Der Marburger Germanist und Buchwissenschaftler Prof. Dr. York-Gothart Mix (l.) und der frühere Geschäftsführer des BLLV und Beauftragter BLLV-Geschichte und Erinnerungskultur Dr. Dieter Reithmeier (Fotograf: Jan Roeder)
Der Marburger Germanist und Buchwissenschaftler Prof. Dr. York-Gothart Mix (l.) und der frühere Geschäftsführer des BLLV und Beauftragter BLLV-Geschichte und Erinnerungskultur Dr. Dieter Reithmeier (Fotograf: Jan Roeder)
Die Süddeutsche Lehrerbücherei Startseite
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Die Heimkehr der Bücher

Die Süddeutsche Lehrerbücherei des BLLV ist aufgelöst worden, 150.000 Bücher, Broschüren und Zeitschriften aus drei Jahrhunderten mussten raus aus den Untergeschossen des Münchener Kulturzentrums am Gasteig. Gemeinsam mit einem Marburger Experten für historische Bibliotheken rettete der frühere Landesgeschäftsführer des BLLV hunderte bibliophiler und pädagogischer Werke vor dem Schredder. Nun füllen die gedruckten Zeugnisse von Lehrerbewegung und Lehrerbildung wieder die Vitrinen der Landesgeschäftsstelle des BLLV. Die Villa am Bavariaring wurde 1930 eigens für die Bücher erworben.

Der Weg der Bücher zurück in ihre Heimstatt am Bavariaring ist lang und verschlungen. Er beginnt mit der Einführung der Schulpflicht im Jahr 1803 und der Einrichtung erster Lehrerbildungsseminare ab 1809. Zu dieser Zeit lebten die meisten Volksschullehrer in prekären Verhältnissen und genossen selbst kaum mehr Bildung als ihre Zöglinge aus einfachen Verhältnissen. Nach Ansicht der damaligen staatlichen und kirchlichen Würdenträger brauchten Volksschullehrer keine grundlegende Bildung, Grundkenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen garniert mit etwas Allgemeinwissen würden hinreichen.

Wichtiger ist den Herrschenden damals die Kenntnis von Katechismus und Heiliger Schrift, sie war der Schwerpunkt der Lehrerbildung. Bis weit ins 19. Jahrhundert schließen Volksschullehrer ihre dürftige Ausbildung in den unter kirchlicher Kontrolle stehenden konfessionellen Lehrerbildungseinrichtungen ab - im Alter von etwa siebzehn Jahren. Doch in den Zeiten des politischen Umbruchs wächst der Wunsch der Lehrer nach einer vertieften Ausbildung und nach kontinuierlicher Fortbildung.

Lehrer sammeln Bücher

Mit der Gründung erster lokaler Lehrervereine zu Beginn des 19. Jahrhunderts beginnt sich ein höheres Verständnis ihrer Profession herauszubilden. Lehrer werden sich bewusst, dass sie die nachwachsenden Generationen formen. Die Lehrervereine beginnen Bücher und Schriften zu sammeln, den Kollegen zur Verfügung zu stellen und sie auf den gemeinsamen Sitzungen zu besprechen. In den Städten entstehen große Lehrerbibliotheken. Die älteste ist wohl die Lehrervereinsbibliothek in Nürnberg, deren Ursprung in das Jahr 1822 zurückreicht. In Augsburg entsteht im Zusammenhang mit dem vom Bayerischen Lehrerverein (BLV) gegründeten Schulmuseum im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Lehrerbibliothek.

Als größte Lehrerbibliothek entwickelt sich die des Münchner Lehrervereins. Ihren Ursprung hat sie in der Vorstellung einer Musterbücherei anlässlich der 13. Hauptversammlung des Lehrervereins 1896 in München. Im Jahr 1911 versammelt sie bereits 16.000 Bände aus allen nur denkbaren Fach- und Wissensbereichen. Neben der Deutschen Lehrerbücherei in Berlin und der Leipziger Comeniusbücherei wird sie in wenigen Jahren zur bedeutendsten Lehrerbücherei im deutschsprachigen Raum. Wer aber soll die Betreuung der stetig wachsenden Bibliothek sicherstellen und finanzieren? Die Bücher müssen erfasst und katalogisiert werden, der Ausleihbetrieb vor Ort und die Fernleihe sind zu organisieren, Neuerscheinungen müssen erfasst und die vielen Anfragen beantwortet werden. 1920 erbarmt sich der Landesverein der Süddeutschen Lehrerbücherei (SLB).

