Noten und Leistungsmessung an Schulen
Diskutierten über Leistungsmessung an Schulen (v.l.): Karsta Goetze, Gerd Nitschke, Achim von Michel, Simone Fleischmann.
Streitgespräch mit Vertretern der Wirtschaft Lernen und Leistung
Leistungsrückmeldung Noten

„Noten geben allenfalls eine grobe Orientierung"

Was ein Vertreter des Mittelstands und die Münchner Personalerin des US-Unternehmens "Gore" von Leistungsorientierung und Leistungsmessung an bayerischen Schulen halten.

Die Diskutanten:

  • Karsta Goetze, Leiterin der Abteilung Human Ressources bei der W. L. Gore & Associates GmbH, München
  • Gerd Nitschke,1. Vizepräsident des BLLV
  • Achim von Michel, Pressesprecher und Landesbeauftragter für Politik Bayern beim Bundesverband mittelständische Wirtschaft, BVMW
  • Simone Fleischmann, Präsidentin des BLLV

 

Fleischmann: Herr von Michel, wir sind uns zuletzt in einem Gespräch am Runden Tisch begegnet und da sagten Sie sinngemäß: „Wir brauchen Leute, die machen, was der Chef sagt ...“

von Michel: … das ist jetzt aber arg verkürzt ...

Fleischmann: … Ist das wirklich Ihre Haltung: Wir brauchen Ja-Sager, Pflichterfüller? Oder brauchen wir nicht eher demokratisch handelnde, selbstbewusst und kreativ auftretende Menschen?

von Michel: Die Notwendigkeit von demokratischem Handeln, Selbstbewusstsein und Kreativität habe ich nie in Frage gestellt. Aber natürlich müssen in der Wirtschaft auch Pflichten erfüllt werden und ein Wirtschaftsbetrieb ist erst mal keine demokratische Veranstaltung. Was wir auf jeden Fall nicht brauchen, ist die extreme Akademikerschwemme. Momentan sind 2,8 Millionen Menschen an den Universitäten und nur 1,8 Millionen in Ausbildungen. Die Hälfte von denen, die studieren, brechen ab – seltsam, oder? Studien besagen, dass wir bis 2030 etwa sieben Millionen Menschen vollkommen falsch ausbilden, nämlich am Bedarf der Wirtschaft vorbei.

Goetze: … und die meisten nehmen dann ja auch keine Ausbildung auf, sondern gehen in irgendwelche Jobs.

von Michel: Die mittelständische Wirtschaft steht für 80 Prozent der Ausbildungsplätze. In unseren aktuellen Befragungen sagen neun von zehn Unternehmen, dass sie die richtigen Arbeitnehmer nicht mehr finden.

Wir brauchen auch Menschen, die die Ideen der anderen zuverlässig verwirklichen und praktisch zupacken.

Achim von Michel, Bundesverband mittelständische Wirtschaft

Fleischmann: Was läuft da Ihrer Ansicht nach schief?

von Michel: Ein Beispiel: In der ZDF-Talksendung von Peter Hahne erklärte neulich ein Metzger, dass keiner mehr weiß, wie wenig dieser Beruf heute noch mit dem der 60er Jahre zu tun hat. Man steht da nicht mehr knietief im Blut. Das wird aber nicht ausreichend vermittelt. Er plädierte dafür, dass in den Schulen die Praktikumstätigkeiten intensiviert werden, damit die Menschen verstehen: eine Universität ist nicht in jedem Fall das glücklich Machende. So hatte ich das gemeint, als ich sagte, wir brauchen nicht nur hochkreative, innovative Akademiker, wir brauchen auch Menschen, die die Ideen der anderen zuverlässig verwirklichen und praktisch zupacken.

Nitschke: Frau Goetze, in Ihrem Unternehmen geht es umso mehr um Kreativität …

Goetze: Nicht nur. Aber wir setzen auf Commitment, nicht auf Ja-Sager. Wir brauchen Leute, die die Initiative ergreifen und anpacken. Das müssen nicht für jede Rolle Akademiker sein. Die Mitarbeiter sollen mitdenken, und nicht nach der Devise handeln wie bei VW: „Ich sag mal lieber nix, obwohl ich sehe, dass das Mist wird, weil das beim Chef nicht gut ankommt.“ Wir achten jedenfalls nicht so sehr auf Bildungsabschlüsse, sondern mehr auf die Persönlichkeit.

Fleischmann: Und wie machen Sie das?

Goetze: Wir interviewen sehr intensiv. Am Lebenslauf interessieren uns so Dinge wie: war jemand mal Klassensprecher, spielt er in einem Verein? Dinge, die den Menschen ausmachen. Es ist uns egal, ob in Französisch eine Fünf steht oder eine Drei. Wenn Französisch für die Stelle nicht wichtig ist. Bei manchen Lehrberufen in unserem Hause, naturwissenschaftlichen, können wir natürlich keine Kompromisse machen, da müssen die Kompetenzen stimmen …

Fleischmann: … und die sind an der Note abzulesen?

Goetze: (zögert) Naja, darauf müssen wir uns wohl verlassen.

Fleischmann: Tun Sie das?

Goetze: Ich habe schon Vertrauen in die Lehrer.

von Michel: Ich nicht. Im Zuge der Umstellung von G9 auf G8 sind ja auch die Leistungskurse mehr oder weniger abgeschafft worden. Die Idee, 80 bis 100 Leute mit unterschiedlichem Stand in einen gemeinsamen Kurs zu setzen und so stark zu nivellieren, dass die alle gemeinsam Abitur machen können, ist überhaupt keine gute Idee. Es wäre besser, Leistung zu fördern.

Nitschke: Worauf achten Ihre Unternehmen denn, wenn sie beurteilen sollen, ob jemand was kann oder nicht?

von Michel: Man testet. Man stellt Aufgaben und sagt: „Es kommt nicht drauf an, dass du das perfekt erledigen kannst, ich will nur deine Herangehensweise sehen.“ Das sind knallharte Tests. Zeugnisse erlauben allenfalls eine grobe Orientierung. Mich interessieren Motivation und Gründe. Wenn der Schnitt deutlich unter 2,0 liegt, dann frage ich, warum ist das so? Wenn die Antwort lautet, ich hatte keinen Bock, na dann: auf Wiedersehen. Wenn die Antwort lautet: Ich hatte Ballett oder 5.000 andere Interessen, dann ordne ich das ganz anders ein. Auch für ein 3,5-Abitur kann es einen triftigen Grund geben. Vielleicht ist die Mutter gestorben.

Nitschke: Frau Goetze, wie schauen solche Einstellungstest bei Ihnen aus?

Goetze: Wir lassen auch Präsentationen vorbereiten. Und man erkundigt sich nach den Interessen, danach, was jemand in seinem Wunschbereich schon gemacht hat.

 

Fleischmann: Wenn die Note nicht so ohne Weiteres die eigentliche Kompetenz misst. Was sollte Schule denn dann machen, um die Kinder auf Ihre Welt vorzubereiten?

Goetze: Wir können nicht nur BWLler ausbilden oder Kommunikationswissenschaftler. Wir brauchen die MINT-Fächer. Aber man kann da vieles früh abwählen. Es wird unseren Kindern so leicht wie möglich gemacht.

von Michel: Wenn die Frage ist, was wir mit den Menschen tun sollen, wenn nicht auf die Noten schauen: Mehr Wert auf Praxis legen! Wir sollten die Wirtschaft in die Schule hineinbringen. Die Schüler sollten früh einen Blick dafür kriegen, was es gibt, was sie werden können. Sie sollten sehen: Da gibt es die Metzgerei, oder ein anderes Handwerk, während in der Soziologie die Leute Schlange stehen.

Nitschke: Die P-Seminare an den Gymnasien gehen in diese Richtung.

Goetze: Die Schule könnte mehr vermitteln, wie ein Unternehmen funktioniert. In München gibt es vielleicht drei, vier Gymnasien, an denen das passiert. Und vielleicht hat man ja sogar ein vages Bild von diesem Metzgerbetrieb, den Herr von Michel erwähnt hat. Aber, was heißt das denn wirklich? Wie funktioniert ein Unternehmen? Was bedeutet „Personal“, was macht dieses „Personal“? Das ist schwer zu erklären.

Fleischmann: Auch am Gymnasium? Macht die Unterscheidung in drei Schultypen Sinn?

von Michel: Ja, das glaube ich schon. Und wir würden gerne die Realschule zur Mittelstandsschule ausbauen. Wir haben über 300.000 Gymnasiasten, 234.000 Realschüler und 200.000 Mittelschüler. Der Schwerpunkt liegt also auf dem Gymnasium. Der Arbeitsmarkt zeigt uns aber, da geht die Reise nicht hin. Dabei verdienen Sie heute als Facharbeiter gutes Geld und haben einen sicheren Job und können oftmals auch kreativ sein.

