München - Am Freitag werden in den vierten Klassen bayerischer Grundschulen Zwischenberichte über den Leistungsstand der einzelnen Schülerinnen und Schüler verteilt. Weil die Eltern erfahren, wie wahrscheinlich der Übertritt ihre Kindes auf ein Gymnasium ist, wird dieser Tag von vielen als Schicksalstag empfunden. Der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), Klaus Wenzel, spricht von einer „Übertritts-Hysterie“, der viele Eltern verfallen sind. „Sie wollen für ihr Kind das Beste und weil der Königsweg aus ihrer Sicht der erfolgreiche Besuch eines Gymnasiums ist, versuchen sie mit allen Mitteln, ihr Kind dort unterzubringen: Mit Hilfe von stundenlangem Lernen und Üben zu Hause, intensiver Vorbereitung von Prüfungen, kostenintensiver Nachhilfe - immer öfter auch mit Hilfe des Rechtsweges, indem Noten angezweifelt werden. Die Situation sei ebenso absurd wie gefährlich, denn viele Kinder sind dem massiven Druck, den hohen Erwartungen und der Prüfungsdichte in der vierten Jahrgangsstufe nicht gewachsen. Sie werden krank. Schlafstörungen, Bauch- und Kopfweh, Übelkeit, Angstattacken oder Erschöpfungszustände sind die Folge. Im Zeitraum Oktober bis März stehen allein in den Hauptfächern 20 Prüfungen an. „Ein Pensum, bei dem auch Erwachsene Probleme hätten“, findet Wenzel. Mit einer kindgerechten Schule habe dies nichts zu tun. Im Mittelpunkt stehe die rücksichtslose und harte Auslese Zehnjähriger. Wenzel forderte, in einem ersten Schritt wenigstens den Elternwillen frei zu geben - „damit könnte der schlimmste Druck abgebaut werden.“
Es gehe ihm nicht darum, pauschal allen Eltern Vorwürfe zu machen, betonte der BLLV-Präsident heute in München. Auch sie seien Opfer einer Schulpolitik, die an der Verteilung von Kindern nach der vierten Jahrgangsstufe festhält. „Trotz immer wiederkehrender und nicht verstummender Kritik ist das Kultusministerium nicht bereit ist, die Übertrittsmodalitäten zu ändern, so dass der schlimmste Druck von den Familien genommen werden könnte“, stellte er fest. Nach wie vor sei der Elternwille nicht entscheidend für den Übertritt, sondern allein das Anfang Mai verteilte Übertrittszeugnis, bei dem die Schüler mindestens einen Schnitt von 2,3 in den Fächern Heimat- und Sachkunde, Deutsch und Mathematik erreichen müssen. Der am Freitag ausgegebene Zwischenbericht gibt lediglich Auskunft über den derzeitigen Leistungsstand der Kinder.
Der Besuch eines Gymnasiums sei ein Statussymbol: „Weil viele Eltern nur ein Kind haben, muss dieses eine Kind alle Erwartungen erfüllen.“ Eltern wüssten, dass die Gefahr der Langzeitarbeitslosigkeit steigt, je niedriger der Schulabschluss ist. „Mütter und Väter sollten trotzdem innehalten und sich vor Augen führen, dass heute schon jedes fünfte Grundschulkind therapiebedürftig ist“, sagte Wenzel.
„Kinder sind das wertvollste, was Eltern und eine Gesellschaft haben. Der Nachwuchs von heute wird wahrscheinlich bis zum 70. Lebensjahr arbeiten müssen. Warum also die Hektik schon ganz am Anfang der Schulkarriere? Mein erster Appell an alle Eltern lautet, Lern- und Arbeitsprozesse ihrer Kinder zu entschleunigen. Sie sollten sich immer fragen, wo hört meine Unterstützung auf und wo fängt der Druck an? Mein zweiter Appell richtet sich an klagewütige Eltern, die gerichtlich gegen Lehrkräfte vorgehen, um den Übertritt ihre Kindes zu erzwingen: Sie sollten sich vor Augen halten, dass auch Lehrer Opfer des Schulsystems sind. Sie müssen vielfach anders handeln, als es ihren pädagogischen Idealen entspricht.“ Streit zwischen Eltern und Lehrern sei immer kontraproduktiv und vergifte die Atmosphäre an den Schulen.
Natürlich müsse auch darüber nachgedacht werden, wie sinnvoll die Verteilung Zehnjähriger auf unterschiedliche Schultypen sei: „Es gibt auf der ganzen Welt kein Instrumentarium, mit dem festzustellen ist, ob ein Kind für das Gymnasium geeignet ist oder nicht - und schon gar nicht im Alter von zehn Jahren.“ Es wäre besser, wenn die Kinder deutlich länger gemeinsam zur Schule gehen könnten und sich ihr Bildungsweg erst dann trennen würde. „Dann könnten sie auch mitreden.“
Kinder profitierten darüber hinaus auch nicht von dem Gefühl, in Schubladen gesteckt zu werden. „Sie erleben den Sortierprozess nicht als wohlmeinenden Versuch, sie differenziert zu unterrichten, um so ihrer Begabung gerecht zu werden - wie das Kultusministerium argumentiert. Sie erleben ihn vielmehr als das, was er ist: eine harte und rücksichtslose Auslese, die ausgrenzt und obendrein auch noch ungerecht ist, weil diejenigen im Vorteil sind, die privat gefördert werden können. In die Schublade gesteckt gehört deshalb das zu frühe Verteilen von Kindern auf verschiedene Schultypen.“