Herr Prof. Mix, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit historischen Buchbeständen und bildungsgeschichtlichem Schrifttum. Warum ist die Süddeutsche Lehrerbücherei, kurz SLB, so interessant?
Prof. Dr. York-Gothart Mix: Jede historisch gewachsene Bibliothek hat durch die Spezifika der Akquise und die jeweilige Schwerpunktsetzung ein eigenes Profil. Die SLB war ursprünglich eine berufsständisch geprägte Sammlung, die aber sukzessive ab 1920 einen universellen Anspruch hatte, da jede Wissensrichtung vertreten war – von der Astronomie bis zur Zoologie. Außerdem waren natürlich alle Unterrichtsfächer der einzelnen Schultypen mit entsprechenden Quellen und Monografien repräsentiert und zwar nicht nur nach den staatlichen Richtlinien, sondern auch nach alternativen Ansätzen.
Können Sie das erläutern?
Nehmen Sie beispielsweise die Kunsterziehungsbewegung um 1910. Die SLB verfügt über ein unglaublich reichhaltiges Schrifttum zu diesem bildungsreformerischen Ansatz, da existieren Dutzende von wunderschönen Büchern über die Kunst und die ungebrochene Phantasie von Kindern und Jugendlichen.
Kann man daraus Rückschlüsse auf die historische Bedeutung der SLB ziehen?
Gute Frage, die ich uneingeschränkt mit ja beantworte. Die SLB war an die Fernleihe angebunden und gab den Lehrkräften umfassende Möglichkeiten zur Recherche, Fort- und Weiterbildung auf beachtlichem Niveau. So konnte man in Orten ohne Staats-, Adels- und Klosterbibliotheken auf einen respektablen Fundus zurückgreifen - statistisch lässt sich das auch nachweisen. Die SLB hatte viele Leserinnen und Leser.
Was unterschied die SLB von den genannten Bibliothekstypen?
Erst einmal der pädagogische Schwerpunkt, der sich aber, anders als bei den großen Bibliotheken, epochentypisch ungemein ausdifferenziert. Sie finden in der SLB Bücher, die es in keiner anderen Münchner, ja, keiner bayerischen Bibliothek gibt. Das ist angesichts des imponierenden Bestands der Bayerischen Staatsbibliothek erstaunlich.
Was sind das für Bücher?
Das sind nicht nur Druckschriften, sondern auch sorgsam gehütete Archivalien. Da gibt es beispielsweise ein umfangreiches, internes Dokument aus dem US-Headquarter, das im Zeichen der Entnazifizierung nach 1945 alle bayerischen Schulen und deren Personal auflistet und entsprechend kategorisiert. Oder kontroverstheologische Rara aus dem frühen 18. Jahrhundert, seltene Kinderbücher, darunter Exemplare mit ausgesprochen witzigen Kinderkritzeleien zu den Texten, handkolorierte Reise- und Erziehungsschriften, repräsentative Schulpreiseinbände, komplette, heute kaum bekannte Zeitschriftenreihen wie das 1848-1871 erschienene Satireblatt ‚Münchener Punsch‘ oder interessante Widmungsexemplare.
Das deutet auf Autoren, die signierte Exemplare gestiftet haben.
Ja, als Autorin oder Autor wollte man in der SLB vertreten sein. Aber es gab auch regelrechte Stiftungen, so kamen teure historistische Prachtbände oder fremdsprachige Werke jenseits des Curriculums in die Sammlung, beispielsweise J. L. Comstocks 'A System Of Natural Philosophy', 1866 am Broadway in New York publiziert, oder Geschenke der United States Armed Forces nach 1945.
Aber haben diese Texte im digitalen Zeitalter noch Bedeutung?
Natürlich muss man nicht jedes Buch und jede gebundene Zeitschrift bewahren, illustrierte Familienblätter wie 'Die Gartenlaube' oder ‚Über Land und Meer‘ gibt es aufgrund ihrer enorm hohen Auflage fast überall, sie sind zudem digitalisiert. Aber bildungsgeschichtlich relevante, seltene oder schwer zugängliche Texte schon. Zudem sind die Digitalisierungen nicht immer so, wie sie sein sollten. Da können sie auf unvollständig kopierte, fehlende oder abgeknickte Seiten stoßen, einen fragwürdigen Raubdruck oder eine irrelevante, nicht zitierfähige Ausgabe. Außerdem bleibt die Materialität des Buches, also das Papier, das Wasserzeichen, der Einband, die Umschlaggestaltung oder die Technik der Illustration ein relevanter historischer Forschungsgegenstand. Denken sie nur einmal daran, was man alles in den Lagen alter Pergamenteinbände gefunden hat. Die SLB ist ein hochinteressanter Forschungsgegenstand, eigentlich ein Thema für weiterführende Untersuchungen und ein Denkmal bayerischer Bildungsgeschichte.
Interview: Dr. Dieter Reithmeier