Warum Lehrkräfte Unterricht anders denken sollten //h2//
Der BLLV will das Verständnisintensive Lernen (ViL) In Bayern bekannt machen. Soll das eine Revolution werden? Schließlich stellt ViL vieles am herkömmlichen Unterricht in Frage.
Simone Fleischmann (SF): Wir wollen keine Revolution, sondern Menschen darin anstecken, ihre Haltung zum Lernen zu verändern. Der Charme an ViL liegt darin, dass nicht etwas von oben eingekippt wird. Lehrerinnen und Lehrer erfahren in ihrer ViL-Ausbildung durch eigenes Erleben und Selbstreflexion, dass sie so, wie sie als Schülerin oder Schüler früher selbst gelernt haben, die Lust am Lernen und Wissen verloren haben.
Was ist anders an ViL?
Kerstin Menzl (KM): Ich gehe anders an den Unterricht heran. Ich versuche Lernwege zusammen mit den Kindern zu entwickeln. Ich gebe nicht vor, wie es gemacht wird, sondern ich gebe den Kindern Methoden an die Hand, damit sie am Ende selbst eine Lösung erarbeiten können.
Das verlangt nach einer ganz anderen Fehler- und Feedbackkultur.
KM: Genau. Ich sage nicht ,Das hast du falsch gemacht‘ und rufe den nächsten Schüler auf, sondern ich frage das Kind, wie es auf diese Antwort kommt. Dadurch lerne ich als Lehrkraft, das Kind in seinem Denken zu verstehen.
SF: Erst wenn sie als Lehrkraft verstehen, wie der Schüler etwas versteht, und können sie ihm helfen. Das ist das Verstehen zweiter Ordnung: Ich muss verstehen, wie der andere versteht, denn sein Gehirn funktioniert anders als meins.
Das heißt, ich muss meinen Unterricht vom Schüler her denken.
KM: Richtig. Das bedeutet auch, dass ich mir meine Handlungsroutinen und Gewohnheiten bewusst machen und auch aufbrechen muss, um den anderen zu verstehen.
SF: Handlungsroutinen geben zwar Sicherheit, funktionieren aber heutzutage nicht mehr. Ich muss bereit sein mich davon zu verabschieden, wie ich es bisher gemacht habe.
Das kann einen ganz schön verunsichern.
KM: Ja, natürlich. Das aushalten zu können, muss ich als Lehrkraft erst lernen. Das haben wir in der Ausbildungsgruppe des BLLV zum Verständnisintensiven Lehrer und Lehrerin in den vergangenen zwei Jahren getan.
Wie ein Kind denkt und versteht, hat sehr viel mit seinen Gefühlen zu tun. Muss ich den Schüler anders wahrnehmen um zu verstehen, wie er etwas begreift?
KM: Ich sehe das Kind mit seinen Emotionen – zu sich selbst und zum Fach. Deshalb ist das morgendliche Ankommen so wichtig. Wenn ein Kind daheim schon Stress hatte, kann ich nicht sofort mit dem Unterricht beginnen. Wir nehmen uns für das Ankommen zehn Minuten Zeit, erst dann beginnen wir mit dem Stoff.
Die Lehrer-Schüler-Beziehung kann sich durch ViL positiv verändern. Wie wirkt sich das auf den Lernerfolg aus?
KM: Indem ich nachfrage, wie die Schülerin oder der Schüler auf die Antwort kommt, merkt sie oder er, dass sich jemand wirklich mit ihm oder ihr beschäftigt. So erhält das Kind auch einen anderen Bezug zu seiner Leistung. Und wenn es am Ende wirklich verstanden hat, habe ich nachhaltiges Lernen erreicht.
Hinter ViL steckt also mehr als nur eine Unterrichtsmethode. Warum?
SF: Es geht bei ViL auch um die Haltung des Lehrers und seine Beziehung zum Kind. Der Lehrer ist hier nicht der Allwissende und der Schüler der Dumme. ViL bedeutet vielmehr einen achtsamen Umgang mit dem Kind, es ernst nehmen, so wie es denkt. Das wirkt sich auf das gesamte Klima in der Klasse aus. Die Schüler gehen miteinander wertschätzender um, weil jeder auf seine Art einzigartig ist.
Inwieweit kann ViL ein Weg sein, den Lehrplan PLUS umzusetzen?
SF: Der grundlegende Lernbegriff des neuen Lehrplan PLUS ist wie bei ViL der des Ko-Konstruktivismus. Ko-Konstruieren bedeutet, ich konstruiere den vom Kind konstruierten Lernprozess nach. Der Hase liegt aber in der Umsetzung begraben. Der Lehrer im bayerischen Schulsystem ist relativ stark an Noten und die Vergleichbarkeit von Schülerleistungen gebunden. Deshalb ist es schwer, Ko-Konstruktivismus im Schulalltag umzusetzen.
Und dennoch setzen Sie ViL-Methoden im Schulalltag ein. Wie machen Sie das?
KM: Ich kann Teile des Unterrichts nach ViL aufbauen. Beim schriftlichen Substrahieren zum Beispiel kann ich mehrere Lernwege anbieten. Oder ich arbeite parallel in einer kleinen Gruppe von schwächeren Schülern mit ViL.
SF: Besonders schön lässt sich ViL anhand von Matheaufgaben erklären. Üblicherweise entwickelst du eine Gleichung an der Tafel und fragst dazu die Schüler. Du kannst aber auch die Schüler selbst in der Gruppe Lösungswege entwickeln lassen. ViL bedeutet eine intensive Beteiligung der Kinder.
Ist ViL ein Weg, in Kindern die Lust am Lernen zu wecken?
KM: Ja. Kleine Kinder fragen immer nach dem Warum. Aber in der Schule haben wir ihnen das abtrainiert. Viele Kinder trauen sich das nicht mehr. Für meine Schüler war das am Anfang überraschend, wenn ich von ihnen wissen wollte, wie sie darauf gekommen sind und ich sie so viel gefragt habe.
Hat sich die Ausbildung für sie gelohnt?
KM: Absolut. Die Ausbildung des BLLV zur Lehrkraft für Verständnisintensives Lernen war ein gewinnbringender Prozess - für mich persönlich, für meinen Unterricht, für den Umgang mit meinen Schülern. Deshalb möchte ich mich jetzt zur Trainerin fortbilden.
Fragen: Robert Haberer
* Über Kerstin Menzel und Simone Fleischmann:
Kerstin Menzl ist Vorstandsmitglied des 2013 in Jena gegründeten Vereins für Verständnisintensives Lernen ViL e.V. Sie hat die zweijährige Ausbildung zur Lehrkraft für ViL durchlaufen und kümmert sich für den BLLV ehrenamtlich um die Koordination von ViL in Bayern. BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann hat die Entwicklung von ViL von Anfang an begleitet. Ins Leben gerufen wurde ViL 2004 vom Thüringischen Kultusministerium, damals noch unter dem Namen E.U.L.E.