Doch wo soll die immer stärker wachsende Bibliothek unterkommen? Die Räume in einem Münchner Schulhaus sind längst zu klein geworden. Es kommt zu einer weitreichenden Entscheidung des BLV: Auf der 25. Vertreterversammlung des BLV in Ludwigshafen (Pfalz, damals Teil von Bayern) beschließen die Delegierten, ein eigenes Haus für die Süddeutsche Lehrerbücherei und für die berufswissenschaftliche Arbeit des BLV zu erwerben. Im Dezember des Jahres 1929 fällt die Wahl auf eine Villa am Bavariaring 37 - heute die Landesgeschäftsstelle des BLLV und Tagungszentrum der bayerischen Lehrerschaft. Am 21. Dezember 1930 wird das Haus feierlich eröffnet, unter den zahlreichen Ehrengästen erscheint auch Oberbürgermeister Dr. Karl Scharnagl.

Durch zahlreiche Schenkungen von Lehrern und Neukäufe wächst die Bibliothek rasch auf 160.000 Bände an. Jährlich werden über 50.000 Bücher entliehen. Weit über 10.000 Lehrer und längst auch Lehrerinnen nutzen die Bibliothek. Als aber die Lehrerbildung 1974 an die Universitäten verlagert wird, brechen die Nutzerzahlen dramatisch ein. Nun stehen den Lehramtsstudenten die gut organisierten Universitätsbibliotheken zur Verfügung. Dort finden sie auch systematische Literatur zu den Unterrichtsfächern, die in der SLB kaum vorhanden ist.

Übergabe an die Stadt München

Die einstmals große Sammlung gerät in Vergessenheit, selten noch verirrt sich ein Lehrer in die SLB. Die Erhaltungskosten stehen in keinem Verhältnis mehr zu den Nutzungszahlen. Nach der Zwischenlagerung im Münchner Pädagogischen Institut übergibt der BLLV sie auf Initiative des damaligen Vizepräsidenten Dr. Ludwig Eckinger 1995 der Stadt München. Die Stadt erklärt sich bereit, die Werke als geschlossene Einheit in den Bestand der Stadtbibliothek München aufzunehmen und im Kulturzentrum Gasteig der Öffentlichkeit weiterhin zugänglich zu machen. Doch de facto wird sie nicht mehr genutzt, sie ist aus dem Bewusstsein der Lehrerschaft verschwunden.

Als die Stadt München 2017 die Generalsanierung des Kulturzentrums beschließt, bedeutet das den Umzug der Stadtbibliothek. Deren Bücher werden aus den Magazinen in den Untergeschossen des Gasteigs entfernt, nur die SLB bleibt. Einsam und unbeachtet verstaubt sie ab 2021 im 4. Untergeschoss des riesigen Gebäudekomplexes. 2023 sollte auch sie entfernt werden. Das wäre sicherlich passiert, hätte ich nicht bei der Recherche für mein Buch über die Geschichte der bayerischen Lehrerbewegung festgestellt, dass die Bibliothek kurz vor der Vernichtung steht. Mehr als 5.000 Bände hatte die Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin bereits aussortiert und – unbemerkt sogar von den interessierten Kreisen - nach Berlin geschafft.

Durch eine günstige Fügung konnte ich den Marburger Germanisten und Buchwissenschaftler Prof. Dr.  York-Gothart Mix als renommierten Fachmann für historische Bibliotheksbestände gewinnen, den gesamten Bestand gemeinsam mit mir zu sichten.  So kehren etwa 4.000 Bücher, darunter hunderte wertvolle Bände, soweit sie für die Lehrerbewegung relevant sind, in das Haus am Bavariaring zurück und sind für historisch Interessierte einzusehen. Andere werden interessierten Fachbibliotheken übergeben und bleiben so der Nachwelt erhalten.

Die Präsidentin des BLLV ist froh über diese Lösung. „Es hätte geschmerzt“, kommentiert Simone Fleischmann, „wenn ein so zentraler Teil der Geschichte der bayerischen Lehrerbewegung und des BLLV für immer verloren gegangen wäre. Umso schöner, dass dank der Arbeit von Dr. Reithmeier und Prof. Mix jetzt ein wichtiger Teil der Werke in ihre Heimat am Bavariaring in München zurückkehrt“.

Der Text ist ursprünglich im Print erschienen in der "bayerischen schule" # 5 2024

Interessierte Mitglieder bekommen auf Wunsch die Gelegenheit, die Bücherei jetzt noch kurz vor der Schließung zu besichtigen und ggf. einzelne Bände aus den Restbeständen dort kostenlos für private Zwecke zu erhalten. Bitte wenden Sie sich zur Vereinbarung eines Termins vor Ort unter der folgenden Mailadresse mit Angabe Ihrer Telefonnummer an den Beauftragten für BLLV-Geschichte und Erinnerungskultur, Dr. Dieter Reithmeier: geschichte(at)bllv.de. Er wird sich wegen einer Terminvereinbarung mit Ihnen in Verbindung setzen. BITTE BEACHTEN: Bitte sehen Sie von Rückfragen zum Bestand o.ä. ab. Die Bücher können nur nach Terminvereinbarung vor Ort gesichtet und mitgenommen werden.

