Ich mach dann noch schnell die Korrekturen
Die E-Mail an die Elternschaft sollte ich heute noch formulieren, damit die Konrektorin morgen drüberschauen kann. Es ist vielleicht doch besser, eine Lerntheke zum Pythagoras zu konzipieren. Vielleicht finde ich noch ein Lernspiel – am besten online und individualisiert für den Zehnerübergang. Ich weiß nicht, wie soll es eigentlich mit Lukas weitergehen: Er kann sich gar nicht mehr konzentrieren, und in jeder Pause schlägt er um sich. Seine Eltern bekomme ich auch nicht ins Gespräch. Die Schulpsychologin sagt, die Warteliste ist drei Monate lang. So ungefähr summt es noch spät nachts im eigenen Kopf.
Schatz, hast du's endlich?
Warum hast du immer so viel Stress? Andere Leute werden mit ihrer Arbeit auch fertig. Du bist ja nie fertig. Das schadet uns, das schadet unserer Familie. So kann’s nicht weitergehen … Egal ob Lehrerin oder Lehrer, ob Schulleiterin oder Seminarleiter, ob Förderlehrerin, Fachlehrer oder Beratungslehrerin – alle von uns kennen solche häusliche Ansprache.
Achte auf deine Work-Life-Balance!
Einfach mal "Nein" sagen! Grenz dich ab! Du darfst die Sorgen der Kinder nicht mit nach Hause nehmen. Es kann doch nicht sein, dass dein Mann die Kinder deiner Klasse besser kennt als die Eltern ihre eigenen Kinder. Da kommt ja ein Manager auf mittlerer Führungsebene auf weniger Arbeitszeit als du. Der hat auch irgendwie weniger Verantwortung als du. Aber verdienen tut er trotzdem mehr. So klingen oft die gut gemeinten Ratschläge und Gedanken von Bekannten oder Freunden.
Und wann ist endlich Feierabend?
Und es ist ja was dran. Nur: Diese ständige Erreichbarkeit, die Kommunikation auf allen Kanälen, der eigene Anspruch, dass alles immer perfekt sein muss, sofort und professionell zu erledigen ist, all das erleben nicht nur wir Lehrerinnen und Lehrer so. Es ist ein Phänomen der Zeit. Einen schicken Namen hat man dafür gefunden: Agiles Arbeiten – New Work. "Modern" nennt man die Arbeits- welt von heute, wenn sie kollaborativ und freilich digital ist, wenn man überall und jederzeit arbeiten kann, unabhängig von Zeit und Raum.
Unabhängig von Zeit und Raum – entgrenzt
Wo aber sind denn unsere Grenzen? Wo ist die ganz persönliche Grenze der Belastbarkeit? Wo sind die Grenzen dessen, was Schulen noch stemmen können? Entgrenzung ist es doch auch, wenn wir an den Schulen immer alles machbar machen. Ob es die Durchführung der Coronatests ist, die Organisation der Buspläne, die Ansprachen unter den Parallelkollegen per WhatsApp spät abends, die Abwicklung aller Verträge der Menschen, die jetzt bei uns arbeiten, aber keine Lehrer sind, die individuelle Lernsituation, die eigentlich jedes Kind verdient hat, die Ganztagspädagogik, die Demokratiepädagogik, die Inklusion, die Integration.
Wir kennen die Falle – unser Berufsethos
Ja, für die Kinder machen wir das alles! Wir erarbeiten uns Professionalität. Wir geben unsere Zeit und Kraft. Oft genug verausgaben wir uns. Wohin führt das aber? Gerade jetzt, im Krisendschungel, merken wir, dass es irgendwie nicht mehr geht. Und da sind die dringenden Fragen der Menschen, die wir im BLLV vertreten: Wie geht denn das weiter, was sollen wir denn noch alles machen? Wie kann denn der Lehrermangel nicht irgendwann, sondern jetzt behoben werden? Ich kann doch nicht auf Dauer zwei Klassen parallel führen.
Muss es wirklich jetzt sein?
Und auch ich in meinen Alltag als Präsidentin des BLLV bin nicht frei von diesen entgrenzenden Mustern. Und die Fragen sind ja absolut berechtigt. Jeder hat eine sofortige Rückmeldung verdient. Alles sollte am besten sofort mitgeteilt werden. Wir fordern im BLLV sehr viel von uns. Unsere Mitglieder sind es uns wert. Doch manchmal sollten auch wir uns fragen: Muss es wirklich jetzt sein? Muss es gleich sein? Kann man es nicht einfach auch mal ein bisschen stehen lassen? Ja, auch ich habe es schon internalisiert: Jetzt sofort musst du reagieren. Ob spät nachts oder gleich in der Früh. Muss das sein?
Artikel aus der bayerischen schule #1/2023