-> Autor: Prof. Dr. Heiner Barz, Leiter der Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Im ewigen Widerstreit zwischen Freiheit und Gleichheit bedeutet die Weimarer Verfassung im Hinblick auf die Schulstrukturdebatte einen historischen Meilenstein: Zum ersten Mal wurde der Gedanke des gemeinsamen Unterrichts von Kindern aus den verschiedensten Schichten und Ständen für die 4-jährige Grundschule – die damals noch Volksschule hieß – staatsrechtlich kodifiziert. Ob die im Weimarer Schulkompromiss vorgenommene Richtungsentscheidung, die heftig umkämpft war, tatsächlich zu mehr sozialem Frieden und einer Annäherung der sozialen Milieus und der politischen Mentalitäten beigetragen hat, ist bis heute strittig. Für bedeutsame religiöse und weltanschauliche Gruppen jedenfalls blieb die als „Zwangsvergemeinschaftung“ empfundene Schulsituation ein Stein des Anstoßes. Es gibt zumindest auch eine Lesart, die darin einen weiteren Mosaikstein für tiefe gesellschaftliche Zerwürfnisse und letztlich für das spätere Scheitern der Weimarer Republik sehen will.
Auch wenn der strukturpolitische Streit um die Gesamtschule in den letzten Jahren etwas leiser geworden ist, gilt die heutige Grundschule, mit ihrem Anspruch, allen Kindern unabhängig von Religion, Status oder Geldbeutel der Eltern die gleichen Startchancen zu bieten, doch für viele als eine Art Leuchtturm für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit. Wie so oft, klaffen freilich auch hier Realität und Ideal – oder sollte man besser sagen: das gesellschaftliche Leben und die Ideologie? – recht weit auseinander. Denn eine Grundschule in Duisburg Marxloh und eine andere in Düsseldorf Oberkassel – es sei bewusst ein Beispiel aus einem anderen Bundesland gewählt, um niemand aus Starnberg oder aus dem Stadtteil Hasenbergl im Münchener Norden zu nahe zu treten –, diese beiden Grundschulen gewähren auf dem Papier dieselben Chancen. In der Realität sehen die Bildungswege dann aber trotz formaler Chancengleichheit eher unterschiedlich aus. Untersuchungen haben gezeigt, um noch einmal ein Beispiel aus NRW zu zitieren, dass etwa in Köln-Lindenthal 2010 fast 9 von 10 Schülern auf das Gymnasium wechselten, während es in Köln-Raderberg gerade einmal 2 von 10 waren.
Natürlich muss es der Anspruch jeder Lehrkraft und aller Bildungspolitik bleiben, die angedeuteten Ungleichheiten zu reduzieren. Allein: im Kontext der enormen Erwartungen, die heute auf Schule und Unterricht gerichtet sind, ist dies nur ein Problembereich von vielen. Denn: Schulen und Lehrkräfte sehen sich in den letzten Jahren enormen und stetig wachsenden Belastungsproben gegenüber. Ich will hier gar nicht mit Corona argumentieren.
Schon die deutliche Zunahme von Dokumentations- und Monitoringpflichten, die weit über die turnusmäßigen Vergleichstests mit den schönen Namen PISA, IGLU und VERA hinausgehen, fordern von den Lehrkräften immer mehr Zeit und Nerven. Hinzu kommen IQB-Bildungstrend-Erhebungen, TIMSS und andere Diagnosetools zum Lernstand oder zur Lernausgangslage.
Und dann hat man mal mehr (etwa in NRW), mal weniger konsequent (etwa in Bayern) unter dem wohlklingenden Label Inklusion begonnen, Teile der Förderschulen zu schließen und die einst dort betreuten und beschulten Kinder in die Regelklassen der Grund- und weiterführenden Schulen überstellt. Dass die Integration von Kindern mit körperlichen Behinderungen oder kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen ein guter Gedanke bleibt, ist unstrittig – dass man aber herausfordernde Schüler nicht beliebig bislang funktionierenden Klassenverbänden zuweisen kann, ohne die nötigen personellen Ressourcen bereit zu stellen, ist ebenso wahr. Eine Rollstuhlrampe am Eingang macht eine Schule eben noch nicht zum Inklusionsparadies.
Dass die kleineren Gruppengrößen und die individuelleren Betreuungsmöglichkeiten der Förderschulen nicht nur Diskriminierung und Ausgrenzung bedeuten – sondern dass sie auch Schutz und Schonräume bieten können, war vielen betroffenen Eltern sowie den Sonderpädagogen vor Ort von vornherein klar. Dass viele Schulen sich gegen den gut gemeinten Inklusionsimperativ mit einer Art „Diagnose-Offensive“ zur Wehr setzten, ist längst bekannt: Man erfüllte die Inklusionsquote nicht durch die Aufnahme neuer Schülerinnen und Schüler, sondern durch Umetikettierung der vorhandenen, unter denen man großzügig LRS-, Dyskalkulie, AD(H)S oder sozial-emotionalen sonderpädagogischen Förderbedarf entdeckte.