 

Fleischmann: Wie sollen wir Leistung eigentlich definieren? Und wie sollen wir sie messen? Es gibt da ja sehr unterschiedliche Maßstäbe. Die Note allein sagt offensichtlich wenig, und trotzdem kommt es oft genug vor, dass ein Schüler heult, weil es statt der Zwei nur eine Drei geworden ist.

von Michel: Eine Drei bedeutet „befriedigend. In der Wirtschaft gibt es viele Menschen, die ganz kontinuierlich wegarbeiten was anfällt und vielleicht nur zwei Tage im Jahr krank sind. Solche Menschen braucht jede Firma.

Goetze: Die sind das Rückgrat.

von Michel: Es ist wichtig, dass die nicht jeden Morgen reinkommen und sagen, ich würde gerne den ganzen Laden umkrempeln …

Fleischmann: … genau das war der Satz, der mich bei unserer Podiumsdiskussion sprachlos gemacht hat …

von Michel: Jeder hat seine Qualifikation und wichtige Position im Unternehmen, es kann und muss aber nicht jeder der Topmanager sein. Bei meiner Buchhalterin ist es wichtig, dass sie absolut ordentlich und verlässlich wiederkehrende Prozeduren erledigt, die man auch aufgrund gesetzlicher Anforderungen nicht einfach ändern kann. Trotzdem kann man den ganzen Tag befriedigend arbeiten.

Nitschke: Das Lernverständnis in unseren Schulen ist ein stark individualisierendes. Wir achten auf Stärken und Schwächen des Kindes. Das könnten wir uns dann ja mehr oder weniger schenken.

von Michel: Warum? Der Charakter der Tätigkeit sollte etwas mit dem Charakter des Menschen zu tun haben.

Goetze: Man hat nie nur Top- und Minderleister. Wir bei Gore verfahren nach dem Prinzip der ständigen Weiterentwicklung. Wir kalibrieren turnusmäßig. Entsprechend der eigenen Stärken und Schwächen und der Interessen der Firma. Alles kann sich ändern. Wir gehen davon aus, dass der Mensch sich immer weiterentwickeln möchte.

Nitschke: Man kann sich bei Ihnen auf jeder Position immer weiterentwickeln?

Goetze: Natürlich nicht auf jeder Position, aber in andere Positionen hinein. Nehmen wir die Rezeptionisten. Das ist ein relativ schlichtes Berufsbild, die sagen bei uns aber nicht nur „Grüß Gott“ und „auf Wiedersehen“. Jeder hat auch Sonderaufgaben, betreut zum Beispiel die Recruiting-Hotline für das Bewerbungsmanagement. Das ist nicht trivial. Das ist die Signatur des Unternehmens. Wir haben nicht die typischen Karriereleitern, sondern versuchen die Leute mehr lateral zu entwickeln, und so auch das Interesse immer wieder neu zu entfachen. Wenn es mal nicht so gut läuft, ist es auch nicht so schlimm. Dann ist der Sweet Spot vielleicht wo anders und wir haben eine Gelegenheit, das dort zu korrigieren.

Man kann nur Grundlagen vermitteln, was danach passiert, ist nicht vorhersehbar.

Karsta Goetze, Personalchefin W. L. Gore & Associates GmbH

 

Fleischmann: Ihnen, Frau Goetze, ist offensichtlich der Austausch, das Feedback sehr wichtig.

Goetze: Mein Sohn war letztes Jahr in der Dritten, da gab es seit zwei Jahren Feedbackgespräche. Das war gut. So ähnlich ticken wir als Firma, wir geben kontinuierlich Feedback. Solche – Evaluationsgespräche …

Fleischmann: … Lernentwicklungsgespräche, LEG …

Goetze: … sagen mehr als die pure Ziffer. Es ist gut, wenn da nicht nur eine Zwei steht, sondern eine Abstufung, die Kompetenzen ,und wie die Kinder sich selbst einschätzen.

Fleischmann: Diese LEG gibt es jetzt auch in der Mittelschule und Realschule. Die Crux in Bayern ist: Am Ende zählen doch nur drei Ziffernnoten für den Übergang nach der Vierten: In Mathe, Deutsch und HSU. Da fragt sich so manche Lehrkraft: Was soll ich Gespräche führen, in die Beziehung gehen, wenn eh nur drei Zahlen zählen. Wenn wir jetzt von Ihnen hören, die Zahlen sind gar nicht so wichtig, es geht nur um die Orientierung – was heißt das dann für Schule?

