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Verrechtlichung des Schulbetriebs Service

Schema F

In Bayern gibt es 8.000 Gesetze und Erlasse sowie Verordnungen im fünfstelligen Bereich. Diese Reglementierungsflut macht auch Lehrkräften und Schulleitungen pädagogisch sinnvolles Handeln zunehmend schwerer. In seinem letzten Beitrag als Leiter der Rechtsabteilung des BLLV erklärt Hans-Peter Etter, wann zu viel ZU VIEL ist. Ein Plädoyer für mehr Entscheidungsfreiheit.

Nichts überlässt die bayerische Staatsregierung beim Übertritt dem Zufall. Von Berchtesgaden bis Aschaffenburg ist die Anzahl der schriftlichen Leistungserhebungen in Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachunterricht genau festgelegt - verbindliche "Richtzahl": 22. Überall im Freistaat sind diese Leistungserhebungen exakt acht Tage vorher anzukündigen, es muss probefreie Phasen und Probephasen geben, in den Probephasen darf pro Tag exakt eine schriftliche Leistungserhebung durchgeführt werden, pro Woche dürfen es nicht mehr als zwei sein. Da fragt man sich: Wieso gesteht man den Schulen und den Lehrkräften nicht die pädagogische Verantwortung zu, so etwas selbst, und zwar im Interesse der Kinder, zu regeln?

Dies ist nur eines von vielen Beispielen, die Schulleitungen, aber auch Lehrkräfte veranlassen, eine wachsende Verrechtlichung des Schulbetriebs zu beklagen. Die selbstständige und eigenverantwortliche Schule, wie sie Verwaltung und Politik so gern proklamieren, ist damit weitgehend unmöglich geworden. Natürlich: In einem Rechtsstaat ist Schule an gesetzliche Vorschriften gebunden. Gerade in einer solchen Institution sind Regeln zwingend erforderlich, sie bilden auch eine wichtige pädagogische Orientierung für alle dort Handelnden. Die Bindung an Recht und Gesetz ist die Grundvoraussetzung für ein würdevolles menschliches Zusammenleben in einer Gesellschaft und selbstverständlich auch in pädagogischen Einrichtungen. Und: Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern brauchen Rechtssicherheit und die Möglichkeit, grundlegende Entscheidungen bzw. Verwaltungsakte juristisch überprüfen zu lassen.

Was aber hat es auf sich etwa mit dem eingangs geschilderten Anspruch, den Übertritt an allen Schulen genau gleich laufen zu lassen - ungeachtet der Bedürfnisse einzelner heterogener Klassen und einzelner Kinder? Wer so fragt, bekommt zu hören: Gleichheitsgrundsatz! An den Schulen erzeugt die übertriebene Auslegung dieses Grundsatzes aber Druck und Probleme. Sie macht viele Gelegenheiten der Anfechtung durch Eltern überhaupt erst möglich. Vor allem pädagogisch ist sie höchst fragwürdig.

Auch die Lehrkräfte benötigen eine gewisse Rechtssicherheit - dafür, dass grundsätzlich ihre pädagogischen Entscheidungen nicht anfechtbar sind. Gerade pädagogisches Wirken ist in den meisten Fällen ein individuelles Handeln, das auf Bedürfnisse eines einzelnen Kindes eingeht. Im Voraus regelnde Anweisungen sind da fehl am Platz. Erziehung ist vielmehr Beziehungsarbeit. Sie folgt psychischen und sozialen Gesetzmäßigkeiten und lässt sich damit sich nicht behördlich anordnen.

"Ich stehe ja mit einem Bein im Gefängnis"

Warum müssen denn die Juristen des Kultusministeriums unbedingt festlegen, dass sich Schülerinnen und Schüler bei Wanderungen und Fahrten erst ab der 10. Jahrgangsstufe in Gruppen ohne direkte Aufsicht bewegen dürfen? Traut man den Lehrkräften nicht zu, selbst zu erkennen, wann ihre Schülerinnen und Schüler reif genug sind, um selbstständig unterwegs zu sein? Seit wann kennt man in einer zentralen Behörde die Menschen einer bestimmten Schule besser als es die Lehrkräfte vor Ort vermögen, die für so etwas ausgebildet sind?

Je mehr an Schulen juristisch festgelegt wird, umso mehr müssen Schulleitungen und Lehrkräfte zu Vollzugsbeamten werden. Schulverwaltung sollte jedoch anders ablaufen als die Verwaltung beispielsweise bei Finanzbehörden. Selbstverständlich muss eine funktionierende Administration darauf achten, dass die gesetzten Rahmenbedingungen und die Bildungsziele eingehalten werden - und trotzdem Schulen und Lehrkräften die pädagogische Verantwortung und damit eine gewisse Freiheit überlassen.

