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Fachanhörung Digitalisierung Digitalisierung

Zwischen Medienhype und Cybermobbing: Wohin bewegt sich unsere digitalisierte Gesellschaft?

Ein Gespräch mit Professor Thomas Merz von der Pädagogischen Hochschule Thurgau in der Schweiz über den Nutzen von Tablets für Grundschüler, Fake News und Kompetenzen, die Lehrkräfte heute dringend brauchen.

BLLV: Sie befassen sich mit der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen. Was zeigt hier die Forschung?

Merz: Wir haben unter anderem festgestellt, dass viele Kinder und Jugendliche erstaunliche Anwendungskompetenzen haben. Sie wissen, wie sie ein Smartphone bedienen können oder wie eine Suchmaschine funktioniert. Viel seltener verfügen sie aber über eine vertiefte Informationskompetenz, oft fehlt ein Bewusstsein dafür, warum und worüber sie informiert sein müssen, wie sie die Qualität der Informationen einschätzen sollen.

 

Kinderärzte haben in Deutschland gerade rund 5.500 Kinder und Jugendliche untersucht und ihre Eltern befragt. Herausgekommen ist, dass schon die meisten Kita-Kinder täglich mit dem Smartphone spielen. Was halten Sie von dieser Art der frühkindlichen Bildung?

Nicht viel. Es ist gerade nicht das Ziel, möglichst früh und möglichst oft mit Tablets zu arbeiten oder Sechsjährigen Smartphones zu geben. Viel wichtiger ist bei kleinen Kindern, ihre Entwicklung umfassend zu fördern. Kleine Kinder sollten darum im Wald spielen, mit Gegenständen hantieren, ihren Körper spüren, mit andern Kindern spielen - das ist wichtig für eine gesunde psychische Entwicklung, auch für die Entwicklung des Gehirns. In der Schule gehört dann allerdings eine altersgemäße Nutzung des Computers selbstverständlich dazu.

 

Souverän mit Facebook, You Tube oder Instagram umgehen. Brutale Bilder im Netz aushalten. Fake News erkennen: Können das denn die Lehrer in der Schweiz?

Wir sind hier auf einem guten Weg und stehen an einem Wendepunkt, da gerade ein neuer Lehrplan umgesetzt wird, der das Fach „Medien und Informatik“ auch im Stundenplan verankert. Das löst nun sehr viel Dynamik aus – gerade auch in der Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Hier besteht auch in der Schweiz viel Nachholbedarf – aber es werden in den nächsten Jahren nun entscheidende Schritte erfolgen. Die Anwendungskompetenz ist für Lehrerinnen und Lehrer zwar auch wichtig – unverzichtbar sind aber pädagogische und didaktische Kompetenzen.

 

Wie ist die technische Ausstattung in den Schweizer Schulen?

In den meisten Schulen gibt es einen Internetzugang, meist über W-LAN. Tablets oder Notebooks stehen in der Regel in den Schulzimmern zur Verfügung, allerdings sind die Unterschiede von Schule zu Schule noch groß. Der Trend geht aber klar in Richtung Eins-zu-Eins-Ausstattung, also pro Schülerin oder Schüler ein mobiles Gerät. Immer häufiger werden die Geräte der Schülerinnen und Schüler miteinbezogen, sie benutzen ihre eigenen Tablets oder Smartphones im Unterricht.

 

Gibt es genug Systembetreuer und pädagogisches Personal in der Schweiz?

Das ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich, aber grundsätzlich ja. In den letzten Jahren hat sich eine Doppelstruktur durchgesetzt: Es gibt eine technische Betreuung, die dafür sorgt, dass die Computer und das Netz funktionieren. Und wir haben pädagogische Berater, die Lehrkräften Vorschläge machen, wie Unterricht mit Medien funktionieren kann. Das hat sich bewährt.

 

Warum brauchen Lehrkräfte Systembetreuer?

Lehrerinnen und Lehrer sind Experten für das Lehren und Lernen, also für die Vermittlung fachlicher Inhalte. Sie sind keine ausgebildeten Informatiker oder IT-Spezialisten. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass es Experten an den Schulen gibt, die die Systembetreuung übernehmen.

 

Was müssen Lehrkräfte ihren Schülern in einer digitalisierten Gesellschaft vermitteln können?

Ganz grundsätzlich geht es darum, Schülerinnen und Schüler auf die Zukunft vorzubereiten, in der sie leben werden. Das wird eine Welt sein, in der Neue Medien jederzeit und überall zur Verfügung stehen – und daher auch souverän, sinnvoll, kritisch und kompetent genutzt werden müssen. Lehrer sollten Schülern dabei helfen, Medienerfahrungen einzuordnen, Nachrichten zu analysieren, nicht an der Fülle negativer Nachrichten zu verzweifeln. Sie sollten ihnen auch erklären können, wie sie sich gegen Mobbing wehren und mit diskreditierenden Fotos umgehen können.

 

Was hat sich durch die Digitalisierung am Berufsbild verändert?

Lehrer werden viel öfter durch ihre Schüler in Frage gestellt. Sie sind nicht mehr diejenigen, die über alles Wissen verfügen und es einfach an ihre Schüler weitergeben. Das ist in Zeiten von Wikileaks, Wikipedia oder Blogs schlecht möglich. Lehrkräfte begleiten Schülerinnen und Schüler verstärkter in ihrem eigenen Lernprozess. Die Rolle eines Coaches gewinnt an Bedeutung.

 

Mittlerweile ersetzen Computer ja schon Lehrer. Bei erwachsenen Studierenden, die Deutsch als Fremdsprache lernen, wird ein Spracherkennungsprogramm eingesetzt, das bei Prüfungen die Aussprache der Studierenden testet. Machen solche computergestützten Prüfungsmodalitäten Lehrer bald überflüssig?

Hoffentlich nicht. Es wird eben leider relativ oft gemacht, was man machen kann und was am günstigsten ist. Mich beschäftigen andere Fragen viel stärker: Wie nutzen wir die digitalen Möglichkeiten eigentlich sinnvoll? Wie kann es uns gelingen, möglichst allen Menschen ein erfülltes Leben in einer digitalisierten Gesellschaft zu ermöglichen?

 

 

Prof. Dr. Thomas Merz ist Prorektor Forschung und Wissensmanagement und Dozent für Medien und Informatik Lehre an der Pädagogischen Hochschule im Kanton Thurgau in der Schweiz. Sein Schwerpunkt in der Lehre ist schulische Medienpädagogik einschließlich Informatik. Davor war er über 20 Jahre in der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerbildung in den Bereichen Didaktik der Lebenskunde sowie Religion und Kultur tätig. Er ist auch Primarlehrer und hat das Studium in Theologie und Psychologie abgeschlossen. Er ist Vater von drei jungen Erwachsenen. 



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