Goetze: Moment! Ich komme aus der Unternehmensberatung, da ist die Note das A und O! Mit einer schlechteren Note als einer 1,5 im Abi oder im Vordiplom kommt man überhaupt nicht rein. In den 90ern habe ich sogar gefälschte Zeugnisse aus Bewerbungsmappen gezogen. Auch in Anwaltskanzleien zählt die Note.

von Michel: Unternehmer im Handwerk sagen: „Ich nehme was ich kriegen kann.“ 95.000 Ausbildungsplätze sind derzeit unbesetzt in Bayern. Man schaut also, was man aus den Leuten machen kann. Oft sind die noch formbar.

Fleischmann: Ist es dann egal, was Schule macht?

von Michel: Ganz egal ist es auch nicht. Ihr könntet ja aber Leute aus der Schule entlassen, die sich gerne weiter formen lassen.

Fleischmann: Aha. Und wie geht das?

von Michel: Die dürften nicht völlig starr ab der 4. sagen, das und das ist mein Lebensweg, sie sollten neugierig in die Welt gehen.

Fleischmann: Offenheit anlegen für das Leben?

Goetze: Klar, so manchen Job wird es gar nicht mehr geben in einigen Jahren. Was wir heute zum Beispiel als Programmiersprachen lernen, gibt es in zehn Jahren schon gar nicht mehr.

Fleischmann: Wir tun genau das nicht, wir betreiben bulimisches Lernen. Leider! Auch wenn immer von Kompetenzen die Rede ist, geht es letztlich doch um Wissen. Und wir und Sie wissen nur zu gut, dass dieses Wissen unter Umständen für die Katz' ist.

von Michel: Ich hatte das Glück, noch den alten Magisterstudiengang absolvieren zu dürfen, der uns Studenten viel Freiraum gelassen hat, unsere beruflichen Interessen auszuloten und auch unsern Charakter auszubilden. Viele Praktika und Auslandsaufenthalte waren in meiner Studienzeit deshalb noch an der Tagesordnung.

Fleischmann: Also Persönlichkeitsbildung.

von Michel: Genau. Könnte man nicht mehr Freiraum hineintragenin die Schule, sich als Person zu entwickeln?

Nitschke: Wir müssen das schulartspezifisch sehen. An der Grundschule sind wir Klassenleiter, da geht das. Am Gymnasium gehe ich rein, muss meine 45 Minuten halten, gebe Hausaufgaben und gehe, egal welcher Konflikt da vielleicht gerade war.

 

Fleischmann: Zu einem weiteren zentralen Thema: Digitalisierung. Wenn die Welt digital ist, was heißt dann Leistung in der Schule?

Goetze: Man kann nur Grundlagen vermitteln, was danach passiert, ist nicht vorhersehbar. Dann ist das Wissen veraltet, man kann nur in die Grundlagen investieren.

von Michel: Da bin ich komplett anderer Meinung. Wir in unserem Verband beschäftigen uns sehr wohl mit Digitalisierung. Und wir sehen ein Problem mit dem jetzigen Stand der Digitalisierung. Es ist in der Regel schwieriger, einem 50-Jährigen zu vermitteln, wie Abläufe digitalisiert werden, als einem ganz jungen Menschen, der mit der ganzen Technik aufgewachsen ist.

Fleischmann: Ich höre immer: Ihr seid von gestern, wenn Ihr nicht auf die digitale Welt von morgen vorbereitet. Aber die kennen wir doch gar nicht.

von Michel: Ich muss nicht im Alter von zehn Jahren coden können. Man kann das auch an der Uni lernen. Worauf es mir ankommt, ist die Medienkompetenz.

Nitschke: Spielt das bei Bewerbern eine Rolle: Schauen Sie Facebook-Auftritte an?

von Michel: Immer.

Goetze: Ich nicht.

von Michel: Sie sehen sofort, wenn ein Mädchen Reiten als Hobby im Lebenslauf angegeben hat, sieht man auf Facebook vielleicht, dass das stimmt. Das ist der Reality-Check. Es gibt aber auch Selbstdarstellungen, da sage ich, so jemanden möchte ich nicht unbedingt im Unternehmen haben.

 

Redaktion: Chris Bleher

 

Aus: Bayerische Schule, Ausgabe 5/17, Themenschwerpunkt Leistung



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