Von Toni Gschrei*
In Sten Nadolnys Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ forderte der Junge John in seinem persönlichen Zeitmaß lernen zu können. Im Unterricht hatte John einmal auf die Frage des Lehrers erwidert: „Sir, für die Antwort brauche ich Zeit!“. Ein andermal sagte John: „Wenn ich erzähle, Sir, brauche ich einen eigenen Rhythmus.“ Auch ich habe diese Schüler. Ich spüre öfter eine innere Ungeduld, wenn wir im Unterricht etwas erarbeiten und ich auf ein Ergebnis oder auf eine Antwort warte. Andererseits merke ich, wie auch ich diese Zeit in vielen Bereichen brauche und wie es Stress in mir auslöst, wenn andere Druck machen, ich aber noch nicht so weit bin.
Manchmal ertappe ich mich auch, dass ich zu schnell helfe. Die Schüler scheinen es anschließend zwar kapiert zu haben. Bei den Tests tauchen dann allerdings die gleichen Probleme wieder auf. Nachträglich stelle ich fest: Ich habe mich zu wenig auf die Lernprozesse der Schüler eingelassen. Die Zeit, dass sich die jeweiligen Schüler intensiv genug mit der Materie auseinandersetzten oder experimentierten, hat gefehlt.
Durch die bewusste Arbeit mit „Verständnisintensivem Lernen“ (ViL) ist mir noch mehr deutlich geworden, wie wichtig der Faktor Zeit im Unterricht ist. In der Mittelschule stehen Schüler oft vor der Herausforderung, Aufgabenstellungen richtig zu verstehen. Da brauche ich als Lehrer zusätzlich Zeit, um die Aufgabenstellungen nochmals zu erläutern.
Wie die eigene Lernbiografie den Unterricht beeinflusst
ViL“, das bedeutet für mich auch eine konstruktive Einstellung zu Fehlern. Das erlebe ich besonders im Mathematikunterricht. Zeit lassen, Erfahrungen ermöglichen, Kompetenz und Autonomie erleben, ist für Schüler sehr gewinnbringend. Im „ABC der guten Schule“ von Otto Herz steht auf der Karte „F“: „Sich fehlerfreundlich ferhalten“. Ausprobieren, Fehler machen dürfen, das braucht Zeit und Verständnis.
Lernen ist keine Einbahnstraße. Oftmals sind Umwege erforderlich, und hin und wieder landet man in einer Sackgasse. Aber gerade dadurch, so habe ich es erlebt, lernen die Schüler und verstehen besser. Um eine Sache zu verstehen, um tiefer in eine Materie einzudringen, brauchen wir aber nicht nur Zeit. Wir brauchen auch Zuwendung.
Die eigenen Schulerfahrungen haben großen Einfluss auf das pädagogische Handeln von Lehrerinnen und Lehrern. Verschiedenste Untersuchungen haben ergeben, dass sich die vielen Jahre als Schüler unserer Lehrer mehr auf unsere Handlungsmuster und -routinen auswirken als das später im Studium erworbene Wissen. Die Arbeit mit „ViL“ hat mich auch auf meine Lernbiografie zurückverwiesen. Ich war Hauptschüler und zu manchen Zeiten ein recht schwieriger Schüler.
Was und warum habe ich damals gelernt? Je nach Fach und Thema war das bei mir nicht wirklich anders, als bei vielen Schülern heute. Meistens habe ich nur am Abend gelernt oder sogar erst in der Früh vor der Probe. Vieles habe ich nur wegen der nächsten Schulaufgabe reingepaukt. Viele unserer Mittelschüler lernen, falls sie überhaupt lernen, nicht viel anders. Durch meine Lernbiografie konnte ich in vielen Lernsituationen meine Schüler besser verstehen und mich inihr Denken hineinversetzen.
Durch die Brille der Lernenden blicken oder: Verstehen zweiter Ordnung
Folgende Fragen waren für mich hilfreich: Was hat mein Lernen gefördert? Wodurch wurden meine Lernprozesse negativ beeinflusst? Wann war ich zufrieden mit meinen Ergebnissen? In der Auseinandersetzung mit meiner Lernbiografie in der ViL Fortbildungsgruppe wurde mir klar, dass ich meine eigenen Erfahrungen und subjektiven Theorien nicht auf alle Schüler übertragen kann. Die Reflexion mit der Gruppe hat mir geholfen, manche Schüler anders zu behandeln und sie damit besser zu fördern.
Im ViL-Konzept nennt man das „Verstehen erster Ordnung“. Es ist die Grundlage für ein „Verstehen zweiter Ordnung“. Der Kern dieses „Verstehens zweiter Ordnung“ besteht darin, die Lernwege der Schüler zu erkennen, ihre Verstehensprozesse nachzuvollziehen und von hier aus geeignete Mittel und Wege anzubieten.
In unterschiedlichen Übungen bei der Ausbildung konnte ich nicht nur kognitiv andere Lernwege besser nachvollziehen, sondern auch erleben, welche Gefühle in unterschiedlichen Situationen ausgelöst werden. Freude, Unsicherheit, Zufriedenheit, Druck – alles Gefühle, die auch Schülerinnen und Schüler beim Lösen von Aufgaben erfahren. Durch das Erleben der Perspektive Lernender fällt es Lehrkräften oft leichter auf sie einzugehen und auch deren Gefühle ernst zu nehmen.
In der Auseinandersetzung mit „ViL“ ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, Lernprozesse mit positiven Emotionen zu verknüpfen, den Schülern mit Respekt zu begegnen und ihnen Erfolgserlebnisse zu vermitteln. Verständnisintensives Lernen zu ermöglichen, hat viel mit Methoden zu tun. Vor allem aber mit einer positiven Haltung gegenüber den Lernenden.
* Der Autor unterrichtete bis 2014 an der Maria-Ward-Volksschule Heiligenstatt und bis 2015 an der Mittelschule Reischach