Und dann kommen die hohen Anteile von Kindern in vielen Schulen hinzu, die wenig Deutsch sprechen. Damit wird das Unterrichten nicht leichter, es bedarf besonderer Aufmerksamkeit und individuell zugeschnittener Methoden und Maßnahmen. Natürlich sind davon nicht alle Schulen und auch nicht alle Grundschulen in gleicher Weise betroffen – denn die angesprochenen Übergangsquoten in Gymnasium oder Haupt- bzw. Mittelschule korrelieren natürlich auch mit den Ausländer- und Migrantenanteilen.
Dabei sind Sprachbarrieren nur eine Facette der besonderen Schwierigkeiten der Integration von Kindern aus anderen soziokulturellen Herkunftsregionen. Hinzu kommen andere Einstellungsmuster zum Beispiel hinsichtlich der Rolle von Religion, der Aufgaben und Rechte von Mann und Frau, ein oft anderes Verständnis von Autorität und Hierarchie, von Loyalität und Respekt. Nicht zu reden vom Verwirrpotential der LGBTQIA2S+-Bewegung, deren Auswüchse bereits die Kinderzimmer erreicht haben – auch wenn der schwangere Ken von Mattel bisher nur ein Satire-Produkt war.
Dies alles erfordert von Lehrerinnen und Lehrern viel Fingerspitzengefühl, viel Frustrationstoleranz und ein hohes Arbeitsethos. Und es wirft Schatten auf das Schönwetter-Wort von der Diversität, die nun gottlob in unseren Schulen Einzug gehalten hätte. Wo früher vielleicht traditionell und postmateriell orientierte Elternhäuser und deren Nachwuchs im Klassenzimmer ausbalanciert werden mussten, stehen sich heute zusätzlich „Almans“, Russländer, Kinder aus Nah- und Fernost, vom Balkan und aus Afrika gegenüber. Zu denen sich seit Februar 2022 dann auch noch Ukraine-Kriegsflüchtlinge gesellen, die noch einmal ganz eigene Probleme und unsichere Zukunftsperspektiven mitbringen.
Generell sollte sich längst herumgesprochen haben, dass die Unterscheidung in Herkunftsdeutsche und Zugewanderte zu kurz greift. Denn: Menschen mit Migrationshintergrund bilden keine einheitliche gesellschaftliche Gruppe in der deutschen Bevölkerung. In einem größeren Forschungsprojekt konnten wir vor einigen Jahren die unterschiedlichen Lebensweisen und Alltagskulturen von Migranten in Deutschland systematisch untersuchen, um einen differenzierten Einblick in deren Bildungseinstellungen zu erhalten. Für die Beschreibung der sozio-kulturell geprägten Lebenswelten wurde das Gesellschaftsmodell der Sinus-Milieus zugrunde gelegt. Die Analyse der Migranten-Milieus zeigte deutliche Unterschiede in den Bildungsmotiven. Diese reichen vom Wunsch nach Zugehörigkeit zur Mitte Deutschlands im adaptiv-bürgerlichen Milieu, über die Wahrung traditioneller Werte im religiös-verwurzelten Milieu bis hin zum Streben nach Selbstverwirklichung im Sinne eines humanistischen Bildungsideals im intellektuell-kosmopolitischen Milieu.
Über alle Milieus hinweg äußern Eltern mit und ohne Migrationshintergrund den Wunsch, dass ihre Kinder „es einmal besser haben sollen“, womit in der Regel das Streben nach einer erfolgreichen Bildung verbunden ist. Allerdings unterscheiden sich die Ressourcen, die Eltern hierfür aufbringen können, entscheidend milieuspezifisch. Im gut gebildeten intellektuell-kosmopolitischen Milieu wird besonders sensibel, aber auch selbstbewusst auf die Bildungsbenachteiligung von Migranten reagiert, und die Milieuangehörigen setzen sich engagiert gegen Diskriminierung ein. Werden in den Milieus der bürgerlichen Mitte sämtliche Möglichkeiten der elterlichen Hilfe von der Hausaufgabenbetreuung über gemeinsames Lernen bis hin zur Begleitung von Klassenfahrten ausgeschöpft, begrenzen Bildungsarmut, finanzielle Knappheit und fehlende Kenntnisse über das deutsche Bildungssystem die Unterstützungsmöglichkeiten von Eltern aus traditionsorientierten und prekären Milieus.
Eines sollte klar sein: Während es in manchen politischen und bildungsbürgerlichen Kreisen als chic gilt, Diversity und zunehmende Heterogenität im Klassenzimmer als Errungenschaft zu preisen, bedeuten diese Entwicklungen an der Basis vor allem auch Arbeit. Aber natürlich auch Chancen – und vielleicht können ja auch Grundschulkinder aus der interkulturellen Vielfalt die eine oder andere wertvolle Mitgift mitnehmen. In Sachen Spontaneität, Gefühlsausdruck, Lebensfreude kann der deutsche Michel wohl nach wie vor Nachhilfe brauchen.
-> Autor: Prof. Dr. Heiner Barz, Leiter der Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf