Jahrzehntelang herrschte die CSU im Freistaat mit absoluter Mehrheit. Diese Macht ermöglichte es ihr, weitgehende Modernisierungsprozesse einzuleiten. In den 60er-Jahren schob sie umfassende Bildungsreformen an und begann, jeder größeren Kleinstadt ein Gymnasium zu spendieren. Sie verwandelte den Agrarstaat Bayern in einen wirtschaftlich überaus erfolgreichen Industrie- und Dienstleistungsstandort. Nun frisst der Erfolg seine Eltern.
Denn eines hatten die Verantwortlichen damals nicht bedacht: Mit ihren Entscheidungen setzten sie irreversible Individualisierungsprozesse und einen damit verbundenen Wertewandel in Gang.
Bildung trug und trägt zur Säkularisierung der Gesellschaft bei. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr übergeordnete, tradierte Werte, sondern die Selbstentfaltung. Das muss nicht unbedingt schlecht für Gesellschaft und Demokratie sein. „Selbstbestimmung ist ein tragendes Fundament eines freiheitlichen Gemeinwesens“, sagte Prof. Dr. Heinrich Oberreuther. „Soziales Engagement erfolgt aber heute aus individuellen Bedürfnissen heraus.“
Das Arbeitsmarktpotenzial Bayerns trägt ebenfalls zum Wandel bei. Die Gesellschaft im Freistaat ist in den vergangenen 20 Jahren durch eine enorme Wanderungsbewegung umgeformt worden. Über vier Millionen Menschen sind zugezogen, mehr als drei Millionen haben das Land wieder verlassen. Unzählige Menschen gingen von Bayerns Norden in den wirtschaftsstarken Süden und zogen den Arbeitsplätzen hinterher. Menschen lösen sich aus bestehenden sozialen Bezügen und den damit verbunden Wertesystemen und orientieren sich um.
Die CSU ist Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden
Für die großen Volksparteien CSU und SPD ist das alles zum Problem geworden. Ihre Bindekraft bezogen sie aus übergeordneten Wertegebäuden, die für das C oder das S im Parteinamen stehen. Doch die Zahl der Lebensstile, Milieus und der damit verbundenen persönlichen Überzeugungen hat sich vervielfacht und ihre traditionelle Wählerklientel ist damit auf eine Minderheit zusammengeschrumpft. „Weihrauch ist kein Integrationsinstrument über Kirchenorientierte hinaus, formulierte der emeritierte Passauer Politikprofessor süffisant.
Wie kann man unter solchen Bedingungen dennoch Wähler für sich interessieren? Oberreuther glaubt an eine neue Form von Partei, die auf Kommunikationsmanagement beruht, so wie die Piratenpartei. Er sieht Parteien künftig in der Funktion eines Dienstleisters. „Sie gewinnen an Attraktivität, indem sie die individuellen Leistungsbedürfnisse der Bürger befriedigen.“
Die Pluralisierung der Gesellschaft führt natürlich dazu, dass sich politische Angebote einander zunehmend widersprechen. Zugleich sind Wähler aufgrund der stark gesunkenen Bindekraft der Parteien außerordentlich abwatschbereit geworden. Wer seine Grundsätze auf dem Altar der Koalitionsbildung opfert, muss damit rechnen, von der Wählerschaft umgehend abgestraft zu werden, warnte Oberreuther.
Allerdings scheint der CSU der Spagat zwischen alter und neuer Wählerschaft zumindest zurzeit zu gelingen. Das hat sie ihrem Chef Horst Seehofer zu verdanken. Ihm attestierte Oberreuther ein enormes Talent, politische Stolpersteine zu beseitigen und Wählerbedürfnisse zu befriedigen. Angesichts des derzeitigen Stimmungshochs der Christsozialen erscheint ihm ein Regierungswechsel in Bayern zurzeit eher unwahrscheinlich – wenn nicht noch kurz vor der Wahl etwas Unvorhergesehenes passiert, was die Stimmung im Volk kippen könnte.
Langfristig aber rechnet er weiter mit einer schleichenden Marginalisierung von CSU - und auch der SPD.