Eine junge Kollegin erzählte mir unlängst, sie habe den Eindruck, dass viele der Eltern ihrer Drittklässler in den Elterngesprächen oft richtig „unter Strom stünden“. Sie unterrichtet an einer Grundschule in einer Vorstadtsiedlung am Rand von München. Wörtlich sagte sie: „Nicht nur wir Lehrerinnen sind oft jenseits unserer Belastungsgrenze, offensichtlich auch viele Eltern.“
Eltern sorgen sich um die Zukunft der Kinder, die ungewiss ist. Wie wird der Arbeitsmarkt in zehn Jahren aussehen, was werden die Kinder dann können müssen? Wie können Eltern helfen, wenn die Kinder unter Stresssymptomen wie Kopfschmerzen leiden oder gar depressiv werden, weil sie nicht mehr können? Dann ist da noch die Angst vor dem Versagen der Kinder in der Schule. Und die meisten Eltern strampeln sich ab im Beruf, um ihren Lebensstandard halten zu können. Die Sorge, wie das Darlehen fürs Reihenhaus oder die steigende Miete zu zahlen sind, ist existenziell.
Es ist ein frommer Wunsch
Ich denke an Gespräche mit dem ein oder anderen Politiker über Sozialpolitik. Ich bekam zu hören: „Wir müssen die Familien mehr in die Erziehungspflicht nehmen. Der Staat kann nicht alles kompensieren.“ Ich dachte: Leicht gesagt. Unser Alltag als Lehrerinnen und Lehrer macht uns täglich deutlich: Es ist ein frommer Wunsch. Ebenso wie das Bild der intakten Kleinfamilie. Familie hat sich verändert, und verändert haben sich auch die Herausforderungen und die Belastung – für die Familien und für die Schulen.
Wir müssen die Familien mehr in die Pflicht nehmen – ist das die Antwort? Wie soll das aussehen? Hole ich die Mutter oder den Vater in die Sprechstunde und erkläre, dass sie bitt'schön ihre Arbeitszeit reduzieren sollen, um mehr Zeit mit den Kindern zu haben? Schicke ich das hungrige Kind, das zuhause kein Frühstück bekommen hat, einfach wieder heim und sage, sollen sich gefälligst die Eltern kümmern? Zucke ich die Schultern, wenn das Kind nur noch Computerspiele zockt und sage: Das ist Sache der Eltern?
Erziehung ist kein Beiwerk zum Kompetenzerwerb
Ich bin überzeugt: Das Konzept „Eltern sind für die Erziehung zuständig, die Schule für das Wissen“, geht nicht mehr auf. Eltern brauchen und hoffen in vielen Fällen auf die Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer – gerade in Fragen der Erziehung. Schule muss sich den Fragen stellen. Erziehung ist heute zentraler Bestandteil des Bildungsauftrags der Schule. Der Staat kann nicht alles richten. Und Schule kann nicht alle Probleme lösen.
Dennoch: Der Staat muss die Grundlage dafür schaffen, dass unser Gemeinwesen für alle lebenswert ist. Dazu liefert die Schule einen entscheidenden Beitrag, wenn nicht den wichtigsten. Voraussetzung aber: Bildungspolitik, Schulverwaltung und die Gesellschaft insgesamt müssen endlich anerkennen, dass Erziehung kein Beiwerk zum Kompetenzerwerb ist. Das trifft für alle Schularten zu – auch fürs Gymnasium. // Simone Fleischmann