Herr Sutterlüty, die Jugendlichen, die Sie für Ihre Forschungsarbeit über "Gewaltkarrieren" interviewt haben, haben als Kinder selbst unter Gewalt in der Familie gelitten. Müssten sie Gewalt nicht eigentlich verabscheuen?
Doch, die Täter wissen auch, dass Gewalt kein erfolgreiches Problemlösungsverhalten ist. Sie haben als Kinder erlebt, dass Gewalt alle positiven Interaktionen in ihrer Familie zerstört hat. Und sie spüren es später, wenn sie selbst gewalttätig werden, erneut: Andere meiden sie, sie haben Probleme mit ihren Lehrern und so weiter.
Und warum schlagen diese Jugendlichen dann trotzdem zu?
Genau diese Frage war der Ausgangspunkt für meine Arbeit. Diese Jugendlichen fühlen sich ganz schnell herausgefordert, beleidigt oder gekränkt. Sie haben das Gefühl, sofort reagieren zu müssen. Dass sie zuschlagen, ist eben gerade kein Kalkül. Sie wägen die Kosten und Nutzen ihres Tuns gerade nicht ab, sondern reagieren zwanghaft nach Mechanismen, die sie ganz früh gelernt haben. Sie stehen unter einem ganz starken Leidensdruck. Und hier kann man ansetzen, indem man den Tätern ermöglicht, ihre eigene Vergangenheit zu verstehen.
Manche Jugendliche aber schaffen es von allein, aus dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen.
Man muss die Familien der Täter genauer ansehen. Ich habe unter anderem zwei junge Frauen interviewt, die in katastrophalen Verhältnissen aufgewachsen sind. Die eine war türkischstämmig, die Eltern der anderen kamen aus einem arabischen Land. Beide wurden von ihren Vätern geschlagen, weil sie Kontakt zu gleichaltrigen Jungs hatten. Sie mussten vor ihrem Vater niederknien, er schlug sie ins Gesicht.
Es war also nach Ihren Erkenntnissen wahrscheinlich, dass beide Frauen einmal selbst gewalttätig würden.
In der Familie des einen Mädchens stellten sich Mutter und Geschwister hinter den Vater. Bei der anderen hatte der Vater die ganze Familie gegen sich. Das Mädchen bekam also Unterstützung innerhalb der Familie, ihre Ohnmachts- und Miss- achtungserfahrungen durch die Gewalt des Vaters waren deshalb nicht so massiv. Und dieses Mädchen trat später eben keine Gewaltkarriere an. Für die Entwicklung eines Jugendlichen aus gewalttätigen Familien ist entscheidend, ob andere Menschen da sind, die als Anwälte wirken und das Unrecht als solches benennen. Kinder, die geschlagen werden, glauben, sie hätten es nicht anders verdient. Sie entwickeln ein negatives Selbstbild. Das können Menschen, die eine Anwalts- oder Schutzfunktion übernehmen, verhindern. Das ist ein großer Hebel, auch für Lehrerinnen und Lehrer.
Gibt es weitere Schutzfaktoren?
Besondere Fähigkeiten. Vielleicht ist das Kind gut in einem Fach in der Schule, musikalisch oder sportlich. Ein solches Können, und sei es nur in einem Bereich, und eben gelingende Beziehungen zu anderen - das hilft, ein positives Selbstbild zu entwickeln. Lehrerinnen und Lehrer können viel bewirken, indem sie dem Kind seine eigenen Fähigkeiten bewusst machen, und es darin fördern.
Ein Schläger, mit dem Sie sprachen, knallte seine Springer- stiefel auf den Tisch, nahm Ihnen das Mikro weg und sagte, Sie hätten von Gewalt keine Ahnung. Wie haben Sie es geschafft, die Abwehrhaltung Ihrer Gesprächspartner zu überwinden?
Wichtig ist, ihnen Anonymität zuzusichern. Und der Jugendliche muss spüren, dass ich ihn ernst nehme, gerade weil ich beispielsweise seine Aussagen hinterfrage, wenn mir Zweifel kommen. Jugendliche wollen wissen, wer sie sind. Ich habe ihnen versprochen: Wenn du ein Interview mit mir machst, weißt du danach mehr über dich selbst.