Im Interview: Bibliotheken-Experte Prof. Mix über Sinn und Wert der Süddeutschen Lehrerbücherei

" Unglaublich reichhaltiges Schrifttum“

Herr Prof. Mix, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit historischen Buchbeständen und bildungsgeschichtlichem Schrifttum. Warum ist die Süddeutsche Lehrerbücherei, kurz SLB, so interessant?

Prof. Dr. York-Gothart Mix: Jede historisch gewachsene Bibliothek hat durch die Spezifika der Akquise und die jeweilige Schwerpunktsetzung ein eigenes Profil. Die SLB war ursprünglich eine berufsständisch geprägte Sammlung, die aber sukzessive ab 1920 einen universellen Anspruch hatte, da jede Wissensrichtung vertreten war – von der Astronomie bis zur Zoologie. Außerdem waren natürlich alle Unterrichtsfächer der einzelnen Schultypen mit entsprechenden Quellen und Monografien repräsentiert und zwar nicht nur nach den staatlichen Richtlinien, sondern auch nach alternativen Ansätzen.

Können Sie das erläutern? 

Nehmen Sie beispielsweise die Kunsterziehungsbewegung  um 1910. Die SLB verfügt über ein unglaublich reichhaltiges Schrifttum zu diesem bildungsreformerischen Ansatz, da existieren Dutzende von wunderschönen Büchern über die Kunst und die ungebrochene Phantasie von Kindern und Jugendlichen.

Kann man daraus Rückschlüsse auf die historische Bedeutung der SLB ziehen?

Gute Frage, die ich uneingeschränkt mit ja beantworte. Die SLB war an die Fernleihe angebunden und gab den Lehrkräften umfassende Möglichkeiten zur Recherche, Fort- und Weiterbildung auf beachtlichem Niveau. So konnte man in Orten ohne Staats-, Adels- und Klosterbibliotheken auf einen respektablen Fundus zurückgreifen - statistisch lässt sich das auch nachweisen. Die SLB hatte viele Leserinnen und Leser.

Was unterschied die SLB von den genannten Bibliothekstypen?

Erst einmal der pädagogische Schwerpunkt, der sich aber, anders als bei den großen Bibliotheken, epochentypisch ungemein ausdifferenziert. Sie finden in der SLB Bücher, die es in keiner anderen Münchner, ja, keiner bayerischen Bibliothek gibt. Das ist angesichts des imponierenden Bestands der Bayerischen Staatsbibliothek erstaunlich.

Was sind das für Bücher?

Das sind nicht nur Druckschriften, sondern auch sorgsam gehütete Archivalien. Da gibt es beispielsweise ein umfangreiches, internes Dokument aus dem US-Headquarter, das im Zeichen der Entnazifizierung nach 1945 alle bayerischen Schulen und deren Personal auflistet und entsprechend kategorisiert. Oder kontroverstheologische Rara aus dem frühen 18. Jahrhundert, seltene Kinderbücher, darunter Exemplare mit ausgesprochen witzigen Kinderkritzeleien zu den Texten, handkolorierte Reise- und Erziehungsschriften, repräsentative Schulpreiseinbände, komplette, heute kaum bekannte Zeitschriftenreihen wie das 1848-1871 erschienene Satireblatt ‚Münchener Punsch‘ oder interessante Widmungsexemplare.

Das deutet auf Autoren, die signierte Exemplare gestiftet haben.

Ja, als Autorin oder Autor wollte man in der SLB vertreten sein. Aber es gab auch regelrechte Stiftungen, so kamen teure historistische Prachtbände oder fremdsprachige Werke jenseits des Curriculums in die Sammlung, beispielsweise J. L. Comstocks 'A System Of Natural Philosophy', 1866 am Broadway in New York publiziert, oder Geschenke der United States Armed Forces nach 1945.

Aber haben diese Texte im digitalen Zeitalter noch Bedeutung?

Natürlich muss man nicht jedes Buch und jede gebundene Zeitschrift bewahren, illustrierte Familienblätter wie 'Die Gartenlaube' oder ‚Über Land und Meer‘ gibt es aufgrund ihrer enorm hohen Auflage fast überall, sie sind zudem digitalisiert. Aber bildungsgeschichtlich relevante, seltene oder schwer zugängliche Texte schon. Zudem sind die Digitalisierungen nicht immer so, wie sie sein sollten. Da können sie auf unvollständig kopierte, fehlende oder abgeknickte Seiten stoßen, einen fragwürdigen Raubdruck oder eine irrelevante, nicht zitierfähige Ausgabe. Außerdem bleibt die Materialität des Buches, also das Papier, das Wasserzeichen, der Einband, die Umschlaggestaltung oder die Technik der Illustration ein relevanter historischer Forschungsgegenstand. Denken sie nur einmal daran, was man alles in den Lagen alter Pergamenteinbände gefunden hat. Die SLB ist ein hochinteressanter Forschungsgegenstand, eigentlich ein Thema für weiterführende Untersuchungen und ein Denkmal bayerischer Bildungsgeschichte.

Interview: Dr. Dieter Reithmeier




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