Joanna Taigacheva erstellte im Rahmen des BLLV-Projekts Erinnern das Porträt des jüdischen Religionslehrers Leo Kahn
Joanna Taigacheva erstellte im Rahmen des BLLV-Projekts Erinnern das Porträt des jüdischen Religionslehrers Leo Kahn
Wie heute die Beschäftigung mit dem Holocaust gelingen kann Startseite

Holocaust-Gedenktag: Arthur Godlewsky, Lehrer, 50 Jahre alt, ermordet

„Die Arbeit an der Biographie des jüdischen Lehrers Arthur Godlewsky reizt mich sehr. Ich hoffe, ich kann mehr über seine Hintergründe und seinen Lebensweg herausfinden“, sagt der 17-jährige Schüler Ole Gerkens, der im Rahmen eines Wissenschafts-Seminars über diesen in Auschwitz ermordeten Lehrer recherchiert. Das Interesse am Holocaust unter Jugendlichen sei auch heute noch hoch, stellt der BLLV fest. „Wir müssen uns aber neue Wege der Erinnerungsarbeit überlegen, nachdem wir keine Zeitzeugen mehr in die Schulen einladen können“, sagt die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Simone Fleischmann.

Ole Gerkens (17) vom Ignaz-Taschner-Gymnasium in Dachau erarbeitet auf der Grundlage einiger bereits bekannter Personendaten eine ausführliche Biografie des Lehrers Arthur Godlewsky. Dieser war 1913/14 jüdischer Religionslehrer in Lichtenfels (Oberfranken). 1913 wurde er als Soldat eingezogen und zu Beginn des 1. Weltkriegs in Frankreich eingesetzt. Nach dem Krieg war er an der Niederschlagung der Räterepublik in München beteiligt. Danach war er Lehrer an verschiedenen Orten. Die Regierung von Oberfranken entließ ihn 1934 als Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem staatlichen Schuldienst. Im Oktober 1940 wurde er zusammen mit seiner Frau Elise deportiert und am 28. August 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Arthur Godlewsky wurde 50 Jahre alt. Ole Gerkens versucht  nun anhand dieser Daten weitere Informationen über diesen Lehrer herauszufinden und wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Im nächsten Winter muss er seine Biografie abgeben.

Besonders erschüttert hat Ole Gerkens der Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau im vergangenen Oktober. Die Studienfahrt  wurde vom Dachauer Forum organisiert. Fünfzehn Schülerinnen und Schüler konnten daran teilnehmen. In der Woche ihres Aufenthaltes recherchierten die Schüler auch im Archiv der Gedenkstätte. „Obwohl ich schon mehrmals in der Gedenkstätte in Dachau gewesen bin, haben mich die Dimensionen der ehemaligen Vernichtungsstätte in Oświęcim geschockt“, berichtet Ole Gerkens. „Die Weitläufigkeit des Geländes und das Wissen, dass dort mehr als eine Millionen Menschen brutal ermordet wurden, hat mich auf eine bedrückende Art beeindruckt.“

Mehr als 40 Biografien rekonstruiert

Die Recherche von Ole Gerkens (17) ist Teil des BLLV-Projekts Erinnern. Seit 2010 erarbeiten dabei Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Wissenschafts-Seminars Geschichte an bayerischen Gymnasien Biografien jüdischer Lehrer, die während der Nazizeit verfolgt wurden. Auf diese Weise sind bereits über 40 Lehrerbiografien entstanden. Ziel des Projektes ist es, die Erinnerung an den Holocaust auch in den nachwachsenden Generationen wach zu halten. Der BLLV finanziert die pädagogisch-fachliche Betreuung der Schülerinnen und Schüler.

In diesem Jahr beteiligte sich auch die russische Freiwillige Ioanna Taigacheva an der Biografiearbeit. Taigacheva ist aus Sankt Petersburg und arbeitet für zwei Jahre ehrenamtlich als Freiwillige der kirchennahen Aktion Sühnezeichen in Dachau. Sie schreibt die Biografie des jüdischen Religionslehrers Leo Kahn, der von 1924 bis 1931 in Haßfurt (Unterfranken), von 1932 bis 1940 in Gaukönigshofen (Unterfranken) und schließlich in den Jahren 1940 und 1941 in Ichenhausen (Schwaben) die Kinder der dortigen jüdischen Gemeinden unterrichtete. Ende Juli 1941 wurde die Ichenhausener Schule geschlossen und die jüdische Gemeinde aufgelöst. Die 23-jährige Studentin fand in ihren Archivarbeiten heraus, dass Leo Kahn daraufhin in Gaukönigshofen ein Jahr als Straßenkehrer arbeiten musste bis er zusammen mit seiner Frau und seiner 8-jährigen Tochter im März 1942 nach Izbica deportiert und dort ermordet wurde. Taigacheva wird diese Biografie am 22. März in Dachau persönlich vorstellen.

