Herr Professor Schulte-Körne, was beobachten Sie als Kinder- und Jugendpsychiater und Kenner der Schulszene: Haben die Kinder von heute andere Bedarfe als die von früher?
Kommt drauf an. Heißt früher: vor zehn Jahren, vor zwanzig Jahren? Was man auf jeden Fall sagen kann: Die Kinder kommen heute mit anderen Voraussetzungen in die Schule, mit anderen Entwicklungsverläufen. Das Bewusstsein für unterschiedliche Entwicklungen ist in der Gesellschaft und auch die Kenntnisse darüber sind deutlich gewachsen.
Welche Voraussetzungen meinen Sie?
Zum Beispiel diese: Immer mehr Kinder kommen aus Familien, in denen sich die Eltern trennen – das sind in den vergangenen zwanzig Jahren immer mehr geworden. Für Kinder ist das eine Herausforderung, die tragen sie in die Schule hinein. Es werden auch stetig mehr Kinder mit Migrationshintergrund. Die haben auch spezielle Bedarfe, aber auch spezielle Bedürfnisse. Und da sind Kinder, die haben einen Migrationshintergrund und zusätzlich eine Entwicklungsproblematik. Wir werden in Zukunft noch viel genauer hinschauen müssen auf die Ausgangssituation der einzelnen Kinder, und darauf, wo sie besondere Unterstützung brauchen.
Sie haben die Eltern angesprochen. Welche Rolle spielen die?
Es gibt eine große Gruppe, die immer vergessen wird, weil psychische Erkrankungen in der Gesellschaft immer noch stigmatisiert sind: Die Gruppe der Kinder mit Eltern, die psychisch krank sind, die an Depression leiden oder an Angststörungen. Diese Gruppe ist nicht gerade klein. Diese Familien sind schwierig im Kontakt mit der Schule. Sie haben oft auch Ängste gegenüber der Schule aufgrund ihrer eigenen Entwicklung. Die Kinder erleben nun einen Erwachsenen, der immer wieder in die Klinik geht. Sie sind plötzlich mit Aufgaben konfrontiert, die sie nicht bewältigen können, zum Beispiel Geschwister betreuen, oder auch ein bisschen mehr als nur betreuen, wenn ein Elternteil komplett ausfällt.
Aber diese Gruppe gab es früher sicher auch. Viele Phänomene haben wir früher gar nicht betrachtet. Wir haben sie vielleicht sogar beschrieben, aber nicht richtig eingeordnet, haben nicht verstanden, warum Eltern nicht kooperativ sind, oder warum Familien schwierig sind. Und manche Probleme sind neu – weil es sie vor zwanzig Jahren noch gar nicht geben konnte: Cybermobbing zum Beispiel, das hat in den letzten drei Jahren enorm zugenommen.
Es ist auch wieder viel von hyperaktiven Kindern die Rede …
… die Zahl der hyperaktiven Kinder stagniert seit zehn Jahren – aber in der Wahrnehmung der Gesellschaft hat das immens an Bedeutung gewonnen. Und wenn Eltern ihren Kindern Medikamente geben, wird das sehr kontrovers betrachtet. Auch solche Entwicklungen spielen in Schule rein. Und da sind die traurigen Kinder, die mit einer Depression, die auf einmal weg sind und wochenlang nicht mehr in die Schule kommen.
Wenn Kinder nicht in die Schule kommen, dann sicher nicht nur wegen Depressionen, oder?
Sie bleiben auch aus anderen Gründen weg, manche gleich ein halbes Jahr. Die Eltern liefern ständig Atteste von unterschiedlichen Fachärzten, aber warum sie in Wirklichkeit nicht kommen, bleibt unklar. Das sind keine Kinder mit chronischen Erkrankungen sondern mit überwiegend psychischen Erkrankungen. Die Eltern tolerieren oder unterstützen diesen Rückzug gar. Es ist eine riesige Herausforderung für Schule, wie man mit den Kindern umgeht, die einfach nicht kommen.
Soll sich die Schule von heute wirklich all dieser Aufgaben annehmen?
Wenn man es als eine gesellschaftliche Aufgabe versteht, diese jungen Menschen zu integrieren, dann hat Schule einen eigenen Beitrag zu leisten – aber auch andere Hilfesysteme. Niemand ist allein verantwortlich, weder Schule, noch das Gesundheitswesen.
Etliche Lehrkräfte sagen sich: Ich muss vor allem meinen Stoff vermitteln. Ich beobachte zwei unterschiedliche Haltungen: Die einen sind unglaublich engagiert, tun sehr viel für die Jugendlichen oder die Familien. Andere wehren ab, wollen damit nichts zu tun haben. Und natürlich: Es ist fatal, wenn Schule zu viel will. Schule sollte schauen, was Schule leisten kann, und das professionell tun. Und Hilfe zulassen, Hilfe von außen. Schule müsste sich öffnen für die Hilfesysteme, die es gibt.
Der Psychologe an der Schule?
Auf jeden Fall. Und nicht nur der. Auch der Kinder- und Jugendpsychiater als Konsiliar, gerade bei Kindern, die Medikamente bekommen, oder zusätzlich eine organische Erkrankung haben. Ergotherapie, Logopädie, all das kann – ad on – in Schule abgebildet werden, gerade in Ganztagskonzepten. Das würde die Familien entlasten.
In einem solchen ganzheitlichen Konzept wüssten auch alle Beteiligten voneinander, was geschieht. Im Moment läuft es nicht so koordiniert. Es wäre besser, wenn gewisse Leistungen im Schulhaus erbracht werden, von externen Anbietern, alles unter einem Dach. Aber es gibt doch jede Menge Angebote ringsum. Diejenigen, die ganz große Hilfe brauchen, nehmen sie oft nicht in Anspruch. Die Hürde zu den Angeboten ist zum Teil sehr hoch. Zum Facharzt zu gehen, zur Jugendhilfe, zur Spezialtherapie. Man muss ganz schön kompetent sein in Deutschland, um sich in diesem System zurechtzufinden.
Es gibt auch handfeste Vorbehalte gerade gegenüber der Psychiatrie.
Klar, und solche Vorbehalte ziehen sich durch den gesamten pädagogischen Bereich. Es gibt da die sehr vorsichtigen Lehrkräfte, die jede Aussage über ein Kind als Stigmatisierung begreifen. Das ist fatal. Je besser wir verstehen, was psychische Belastungen und Erkrankungen sind, desto besser und professioneller können wir damit umgehen. In der Medizin muss man auch auf der Basis der richtigen Diagnose schnell die richtigen Hilfsmaßnahmen einleiten. Einfach mal ein halbes Jahr warten, das kann fatal ausgehen.
Wir fassen zusammen: Ein Kind soll nicht nur als Schülerin oder Schüler gesehen werden, sondern ganzheitlich, aus der Sicht vieler anderer Professionen. Ist das vielleicht ein arg rosarotes Bild der zukünftigen Schule?
Um dem Ganzen noch eine etwas andere Farbe zu geben: Wir brauchen in der Ausbildung der Lehrkräfte ein Umdenken: Wir brauchen mehr Wissen über psychische Gesundheit und über Belastungen.
Die Wissensvermittler von einst werden Experten für schwierige Fälle?
Sie sollten drei Anforderungen erfüllen. Erstens: Erkennen. Also besser werden in der Diagnosefähigkeit. Zweitens: Wissen. Also wissen, was so eine Diagnose für das Verhalten und das Leben des Kindes bedeutet, damit sie es im Unterricht besser verstehen können. Drittens: Handeln.