspektiven für die Zukunft eröffnet.
(6) Widerstand als moralisches und politisches Vorbild: Die gesellschaftliche Diskussion über den deutschen Widerstand blieb nicht ohne Folgen für den Geschichtsunterricht. Hatte sich der erste Bundespräsident Theodor Heuss schon in den 1950er-Jahren erfolgreich für die politische und gesellschaftliche Anerkennung eingesetzt, kam es immer wieder zu Debatten, welche Gruppen dazugerechnet werden dürfen und welche eine offizielle Würdigung verdienen. 1980 erließ die KMK eine entsprechende Empfehlung. Ausgehend von einem weiten Widerstands-Begriff, der politische Aktionen ebenso umfasst wie persönliche Nichtanpassung, wurde die Ausbildung einer demokratischen Einstellung gefordert, die wenig verklausuliert an die politische Ordnung der Bundesrepublik geknüpft und mit der Forderung verbunden wird, für diese einzutreten. Betrachtet man die ideologischen Grundlagen und politischen Ziele einiger Strömungen des Widerstands, stellt sich aus fachlicher Sicht die Frage, ob sie sich als politische Vorbilder tatsächlich eignen. In geschichtsdidaktischer Perspektive ist die hier zum Ausdruck kommende politische Funktionalisierung von Geschichte problematischer: Sie wird als Legitimationsreservoir für die aktuellen politischen Verhältnisse funktionalisiert; die Mitglieder des Widerstands werden mithin zu Verfassungsvätern und Verfassungsmüttern der Bundesrepublik.
(7) Demokratische Gesinnungsbildung durch historische Exempel: Der Nationalsozialismus diente zusehends als Kontrastfolie, vor der sich die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes leuchtend abhebt. Damit verschiebt sich die Perspektive von der nationalsozialistischen Vergangenheit zur bundesrepublikanischen Gegenwart, vom historischen Lernen zur politischen Bildung. Es geht nun zusehends darum, den antitotalitären Charakter der Bundesrepublik hervorzuheben, um auf diese Weise die Loyalität der heranwachsenden Staatsbürger zu sichern. Umgekehrt erschwert dies das geschichtliche Verständnis, da der Nationalsozialismus, zugespitzt formuliert, als zeitenthobene, dystopische Gewaltherrschaft begegnet. (8) Immunisierung durch Menschenrechtserziehung: Mit dem Begriff Holocaust Education werden vielfältige schulische und außerschulische Initiativen sowie pädagogische und didaktische Erörterungen bezeichnet, die der Zielsetzung verpflichtet sind, Kindern und Jugendlichen die universelle Bedeutung der Menschenrechte zu verdeutlichen, politische Verantwortung als Handlungsnorm einsichtig zu machen sowie ihnen eine von Toleranz und Antirassismus geprägte Einstellung zu vermitteln. Umstritten ist mitunter, ob, inwieweit und in welcher Form das mit dem Begriff Holocaust bezeichnete historische Geschehen zu thematisieren ist; unstrittig ist jedoch, dass aus der Geschichte gelernt werden soll. Niemand, der sich den Werten einer zivilisierten Demokratie verpflichtet fühlt, wird sich diesen Forderungen verschließen. Allerdings bedeuten sie für das historische Lernen in der Schule eine grundsätzliche Herausforderung. Denn der Nationalsozialismus, genauer: nur der Holocaust, dient hier der Menschenrechtserziehung, die im Extremfall nur auf isolierte exemplarische Situationen Bezug nimmt oder den Nationalsozialismus sogar ganz ausblendet.
Zusammenfassend lässt sich feststellen:Der Nationalsozialismus etablierte sich früh in den ersten Lehrplänen und damit auch in den ersten Schulbüchern als fester Lerninhalt. Zunächst nur als Teilaspekt des Zweiten Weltkriegs wahrgenommen, gewann er nach und nach den Charakter einer eigenen Epoche und der Fokus richtete sich zusehends auf die innere Geschichte der Diktatur, insbesondere die Rolle Hitlers, dann die Struktur und die Herrschaftstechnik und die Alltagserfahrungen. Das Primat der Außenpolitik wurde abgelöst durch das Primat der Innenpolitik. Parallel zur öffentlichen Wahrnehmung bestimmten seit den 1980er-Jahren der Holocaust und die NS-Verbrechen zusehends den Blick auf den Nationalsozialismus. Überformt wurde dies immer mehr mit Ansprüchen der politischen Bildung. Dabei begegnen die genannten geschichtspädagogische Muster: Entlastung durch Normalisierung des Nationalsozialismus, Vergegenwärtigung durch rituelles Gedenken, Prävention vor Rechtsradikalismus durch historisches Wissen und demokratische Gesinnungsbildung durch historische Exempel sowie Immunisierung durch Menschenrechtserziehung.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für den Geschichtsunterricht?
Seit Kriegsende sind mehr als 70 Jahre vergangen. Das sind mehr als zwei Generationen. Dies bedeutet, dass Erfahrungen an das Dritte Reich aus dem kommunikativen Familiengedächtnis verschwinden und nur noch im institutionalisierten kulturellen Gedächtnis, mithin der Gedenkkultur, begegnen. Auch die Lehrkräfte verlieren zusehends den persönlichen Bezug zu dieser Epoche. Diese wachsende historische Distanz beinhaltet die Gefahr, dass die Epoche des Nationalsozialismus verblasst und zu einem Thema unter vielen, mithin normalisiert wird; sie eröffnet aber auch die Chance, eines im positiven Sinne reflektierten, wissenschaftlich geprägten Zugangs zu dieser Epoche. Vor diesem Hintergrund lassen sich für die schulische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sechs Thesen formulieren.
1. Eine Verharmlosung oder gar Glorifizierung des Nationalsozialismus darf in der Schule nicht geduldet werden.
2. Der Nationalsozialismus ist ein Unterrichtsthema wie jedes andere und bedarf einer adäquaten Thematisierung gemäß den wissenschaftsorientierten Grundsätzen historischen Lernens.
3. Der Nationalsozialismus bedarf der historischen Kontextualisierung und des Vergleichs, nicht im Sinne einer verharmlosenden Entschuldigung, sondern im Sinne eines vertieften Verständnisses für die Probleme und Entwicklungen des an Gewalt und Grausamkeiten so reichen 20. Jahrhunderts.
4. Empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Unterricht über den Nationalsozialismus lediglich zur unreflektierten Übernahme gängiger Vorstellungen führt. Daraus ergibt sich die These: Der Nationalsozialismus muss im Geschichtsunterricht – mehr als bisher – multiperspektivisch erschlossen werden.
5. Der Nationalsozialismus kann im Geschichtsunterricht nur dann vernünftig thematisiert werden, wenn seine gegenwärtige Wahrnehmung und Deutung sowie deren Geschichte reflektiert werden – und zwar nicht beiläufig und fakultativ, sondern systematisch.
6. Ziel des historischen Lernens über den Nationalsozialismus ist Historische Aufklärung. Die Entwicklung einer bestimmten Werthaltung, einer bestimmten Gesinnung oder bestimmter Handlungsdispositionen kann nur individuelle Folge der Thematisierung im Geschichtsunterricht sein.
Eine ausführliche Fassung erscheint im Wochenschau Verlag im von Hannes Liebrandt herausgegebenen Band: 1945-2015: 70 Jahre zwischen Aufklärung und Verklärung, erinnern und vergessen. Determinanten der historisch- politischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus im bildungspolitischen Diskurs.