Großer Wert auch für die Nachkommen

„Am Beispiel Leo Kahns wurde mir erst richtig bewusst, was der Holocaust eigentlich bedeutet“, stellt die junge Freiwillige fest. „Natürlich wusste ich von der Ermordung von sechs Millionen Juden. Aber erst mit der Beschäftigung mit Leo Kahn wurde mir klar, welche furchtbaren Ängste, Verzweiflung und Demütigungen jeder dieser sechs Millionen Menschen durchgemacht haben musste. Als ich herausfand, dass die gesamte Familie der Kahns mit einer Ausnahme ermordet wurde, war das für mich unfassbar und unglaublich traurig. Diese intensive Beschäftigung mit Leo Kahn wird mich wohl ein Leben lang begleiten.“ Ioanna Taigacheva  wird noch bis Ende August in Dachau als Freiwillige arbeiten. Danach will sie in Sankt Petersburg Kulturanthropologie studieren.

„Biografien zu erstellen ist eine anspruchsvolle Aufgabe“, berichtet Sabine Gerhardus, die pädagogisch-fachliche Betreuerin der Schülerinnen und Schüler. „Es gilt die Kurrentschrift zu erlernen, denn viele Dokumente sind in dieser alten Schreibschrift verfasst. Es gilt, den historischen Kontext und die Lebensumstände der jeweiligen Biografie zu verstehen, um die Lebensgeschichten einordnen zu können. Vor allem aber ist eine aufwändige, intensive Archivarbeit nötig, um Quellen auszugraben und auszuwerten“, sagt Gerhardus. In mehreren Fällen sei es sogar gelungen, Nachkommen der porträtierten Lehrer ausfindig zu machen und mit ihnen in Kontakt zu treten. „Es freut mich sehr, wenn Schüler versuchen nachzuvollziehen, welche Folgen die Haft, die Verfolgung oder die Flucht ins Ausland für „ihren“ Lehrer hatte. Besonders berührt sind die Schüler, wenn sie merken, was ihre Erinnerungsarbeit für die Nachkommen bedeutet.“

Nachvollziehen, was die Nazizeit für den einzelnen Menschen bedeutet hat

„Mit unserem Projekt wollen wir erreichen, dass die Jugendlichen nicht nur abstrakt über die Nazidiktatur, über Antisemitismus und über Verfolgung und Ermordung der Juden erfahren, sondern anhand einer konkreten Biografie nachvollziehen können, was Verfolgung, Emigration, Deportation und Ermordung für den einzelnen und deren Familie bedeutet haben“, stellt Simone Fleischmann fest. Neben ganz konkretem Wissen über die NS-Zeit und den Holocaust gelänge es auf diese Weise, auch für heutige Prozesse der Diskriminierung und gesellschaftlichen Ausgrenzung zu sensibilisieren.

Über Jahrzehnte berichteten in den Schulen Zeitzeugen über ihre Verfolgung während der Nazizeit. Das ist heute nur noch in Einzelfällen möglich. Um den Lehrerinnen und Lehrern alternative und neue Ansätze der Beschäftigung mit diesem Themenbereich anzubieten, hat der BLLV ein weiteres Projekt initiiert: die Interplattform Forum Erinnern (https://forum-erinnern.de/ ). Auf dieser Plattform stellen über 70 Bildungspartner ihre Bildungsangebote zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust wie Ausstellungen, Projekte, Führungen, Workshops vor. Außerdem findet sich dort ein Veranstaltungskalender, der über zahlreiche Veranstaltungen zu diesem Themenbereich in ganz Bayern informiert. Schirmherr ist der Bayerische Kultusminister Michael Piazolo. Die Plattform entstand in Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum München, dem Bayerischen Bündnis für Toleranz, dem Dachauer Forum und dem  Max Mannheimer Studienzentrum.

Eine der letzten Zeitzeuginnen im Interview

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