Klar ist auch: Pädagogische Handlungsweisen sind einer rechtlichen Überprüfung selten zugänglich. Genau deshalb muss die Schuladministration die Gratwanderung hinbekommen, Pädagogik und Recht ins richtige Verhältnis zu setzen. Die Schulaufsicht sollte immer reflektieren, ob es wirklich nötig ist, bis ins letzte Detail zu überprüfen, ob Bestimmungen an den Schulen eingehalten werden. Sie sollten sich bei der Schulleitung und auch bei den Lehrkräften viel mehr auf die Schatzsuche besinnen, ihnen die pädagogische Verantwortung zutrauen und nicht so sehr die Defizitfahndung im Auge haben.

Die Folgen der Bürokratisierung und Verrechtlichung an unseren Schulen sind schon jetzt fatal. Was bedeutet es, wenn es immer öfter heißt: "Als Lehrkraft stehe ich mit einem Bein im Gefängnis - Theaterabende, Lesenächte und Schullandheimaufenthalte lasse ich lieber weg"? Diese Angebote sind sehr wichtig; sie machen eine gute Schule aus. Für eine ganzheitliche Erziehung ist es kontraproduktiv, Unterricht und Erziehung unter Druck und nach einheitlich administrativ festgelegtem Schema F ablaufen zu lassen.

Das KM beklagt, dass viele Schulleitungen noch genauere Bestimmungen fordern. Damit zeigen sie ein erhebliches Maß an Unselbständigkeit und Scheu, Verantwortung zu übernehmen. Je größer die Sorge, Fehler zu machen, desto größer das Bedürfnis nachzufragen - desto massiver die Regelflut. Gerade Schulleiterinnen und Schulleitern stellt sich jedoch oft genug die Frage: Habe ich etwas übersehen, verstoße ich gerade gegen eine Bestimmung?

"Lesen Sie die Verordnungen nicht?"

Angestachelt wird eine solch defensive Denkweise von Vorgesetzten, die sich nach einer Fehlentscheidung einschüchternd äußern: "Wie konnten Sie nur? Das muss Ihnen doch bekannt sein! Lesen Sie die Verordnungen nicht?" Schulleiterinnen und Schulleiter, aber auch Lehrkräfte, sind oft einfach verunsichert, weil sie auf die rechtlichen Rahmenbedingungen insgesamt tatsächlich viel zu wenig vorbereitet werden. Für ein sicheres, professionelles Auftreten sind diese Kenntnisse aber von eminenter Wichtigkeit.

Schließlich sieht sich die Schulverwaltung einer Vielzahl exotischster Anfragen ausgesetzt. Warum aber antworten unsere vorgesetzten Behörden - Kultusministerium, Regierung und Schulamt - nicht souverän: "Das entscheidet die Schule vor Ort"? Braucht es zum Beispiel zwingend eine Auskunft des KM, wenn Eltern beantragen, im Unterricht hospitieren zu dürfen? Dass das KM dies gegenüber einem Elternverband sogar als zulässig betrachtet, ist schon mal unnötig - und obendrein rechtlich fragwürdig. Vor allem aber verhindert eine zustimmende Auskunft einmal mehr individuelle Entscheidungen vor Ort.

Regelwut verschreckt Ehrenamtliche

Wie schädlich undurchdachte, überbürokratische Regelungen von oben sein können, zeigt auch das Beispiel des BLLV-Projekts "Frühstück denkbar". Zahlreiche Kinder bekommen zu Hause kein Frühstück, viele Menschen helfen nun schon seit Jahren im Rahmen des Projekts ehrenamtlich, damit diese Kinder den Schultag nicht hungrig beginnen müssen. Die Initiative wäre beinahe der Regulierungswut zum Opfer gefallen: Ehrenamtliche Mitarbeiter, so hieß es Anfang dieses Jahres von Amts wegen, sollten bei derartigen Projekten nicht mehr eingesetzt werden dürften. Man verwies auf "Hygienerecht" und "nichtgeklärte Haftung".

Es tue ihnen ja leid, und es gehe ihnen auch nicht darum, solchen Initiativen das Leben schwer zu machen, betonten Verantwortliche beispielsweise der Stadt München. Warum sie trotzdem urplötzlich Vorschriften anzuwenden gedachten, die für Großküchen gelten, bleibt ihr Geheimnis. Die Folgen - nicht nur für die jeweilige Initiative, sondern auch für mögliches künftiges Engagement - sind gravierend. Wem wollte man es verübeln, wenn Aktivitäten von vorneherein unterlassen werden, nach dem Motto: "Tun wir uns nicht an - da steht bestimmt wieder irgendeine Bestimmung dagegen." Dabei entpuppen sich vermeintliche Sachzwänge oft genug plötzlich als doch nicht so zwingend. Im Fall der Frühstücksinitiative jedenfalls sprach der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter ein Machtwort, und so ist der Fortbestand des Projekts auf absehbare Zeit gesichert. Keine Ehrenamtlichen müssen sich mehr dafür schlecht fühlen, dass sie sich für Bedürftige einsetzen - freiwillig und unentgeltlich.
/ hpe

Die Rechtskolumne von Hans-Peter Etter wird regelmäßig im Magazin bayerische schule veröffentlicht. Die nächste Ausgabe erscheint am 24. Juli 2019.