Im Mai 2015 wurde ich zur Präsidentin des BLLV gewählt – als erste Frau an der Spitze des traditionsreichen BLLV in seiner damals 155-jährigen Geschichte. Ich war stolz, neugierig und auch aufgeregt. Ich hatte eine unbändige Lust darauf, die Bildungspolitik voranzutreiben. Ich wollte und ich will kämpfen für bessere individuelle Förderung der Schüler, für einen neuen Leistungsbegriff, für eine moderne Lehrerbildung und für Mut, Professionalität und Eigenverantwortung im Lehrerzimmer und in der Schulverwaltung. Und natürlich: Für die Gleichwertigkeit der Lehrämter.
Als Präsidentin fragte ich mich dann aber immer wieder: Warum fällt es den politisch Verantwortlichen so schwer, ganz offensichtliche Defizite unserer Schulen objektiv zu analysieren, die Erwartungen der Eltern ernst zu nehmen, die oft unzumutbaren Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte endlich zu benennen und Abhilfe zu schaffen? Es geht doch nicht um Luxusforderungen. Es geht auch nicht um Privilegiensicherung für „faule“ Pädagogen.
Die eigene Schulzeit prägt das Bild von Schule
Meine Vermutung: Politische Entscheidungsträger entscheiden viel zu oft auf der Grundlage ihrer individuellen Lebenslage, ihrer biografischen Schulerfahrungen und ihres oft auch ideologischen Weltbildes über Bildungsthemen und nicht auf der Grundlage der wahren Realität an unseren Schulen. Von 18 Mitgliedern im Bildungsausschuss haben 12 Abitur, 5 mittlere Reife und nur einer den qualifizierenden Hauptschulabschluss. Welches Bild haben dann wohl diese Entscheidungsträger im Kopf, wenn sie von Schule reden? Die Not der Mittelschulen? Die Sorgen in den Grundschulen? Die realen Probleme an den Förderzentren? Die eigene Schulzeit prägt das Bild von Schule ein Leben lang, auch das unserer Politiker. Übrigens auch das von Journalisten. Das ist kein Vorwurf. Das ist eine Feststellung.
Für uns im BLLV bedeutet das: Wir müssen die Realität der Schule wieder und wieder darstellen, erklären, öffentlich machen. Wenn ich in Fernsehstudios, im Hörfunk oder gegenüber Printmedien Interviews gebe, dann wird mir jedes Mal aufs Neue bewusst: Viele kennen die Schulrealität nicht wirklich. Deshalb müssen wir sie immer wieder neu erklären. Nicht larmoyant, nicht jammernd, nicht aggressiv, sondern überzeugend, authentisch – und vor allem nachhaltig.
Jetzt Schule neu aufstellen – die große Chance
Und das kann nur gelingen, wenn wir alle zusammenhelfen, alle und überall. In der Politik, im Gespräch mit unseren Lebenspartnern, unseren Familien und Bekannten, mit den Medien. Selbstbewusst und professionell fordern wir ein, was unsere Schulen und wir als Lehrerinnen und Lehrer, als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Schulverwaltung, als Fachlehrerin, als Förderlehrer, als Verwaltungsangestellte, als Seminarleiterin, als Schulpsychologe und Beratungslehrerin brauchen. An der Kompetenz der Praxis sollte niemand vorbeigehen. Wir haben sie. Wir sind die Experten.
Schulschließungen und die Erfahrungen mit Distanz- und Wechselunterricht sind ein absoluter Härtetest für Lehrer, Eltern und Gesellschaft. Aber er ist auch eine Chance für alle, endlich die Schule doch realistisch einzuschätzen und entsprechende zukunftsweisende Entscheidungen zu fällen. Unsere Rolle als BLLV ist es, gemeinsam mit allen Kolleginnen und Kollegen an allen Schulen eine Zäsur in der Bildungspolitik einzufordern.
Reden wir jetzt so viel wie möglich und wo immer möglich von der Realität an den Schulen. Ja, berichten wir von dem Wahnsinn in Pandemie- und Lehrermangelzeiten. Aber reden wir auch von der großen Chance, die wir haben, wenn wir jetzt Schule neu aufstellen. Wenn nicht jetzt, wann dann? // Simone Fleischmann