Bereits im vergangenen Jahr flackerte kurz eine Diskussion auf, ob angesichts der Pandemie die Abiturprüfungen abgesagt werden müssten. Gott sei Dank konnte diese Debatte schon nach wenigen Tagen wieder eingefangen werden. Die Durchführung der Prüfungen erforderte zwar einen nicht unerheblichen Aufwand, konnten aber im Endeffekt doch weitgehend reibungslos über die Bühne gebracht werden. Heute ist jeder froh, dass man an der Verpflichtung zu Abschlussprüfungen festgehalten hatte.
Nun, nach über einem Jahr Leben mit Corona ploppt diese Diskussion wieder auf. Die Argumente bleiben die gleichen. Wer an den Prüfungen festhalten will, verweist darauf, dass ansonsten die Absolventen dieses Jahrgangs stigmatisiert werden und die Vergleichbarkeit mit den anderen Abiturjahrgängen gerade im Falle von zulassungsbeschränkten Studiengängen äußerst fragwürdig wäre.
Umfassende Reform des ganzen Systems - jetzt kann ein Wendepunkt sein
Doch auch die Gegner einer Abiturprüfung verweisen auf das Kriterium der Vergleichbarkeit. Das Ausmaß der Pandemie war regional und wegen der Quarantänevorschriften auch von Schule zu Schule höchst unterschiedlich. Manche der Abiturienten hatten über Wochen nur Distanzunterricht oder wurden in Wechselbetrieb in Präsenz unterrichtet. Andere konnten zumindest bis kurz vor den Weihnachtsferien ohne jede Einschränkung die Schule besuchen. Auch nach der teilweisen Wiedereröffnung der Schulen im Februar unterscheidet sich die Situation von Region zu Region. Die Voraussetzungen für die Abiturprüfungen sind also tatsächlich nur eingeschränkt vergleichbar.
Aber wie sieht es eigentlich mit der hehren Vergleichbarkeit des Abiturs in den normalen Zeiten, ganz ohne Corona aus? Am offensichtlichsten und seit Jahren immer wieder ein beliebtes Streitthema: Wie vergleichbar ist eigentlich ein Abitur in Bayern mit dem in Hamburg oder Niedersachsen? Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs: Unterscheiden sich nicht auch die Voraussetzungen an jeder Schule voneinander? Und ist innerhalb der gleichen Schule der Mathematikunterricht bei der Kollegin A wirklich vergleichbar mit der des Kollegen B? In einigen Kursen kommt es sogar mehrmals zu Lehrerwechseln aufgrund von Krankheiten, Schwangerschaften oder Versetzungen, andere werden in den beiden Jahren von der gleichen Lehrkraft unterrichtet.
Jeder, der sich auch nur ein wenig mit Leistungsmessung beschäftigt hat, weiß, wie groß der Spielraum und damit die Fehlerquote der Korrigierenden sind. Sicherlich versucht man, durch die obligatorische Zweitkorrektur hier einen gewissen Ausgleich zu schaffen, aber dennoch ist es naiv, zu glauben, dass die Note nicht nur in Deutsch Abitur, sondern auch in Mathematik oder Englisch nicht abhängig wäre davon, wie und wer diese Arbeit korrigiert hat.
Hilft Corona dabei, die bisher übliche Leistungsmessung zu überdenken?
Vielleicht hilft die Krise der Pandemie dabei, einen schärferen Blick auf die vielen Fragezeichen, die sich angesichts der bisher meist bedenkenlos durchgeführten Praxis aufdrängen, zu werfen. Auf alle Fälle besteht kein zwingender Grund, in diesem Jahr wegen Corona auf die Abiturprüfungen oder die Abschlussprüfungen anderer Schularten vorschnell zu verzichten. Der Zeit-Kommentator Manuel Hartung hat Recht: Eine umfassende Reform des ganzen Systems ist überfällig!
Autor: Fritz Schäffer, Leiter der Abteilung Schul- und Bildungspolitik im BLLV